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Ausgabe:

1952 Nr. 9

Spalte:

543-550

Autor/Hrsg.:

Kinder, Ernst

Titel/Untertitel:

Beichte und Absolution nach den lutherischen Bekenntnisschriften 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 9

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gehoben hatte, sind die neuen Ideen hervorgewachsen, die
späterhin die Rechtslage der Judenheit bestimmen sollten.

Als Retter des Rechts und der Religion hat kein geringerer
als der Augustinergeneral Aegidius von Viterbo den Altmeister
des deutschen Humanismus gepriesen1. Wie Gott einst die
Thora erhielt, als er Abraham vor dem Feuerbrand Sodoms

!) Br. s. 261.

bewahrte, so hat Reuchlin sie jetzt ein zweites Mal gerettet,
als er die Bücher, auf denen Recht und Aufklärung beruhen,
dem Scheiterhaufen entriß. Wer Reuchlin verteidigt, schützt
mit ihm das Recht; bewahrt nicht den Talmud, sondern die
Kirche; rettet nicht nur den Humanisten, sondern wird durch
die Rechtlichkeit des redlichen Mannes gerettet. Die Geschichte
wird diesem zeitgenössischen Urteil nicht viel hinzuzufügen
haben.

Beichte und Absolution nach den lutherischen Bekenntnisschriften

Von Ernst Kinder, Neuendettelsau

Hermann Strathmann zum 70. Geburtstay

Weil es sich in dem mit „poenitentia" umschriebenen Komplex, zu dem
Beichte und Absolution gehören, um die Frage der kirchlichen Konkretion der
Vergebung der Sünden bei getauften Christen handelt, hier also das Herzstück
des Evangeliums berührt wird, darum werden diese Dinge von den luth. Bekenntnisschriften
ungemein ernst genommen1 (wie sich ja an ihnen die Reformation
überhaupt entzündet hatte). Die luth. Bekenntnisschriften reden häufig
und ausführlich zu diesen Fragen2. Wenn dabei auch unverkennbar die Kritik
am römischen Bußwesen den weitesten Raum einnimmt und bei ihr das Hauptpathos
liegt, so ist doch nicht zu übersehen, wie Gewichtiges stehengelassen und
neu zu begründen versucht wird.

1. Grundsätzliches

Zweierlei haben die luth. Bekenntnisschriften mit der röm.
Kirche gemeinsam: die anti-novatianische Entscheidung als
prinzipielle Ermöglichung der „Buße" getaufter Christen (C. A.
XII, 1—2. 7—9; cf. auch F. C.: Ep. XII, 25), und die Uberzeugung
von der Notwendigkeit kirchlicher Konkretion solcher
Buße. Die luth. Bek.-Schr. sind nicht der Meinung, daß an die
Stelle der als häretisch abgewiesenen novatianischen Forderungen
(die sie nicht bloß historisch, sondern in der Gestalt des
Perfektionismus auch gegenwartsnah ansehen)3 das kirchliche
Vakuum eines „Als-ob" oder der „billigen Gnade" treten soll,
sondern daß hier der besondere Akt konkreter Betätigung der
postestas clavium zu stehen habe. Zur Begründung dafür werden
nicht prinzipielle Notwendigkeiten konstruiert, sondern
wird von der Tatsächlichkeit der Einsetzung durch Christus
her argumentiert4. Weil Christus diesen besonderen Dienst für
die Kirche bevollmächtigt hat, darum ist sehie Betätigung notwendig
! Es wird auch nicht versucht, das Spezifische gerade
dieser Konkretion der Vergebung der Sünden gegen andere
abzugrenzen, sondern die verschiedenen von Gott geordneten
Weisen dafür werden in ihrer Fülle nebeneinander stehengelassen5
. Das seelsorgerliche Motiv und das Gehorsamsmotiv,
Hand in Hand miteinander, geben die Begründung für die
Praktizierung von Beichte und Absolution als Betätigung des
Schlüsselamtes ab.

