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Ausgabe:

1954

Spalte:

453-458

Autor/Hrsg.:

Iwand, Hans Joachim

Titel/Untertitel:

Wider den Mißbrauch des pro me als methodisches Prinzip in der Theologie 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 7/8

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2. Die theologischen Voraussetzungen der Dogmatik

Der Satz Luthers in den Schmalkaldischen Artikeln: „Gottes
Wort soll Artikel des Glaubens stellen und sonst niemand, auch
kein Engel" dürfte auch heute noch die Grundvoraussetzung aller
evangelischen Dogmatik sein. Kirchliche Tradition und Bekenntnisse
, und zwar nicht bloß die Bekenntnisse der jeweils eigenen
Kirche, sondern die aller christlichen Kirchen wie überhaupt
alle christlichen Zeugnisse, sind für die Dogmatik kritisch zu
behandelnder Hinweis und Auslegung der Bibel als alleiniger
dogmatischer Autorität und Quelle. Luther hat die altkirchlichen
Symbole trotz mancher formaler Kritik übernommen, weil er sie
für biblisch begründet hielt, nicht weil sie kirchliche Autorität
besaßen. Hier ist die heutige Dogmatik von allem katholisie-
renden kirchlichen Positivismus, der sich in der heutigen konfessionskirchlichen
, liturgischen und politischen Restauration
ebenso ausprägt wie in der dogmatischen, zu befreien. Es gibt
hier auch keine relativen kirchlichen Autoritäten. Dieser scholastische
Positivismus wird nicht dadurch überwunden, daß man ihn
dem Zeitgeist entsprechend durch kierkegaardischen Existentialismus
aufzulockern sucht. Die biblische Exegese, und zwar in
ihren heutigen wissenschaftlichen Erträgen, aber zugleich unter
den theologischen Voraussetzungen, die wir soeben erörterten,
muß der einzige Ausgangspunkt und die Grundnorm aller Dogmatik
sein. Daß jeder Dogmatiker in seinem Glauben und Denken
von einer konfessionellen Tradition bestimmt ist, und nicht
über seinen Schatten springen kann, ist kein Grund, irgendein
Bekenntnis in irgendeinem Sinne als dogmatische Autorität in
Ansatz zu bringen. Das Quia der Schriftbegründung eines Bekenntnisses
steht in der dogmatischen Arbeit ja gerade in Frage,
darum kann darüber nicht vorweg entschieden werden. Wenn nun
die alleinige Schriftbindung der Dogmatik jede notwendig konkurrierende
Bekenntnisbindung ausschließt, so fängt damit die
Schwierigkeit heutiger dogmatischer Arbeit erst an. Wir können
nicht mehr, als ob nichts geschehen wäre, von der Heiligen Schrift
reden, wie es Melanchthon, Calvin, Flacius und Chemnitz, aber
weitgehend doch auch Luther getan haben. Wir können die kanonische
Bibel nicht als unmittelbares Werk des Heiligen Geistes
oder, mit Kähler und Schlatter zu reden, als übergeschichtliches
Werk des lebendigen Christus bezeichnen und aus dem allgemeinen
religions- und geistesgeschichtlichen Prozeß ihrer Zeit ausklammern
, die historische Relativität der biblischen Vorstellung
und Begriffe aufheben. Damit ist eine biblizistische Dogmatik
jeder Art unmöglich geworden, ganz abgesehen davon, daß sie
die Bibel zum Glaubens- und Denkgesetz machen würde. Wir
können nicht biblische Begriffe und Aussagen unbesehen in unsere
Dogmatik übernehmen, weil uns ja die damaligen Denkvoraussetzungen
fehlen, aus denen sie erwachsen sind. Wir können
z. B. dogmatisch nicht vom fleischgewordenen Wort reden, weil

