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Ausgabe:

1954 Nr. 10

Spalte:

617-619

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Le lAssisias, Der Spiegel der Vollkommenheit oder der Bericht über das Leben des Heiligen Franz von Assisi 1954

Rezensent:

Andresen, Carl

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 10

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eigenen Aussage aus der Reihe seiner Werke entfernen, weil das
Buch „et obscurus et anfractuosus et omnino molestus mihi vide-
batur". Er hat es aber dann bei der Durchsicht seiner Werke doch
belassen, weil einiges darin zu finden sei, was in seinem zweiten
Werk über dasselbe Thema, nämlich in der Schrift „Contra men-
dacium" (um 420 verfaßt) nicht enthalten sei. Diese zweite
Schrift über die Frage der Lüge hatte einen konkreten Anlaß
in der Frage, ob man sich auf katholischer Seite in der Bekämpfung
der Priszillianisten der Lüge bedienen dürfte, eine Frage,
die Augustin verneint. Er rollt hier das Problem noch einmal in
seiner ganzen Breite auf und führt es „im Sinne der Verwerflichkeit
jeder Lüge einer endgültigen Lösung" entgegen (S. XXV).

Es ist keine Frage, daß das von Augustin in den beiden
Schriften behandelte Problem von erheblicher Bedeutung für die
Ethik ist. Wichtig sind die beiden Schriften des Kirchenvaters
aber vor allem auch dadurch, daß er sidi darin in erheblichem
Umfang um die Auslegung bestimmter Schriftstellen bemühen
muß, die in dieser Frage immer wieder Schwierigkeiten bereiten
(alttestamentliche Geschichten!). Auch die Exegese von Gal. 2
(de mend. c. 8 und 43; contra mend. 26) ist wichtig und interessant
, vor allem wenn man die heftige Auseinandersetzung zwischen
Augustin und Hieronymus (auf die S. XVIII ff. mit Recht
eingehend verwiesen wird) hinzunimmt. Es ist also zu begrüßen,
daß die beiden Schriften durch eine deutsche Übersetzung der
breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wenn auch
der Theologe dadurch sich nicht von der Lektüre des Urtextes,
der in der Ausgabe von Zycha (CSEL 41, 1900) vorliegt, abhalten
lassen sollte.

Die Übersetzung von Paul Keseling hält sich an diesen Text
von Zycha, weicht aber an einigen Stellen davon ab, was jeweils
dann vom Übersetzer im Apparat vermerkt wird unter Angabe
der Zeugen, denen er folgt. Die getroffenen Entscheidungen überzeugen
nicht immer (z. B. S. 13). Der lateinische Text ist in ein
gutes und flüssiges Deutsch übertragen, vor allem ist die Übersetzung
richtig.

In einer Einleitung gibt K. eine kurze Übersicht über das
Problem der Lüge in der Antike, in der biblisch-christlichen Gedankenwelt
(sie!) bis Augustin, bei Augustin im allgemeinen
und in den beiden Schriften im besonderen. Er schließt dann einen
kurzen Überblick über die weitere Geschichte des Problems an.
in der Patristik nach Augustin, im abendländischen Mittelalter,
in der katholischen und in der protestantischen Theologie sowie
in der Philosophie der Neuzeit. Naturgemäß mußte diese Einleitung
kurz gefaßt sein. Trotzdem wäre zu wünschen gewesen,
daß der Herausgeber sich die unsachliche Verkürzung in der Darstellung
Luthers im Fall der Doppelehe des Landgrafen Philipp
von Hessen erspart hätte. Es ist doch wohl nicht zu bezweifeln,
daß Luthers Haltung alles andere als erfreulich war. Aber das
rechte Verständnis für seinen Rat einer „guten, starken Lüge"
wird man doch wohl in seiner Hochachtung vor der Beichte und
dem Beichtsiegel finden, also doch in gewisser Weise in mittelalterlich
-katholischen Überlieferungen.

Der Übersetzung sind noch einige recht nützliche Erläuterungen
, ein Verzeichnis sprachlicher Parallelen und rhetorischstilistischer
Formen sowie ein Index der Schriftstellen beigegeben.
Auch diese Anhänge zeigen, daß es sich bei diesem Buch um eine
Bereicherung der Augustin-Literatur handelt, die man gern benutzen
wird.

Oöttingcn W. Schneemelcher

Kl HC HENG E SCHICHTE: MITTELALTER

[Franz von Assisi:] — Der Spiegel der Vollkommenheit oder
der Bericht über das Leben des Heiligen Franz von Assisi. (Nach der
lat. Urschrift. Deutsch v. W. Rüttenauer). Nachwort von Romano
Guardini. (2. Aufl.). München: Kösel-Verlag |1953]. 259 S. 8°
Lw. DM 9.50.

In fast unveränderter Form erscheint wieder die Übersetzung
des Speculum perfectionis (Spec. maius) durch Rüttenauer,
deren 1. Auflage 1935 der Verlag Jacob Hegner, Leipzig herausbrachte
. Ihre sprachliche Schönheit rechtfertigt das Unternehmen I

und wird ihr einen großen Leserkreis sichern. Wie schon der Verzicht
auf die Kapiteleinteilung des Originals andeutet, will die
Übersetzung nicht in die wissenschaftliche Debatte eingreifen. Sie
wendet sich an den frommen Leser, der sich in das Leben eines
Heiligen versenken will. Hierzu leistet das gehaltvolle Nachwort
von Romano Guardini einen fördernden Beitrag, indem es d^
franziskanische Christusnachahmung als Opfergang versteht, welche
die Einsamkeit der „messianischen Existenz" des Christus an
sich selbst erfährt. Es ist nur zu bedauern, daß bei der Neuauflage
einige sachliche Mängel der 1. Auflage nicht berichtigt wurden.