In bezug auf das „Wie" solcher Praktizierung knüpfen die luth. Bek.-
Schr. thematisch und materialmäßig an die vorgefundenen Elemente des römischen
Bußinstitutes an, und zwar in These und Antithese, wobei letztere im

') „Agitur de maxima re, de praecipuo evangelii loco: de remissione pec-
catorum" (AC XII, 10), „daß viel daran gelegen ist, daß man de poenitentia
eine rechte gewisse Lehre in der Kirche habe und behalte" (ACXII.98).
„Darum haben wir allezeit großen Fleiß gehabt, von diesen Stücken klar, gewiß
und richtig zu lehren" (ibid, 99).

2) Hauptstellen: CA und AC XI. XII. z.T. XXVIII; CA XXV; AC
XIII, 3—5; AS: CHI. VII. VIII. IX; z. T. Tract.; Cat. Min. IV, 15—29;
Cat. Maj. IV, 64—82 und dort noch: „Eine kurze Vermahnung zu der Beicht".

*) Die Stelle AS: C III, 42—45, zeigt eindrucksvoll, wie ernst Luther mit
dem Problem des Anti-Perfektionismus ringt und nicht zu rasch und glatt
damit fertig wird. Hier ist auch deutlich, daß das „simul iustus ac peccator"
nicht als ein dialektisches „Gleichzeitig" gemeint ist!

4) „Weil die Absolution oder Kraft des Schlüssels auch eine Hilfe und
Trost wider die Sünde und böse Gewissen, im Evangelio durch Christus gestiftet
, so soll man die Beichte oder Absolution beileib nicht lassen abkommen
in der Kirchen . . . denn dieweil die absolutio privata von dem Amt herkommt
der Schlüssel, soll man sie nicht verachten, sondern hoch und wert halten wie
alle anderen Ämter der christlichen Kirchen" (AS: C VIII, 1 f.).

5) Das Evangelium „gibt nicht einerleiweise Rat und Hilfe wider die Sünde
; denn Gott ist reich in seiner Gnade: erstlich durchs mündliche Wort, darin
gepredigt wird Vergebung der Sünde in alle Welt, welches ist das eigentliche
Amt des Evangelii, zum anderen durch die Taufe, zum dritten durchs heilige
Sakrament des Altars, zum vierten durch die Kraft der Schlüssel, und auch per
mutuum colloquium et consolationem fratum" (AS: C IV).

Vordergrund steht1. Weil es sich bei der „Buße" um Konkretmachung der Vergebung
der Sünden, also der Rechtfertigung handelt, darum ist gerade hier die
Rechtfertigung als Kriterium auf den Plan gerufen. Diese Kritik der luth. Bek.-
Schr. von der Rechtfertigung her hat die röm. Bußlehre und das röm. Bußsakrament
in ihrem Kern zerbrochen und in vielem Einzelnen relativiert. Aber dieses
Ernstmachen mit der unbedingten Geltung des „Solus Christus", des „sola
gratia" und des „sola fide" ist nicht — philosophisch — im Sinne der Radikalisierung
eines Prinzips gemeint, welches jegliche kirchliche Konkretion ausschließt
, sondern theologisch, jenseits solcher Alternative, so, daß es rechte
kirchliche Konkretion einschließt. Es ist der philosophische Protestantismus
der bloßen Radikalität eines Prinzips mit seinem „horror concreti" gewesen,
in dessen Verlauf dann eigentlich nur die Polemik der luth. Bek.-Schr. in bezug
auf das Bußwesen2 bis zu dessen fast völligem Zerfall Geschichte gemacht hat,
während sich die luth. Bek.-Schr. selbst hier durchaus noch um die Beibehaltung
und Begründung dieser „Bindungen zweiten Grades", also um das rechte
theologische Verhältnis von Heilsordnung und Kirchenordnung, in dem jene
konkret wird, mühen3. Es ist das Evangelium, um dessen Konkretion es
geht — darum die Ablehnung der Novatianer und Perfektionisten, darum auch
_der leidenschaftliche Protest gegen die Art des Bußwesens, die die römische
Kirche an die Stelle von deren Forderungen gesetzt hat. Aber das Evangelium
will nach Gottes Willen und Christi Anordnung konkret werden — darum
das Bestehenlassen der „gereinigten" Stücke aus dem römischen Bußinstitut.
Dieses Zugleich von eifersüchtiger Geltendmachung der Rechtfertigung, die den
Kern, die Tendenz und die Struktur des römischen Bußinstitutes zerbricht, und
zugleich ernsthaftem Bestehenlassenwollen einzelner Elemente von ihm4 in
neuem Sinn und Geist ist charakteristisch für die Haltung der luth. Bek.-Schr.