uns jene spätjüdisch-hellenistische Hypostasierung von Begriffen
fremd ist. Übernehmen wir sie doch, so reden wir einmal für unsere
Zeit unverständlich, und ferner legen wir ihnen heimlich
einen neuen Sinn unter, dessen dogmatische Legitimität erst zu
klären ist. Wir können der Schwierigkeit auch nicht dadurch ausweichen
, daß wir mit einem eklektischen Biblizismus arbeiten,
etwa als gute Evangelische mit einem ausgewählten Paulus und
Johannes. Es kann für uns auch nicht den Ausweg geben, daß wir
nach Ritschis Muster die Bibel nur als historische Urkunde gebrauchen
und hinter die biblische Botschaft auf eine so oder 30
gedeutete Geschichte rekurrieren. Denn nur die verkündigte
Geschichte begründet unsern Glauben. Allein als Botschaft Gottes
, als Kerygma ist die Bibel dogmatische Autorität. Es geht wiederum
nicht, daß wir einen inhaltlichen Extrakt aus den
biblischen Aussagen als das Evangelium in den Griff nehmen und
daraus eine ganze Dogmatik herausspekulieren oder das Evangelium
als Wort - geschehen, höchst aktuell, dialektisch und
existentiell verstanden, unter Absehung von den konkreten biblischen
Zeugnissen zum Ausgang dogmatischer Deduktionen nehmen
. Die in dieser Ausweglosigkeit zum Ausdruck kommende
Aporie heutiger Dogmatik zeigt nur ihr völliges Angewiesensein
auf eine auf den vorher genannten Voraussetzungen ruhende
Exegese. Der dogmatische Erkenntnisakt ist kein anderer als der
exegetische, nämlich das Hören des einen Evangeliums aus den
verschiedenen, einander expressis verbis oft sogar widersprechenden
biblischen Texten, in denen Gott mit uns redet. Nur die Intention
des Dogmatikers ist von der des Exegeten verschieden.
Während der Exeget die besondere Inhaltlichkeit und kerygma-
tische Relation des bestimmten Textes bzw. der bestimmten Schrift
im Auge hat, in der diese das eine Evangelium verkündet, ist
der Dogmatiker auf die Einheit und Ganzheit des Evangeliums
und seine Entfaltung für das heutige Glauben und Verkünden
gerichtet. Gewiß, das eine ewig gültige Evangelium kann nicht
auf eine dogmatische Formel gebracht werden oder besser, es
kann nur in unendlich vielen Formeln ausgedrückt werden, ohne
mit einer je identisch zu werden. Wie wir Gottes Evangelium
in der Bibel nur in „irdenen" d. h. historisch-relativen „Gefäßen
" empfangen, so ist nun auch das Gefäß dogmatischer Aneignung
ein zeitlich relatives. Absolut ist allein die göttliche Zusage
, die weder in ihrer biblisch-historischen noch in ihrer dogmatischen
oder homiletischen Gestalt direkt gegeben ist. Und
doch hören Glaube und Dogmatik sie nur in historisch-relativer
Form. Darum muß Dogmatik, um Dogmatik zu sein, den exegetischen
Denkakt mitvollziehen, sowie die Exegese um biblische
Exegese zu sein, den dogmatischen. Trotzdem bleiben
um der Autorität der biblischen Botschaft für Glauben und Dogmatik
willen Dogmatik und Exegese ihrer Aufgabe nach unterschieden
.

Wider den Mißbrauch des pro me als methodisches Prinzip in der Theologie

Von H. J. I w a n d, Bonn

Es ist nicht meine Absicht, hier ein Referat zu halten, sondern
■eh möchte mich damit begnügen, eine für die Prinzipienfrage
theologischer Erkenntnis nicht unwesentliche These aufzustellen,
indem ich das Verständnis und die Rolle, die das p r o m e innerhalb
der protestantischen Theologie vor und nach Kant
gespielt hat, aufzuzeigen versuche und miteinander vergleiche.
Es geht mir darum, zu zeigen, daß sich in der theologischen Bedeutung
und im wissenschaftlichen Gebrauch des pro me ein
grundlegender Wechsel vollzogen hat, und zwar in dem Sinne,
daß das reformatorische pro me zunächst eine inhaltliche Bedeutung
hat und untrennbar mit hineingehört in das Evangelium von
Jesus Christus, „welcher um unserer Sünden willen dahingegeben
Und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt ist" (Rom. 4, 25),
während es später formale Bedeutung erlangt und den methodischen
Unterschied zweier Erkenntnisarten kennzeichnet,
von denen die eine „mich" als Person nichts angeht und darum
objektive, auch metaphysische Erkenntnis genannt wird, während
die andere die Existenz des Menschen betrifft und mich im subjektiven
Sinne als Subjekt meiner selbst vor die Gottesfrage stellt, ;
°- h. ob ich das Dasein eines höchsten Wesens als religiöse Einheit !

zwischen den Naturgesetzen und dem Sittengesetz annehmen will
oder nicht. In diesem formalen oder auch existentiellen Sinne ist
das pro me zum methodischen Prinzip erhoben worden, welches
im Vorraum der Offenbarung allgemein über zwei Methoden
des Erkennens, das gegenständliche und das nichtgegenständliche,
das objektive und das „subjektive", das uninteressierte und das
interessierte Erkennen entscheidet. Das pro me kommt jetzt nur
noch in den Bereich der praktischen Vernunft zu stehen
oder, sollen wir lieber sagen, es ist in den Bereich der Vernunft
, wenn auch nur in ihren praktischen, einbezogen und
dieser sein methodischer Gebrauch unterscheidet fortan das Erkennen
Gottes vom Welterkennen, es verlegt die Erkenntnisform
aller theologischen Aussagen, ehe noch die Inhaltlichkeit der Offenbarung
zu Worte gekommen ist, in den Bereich des Subjektiven
bezw. Praktischen. Vielleicht darf man sagen, daß zum
mindesten von A. Ritsehl über W. Herrmann bis hin zu R. Bultmann
und F. Gogarten dieser methodische Gebrauch des pro me
als typisch protestantisch geübt und vertreten wird und daß sie
von hier aus jene Gleichsetzung dogmatischer = metaphysischer
Aussagen vollziehen, die sich wie eine nicht zu überschreitende