So ist die Unklarheit, welcher Textausgabe der Übersetzer folgt,
ob der 1. Ausgabe Sabatiers vom Jahre 1898 (Sab) oder der posthum
erschienenen von 1928 (Sab.-Linie), geblieben (S. 10). S. 83 gibt er
nach Sab. wieder: „Als er einmal auf dem Marktplatz von Rieti . . .",
Sab-Little aber lautet: Cum praedicasset populo lnteramnae . . .; die
frühere Lesung ist in den App. verwiesen. S. 13 gibt R. mit dem Anfangssatz
den Text von Sab.-Linie wieder, läßt also den ganz anderen
Wortlaut von Sab. fallen. Solches Pendeln zwisdien den beiden Ausgaben
beeinträchtigt den wissenschaftlidien Wert der Übersetzung. —
Nidit immer ist das Prinzip der Vollständigkeit (S. 11) innegehalten
worden. Der Text: ... Semper, hora comestionis, ibat pro eleemosya,
priusquam iret ad domus... wird S. 48 oben wiedergegeben: „..
pflegte er stets zur Essenszeit um Almosen zu gehen, ..." und der Text:
Et quia timebat atque valde giave sibi erat habere tantam sollicitudinem
de seipso, ideo volebat quod generalis minister illud faceret fieri
tot um. wird S. 22 5 übersetzt: „Audi fürchtete er sich sehr und sah es
gar nicht gerne, daß man sich um seinetwillen so sehr mühe", indem jeweils
das von uns Gesperrte fortgelassen wird. Wenn auch in beiden Fällen
der lateinische Text in der sachlichen Darstellung sich wiederholt, so
sollte doch das Prinzip der Wörtlichkeit beibehalten werden. — An einer
weiteren Stelle sind Bedenken anzumelden. Der Text: Beatissimus pater,
transformatus quodam modo in sanetos fratres per ardorem amoris et
fervorem zeli quem habebat ad perfectiones eorum, saepe cogitabat in-
tra se . . . wird S. 159 übersetzt: „Nachdem der selige Vater Franziskus
durch das Feuer der Liebe und die Glut des Eifers, womit er um die Vollkommenheit
seiner Brüder bemüht war, den heiligen Brüdern seines Ordens
ähnlich geworden war, überlegte er oft bei sich selbst. . ." Die Wiedergabe
von transformari als „ähnlich werden" trägt einen Gedanken
hinein, welcher der Specula-Literatur ganz fremd ist. Nicht Franz wird
den Brüdern ähnlich, sondern die Brüder sollen ihm ähnlich werden. In
dem Begriff „transformatus" steckt der im Spee. maius mehrmals von
Franz geäußerte Gedanke, daß er forma et exemplum der Brüder ist
(II, 16; III, 27; IV, 65), daher auch die den Gedanken metaphorisch begründete
Wendung: quodam modo! —

In der Neuauflage ist jetzt aus der Überschrift die Verfasserangabe:
„Bruder Leo von Assisi" verschwunden. Das entspricht dem Urteil der
neueren Franziskusforschung, vgl. Esser, Das Testament des Heiligen
Franziskus von Assisi (Münster 1949) S. 10, Anm. 7, der die einseitige
Bevorzugung des Spec. maius durch S a b a t i e r zweifelhaft geworden
ist. Leider ist aber die „Bemerkung des Übersetzers zum Text" (S. 9 f.)
dementsprechend nicht geändert worden. In ihr wird an der Sabatierschen
Auffassung festgehalten, daß Frater Leo „einen bedeutenden Anteil an
dieser Arbeit hat" und daß seiner Darstellung der Vorrang gebühre, weil
später „das Franziskusbild des Speculum perfectionis durch die offiziellen
Viten des Thomas von Celano und des heiligen Bonaventura verdrängt"
worden sei (S. 10). So muß der Eindruck entstehen, als werde der Leser
mit dem echten Franziskus bekannt gemacht, was im Hinblick auf die
Ungeklärtheit der wissenschaftlichen Diskussion zu bedauern ist.

Ungewollt weist daher die vorliegende Übersetzung die Franziskusforschung
auf neue Aufgaben hin. Einmal erscheint es erforderlich
, das Speculum perfectionis gattungsgeschichtlich in einen
größeren Rahmen zu stellen, nämlich der Specula-Literatur der
14. Jahrh., die uns in mehreren Zeugen (Spec. minus ed. Lemmens;
Legenda „Fac secundum exemplar"; Tegenda Perusina ed. De-
lorme; Text der „Collection des Pays-Bas" Sab.; Text der
„Gruppe Süd" Sab.) zugänglich ist. Zum andern wird erneut das
Speculum perfectionis auf seine Quellen hin zu untersuchen sein.
Für die Beziehung zu den berühmten cedulae Leonis wird dabei
der Satz zu gelten haben, daß als genuin nur anzusprechen ist, was
durch die Spiritualisten (Angelus Clarenus, Ubertin von Casale und
Petrus Olivi) bekannt ist. Hätten sie nämlich noch mehr aus der
Leotradition gewußt, wäre das sicherlich von ihnen in der Auseinandersetzung
mit den Observanten nicht verschwiegen worden.

So dürfte z. B. eine Stelle wie Spec. maius 1, 4, ff. Sab. Little S. 13 ff.
unmittelbar auf die rotuli des Frater Leo zurückgehen, da sie durdi die
Auslegung der Regel aus der Feder des Petrus Olivi unter ausdrücklicher
Quellenangabe belegt wird: Unde et in cedulis fratris Leonis, quas de
his quae de patre nostro tanquam eius singularis socius viderat et audierat
conscripsit iegitur . . . Derartige Stellen, die sich so nachweisen lassen