Von der Rechtfertigung hei5 und — was damit zusammenhängt
— von der radikalisierten Sündenauffassung her8 vertiefen
die luth. Bek.-Schr. den Begriff „Buße" ungemein gegenüber
der römischen Auffassung. Sie führen die kirchliche „Pö-
nitenz" auf die neutestamentliche „Metanoia" zurück. Dies
kommt zum Ausdruck in der als entscheidend vorgetragenen
Reduktion der (bei den Römischen dreigeteilten) Buße auf die
zwei Stücke Reue und Glaube als ihre beiden Wurzel- und
Wesensstücke7. Reue und Glaube aber sind von Gott selbst

') Es ist die spätmittelalterliche, durch den Nominalismus eingeleitete
Depravation des Bußwesens, die die luth. Bek.-Schr. vor Augen hatten und die
sie so leidenschaftlich bestritten. Gleichwohl wird auch die in Trid. Sess. XIV
reformierte Dogmatisierung des Bußsakraments, die die spätmittelalterlichen
Entartungen z. T. selbst beseitigte und im wesentlichen auf die klassischen
Theorien des Hochmittelalters Zurückgrift, im Prinzip von der Kritik der luth.
Bek.-Schr. getroffen, weil jeweils die grundverschiedene Rechtfertigungslehre
bestimmend dahintersteht.

2) Schriftlich fixiert ist in den reformatorischen Verlautbarungen zweifellos
vor allem das Polemische; das Positive wurde weiterhin nicht erwähnt, weil
es für selbstverständlich gehalten und mit allgemeiner Selbstverständlichkeit
weiter geübt wurde. Später aber hatte man nur noch das schriftlich Fixierte
vor Augen!

a) Ob dies Bemühen immer richtig war, ist eine andere Frage. Es darf
nicht übersehen werden, wie teilweise in der Art, in der Luther und die Bekenntnisschriften
vor allem die Beichte inhaltlich begründeten, nämlich gleichzeitig
auch als eine Art Lehrexamen (s. u.), sowie ihre faktische prinzipielle Nicht-
verweigerung der Absolution bei solchen, die zur Beichte kommen (s. u.), ebenso
ihre dezidierte Ablehnung jeglicher regulierender Einflußnahme des Schlüsselamtes
auf die „Früchte der Buße" (s. u.), u. a. selbst schon die Keime des Zerfalls
hineinbrachten, indem dies alles der mechanischen Handhabung von
Beichte und Absolution zur Zeit der Orthodoxie Vorschub leistete, die dann die
berechtigte Empörung des Pietismus herausforderte, mit der unter dem Motto
„Beichtstuhl — Höllenpfuhl!" die Beichtstühle tumultarisch aus den luth.
Kirchen entfernt wurden!

4) „Absolutio privata in ecclesiis retinenda" (CA XI, 1); „Confessio in
ecclesiis apud nos non est abolita" (CA XXV, 1).

5) So besonders AC XII, 53—90 und AS: C III, 14 ff.

6) So besonders AS : C III, 2. 10. 11. 30—36.

7) Besonders Cm XII, 3—6; AC XII, 28—52. 91—97; Cat. Min. IV, 16;
Cat. Maj. „Kurze Vermahnung", 15 ff.