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Ausgabe:

1952 Nr. 7

Spalte:

422-423

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

Griechische literarische Papyri 1952

Rezensent:

Stegmüller, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 7

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ansatzes gegenüber der von Baynes stark ausgebauten und
von Enßlin (Gnomon XVIII 1942, 24811.) gegen H. gutgeheißenen
Hypothese, das Werk gehöre in die Zeit Julians.
Der Titel „Kinderkaiser" bezieht sich auf die Ansicht, die in
diesem Corpus mit Nachdruck vertreten wird, Erbfolge im
Kaiserhaus sei vertretbar, wenn der Thronfolger erwachsen sei
und seine Virtus gezeigt habe, daß er die Aufgabe zu meistern
vermöge, Kinder auf dem Thron dagegen bildeten einen unwürdigen
Zustand, eine Stellungnahme, die für den zeitlichen
Ansatz des Werkes von größter Bedeutung ist. Ref. glaubt,
daß H. und unabhängig von ihm Joh. Straub („Studien zur
Hist. Augusta", Dissertationes Bernenses 1951) wirklich die
Datierung unter dem Apostaten als unhaltbar erwiesen haben.
Nicht so zwingend ist die Fixierung auf 394 n. Chr. (trotz der
Modifikationen, die H. vornimmt, indem er u. a. den Nicoma-
chus durch einen seiner Amanuenses ersetzt und davon Abstand
nimmt, daß der Kaiser die Schrift gelesen habe). Es muß
hier notwendig die Diskussion zu Ende geführt werden, ob nicht
der Schritt in das 5. Jahrhundert ratsam sei, wie ihn Straub
vorschlägt. Doch mag das den Althistorikern überlassen bleiben
(vgl. im einzelnen Straub, Gnomon XXIV, 1952, 23ff.).

Ungleich wichtiger für eine Besprechung an dieser Stelle
sind die literatur- und geistesgeschichtlichen Aspekte, die H.
zur Charakterisierung der Mentalität des Verfassers, wie er ihn
versteht, und seiner Gesellschaft, d.h. des feudalen senatorischen
Adels im ausgehenden römischen Heidentum, eröffnet,
gegen klassisch-antike und moderne Erscheinungen abgrenzt,
zu archaischen, genuin-römischen, biblischen, orientalischen
Phänomenen in Beziehung setzt und aus ihren psychologischen
Voraussetzungen zu erfassen strebt. Er verzichtet darauf, in
diesem Buch die in kritischer Analyse sichergestellten echten
historischen Daten der Sammlung durch neue zu vermehren,
vielmehr geht es ihm darum, zu ermitteln, was für den antiken
Leser der Viten als „historisch" erschien und was von ihrem
Autor für „historisch" gehalten wurde (91), d.h. es geht letztlich
um wesentliche Besonderheiten der spätantiken Denkform
überhaupt. Es spricht für die Aktualität des Problems nicht
minder als für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges, daß
gleichzeitig und zunächst unabhängig voneinander zwei Philologen
auf die Veränderung der Anschauungs- und Darstellungsformen
in der späten römischen Literatur ihr Augenmerk richteten
, neben H. der im vergangenen Jahr so früh verstorbene
Friedrich Mehmel („Virgil und Apollonios Rhodios", 1940),
und daß beide bei Vergil die ersten eindeutigen Symptome der
angehenden Metamorphose erkannten. Man gewahrt das Wesentliche
, wenn man die Zeit- und Raumvorstellungen überprüft
. Entspricht unserem modernen Empfinden bei einer epischen
Handlung oder einem geschichtlichen Hergang eine kontinuierliche
, kausal lückenlose Darstellung im Rahmen von
Raum und Zeit, so macht sich bereits bei Vergil mehrfach eine
Tendenz bemerkbar, das Kontinuum hintanzusetzen, zuweilen
ganz zu vernachlässigen gegenüber dem Bedeutenden und
Symbolkräftigen, das man heraushebt und in „BiWansichten"
(368) sozusagen außer- und überzeitlich dem Leser vor Augen
stellt.

Mit dem imperium tine fine der Jupiterverheißung des ersten Aeneis-
Buches (287f., über den Akt, wie hier eine Idee gesetzt wird, vgl. Ref. „Gymnasium
" 59, 1952, Heft 2/3, wo leider H. 85ff. nicht mehr benutzt werden
konnten) „ist die Zeit in der Tat zu Ende, ist Nicht-Zeit geworden ... es ist
ein ruhendes Sein, in der Welt also eine legendäre Unwirklichkeit" (86f.).
H. geht freilich zu weit, wenn er vermutet, Vergil habe die „tödliche Infektionskrankheit
", die in der Entwertung der konkreten Wirklichkeit durch die Herrschaft
des Symbols bestehe und zu einer Erstarrung des Lebendigen führe,
auf dem Totenbette erkannt und das sei der eigentliche Grund für den testamentarischen
Wunsch gewesen, die Aeneis zu vernichten (88f.). Ähnlich starr
und zeitlos das Leben der Androtnache (Aen. III 204ff.), auf einem Fleck Erde
in Epirus, den sie Troia, an zwei Flüßchen, die sie Simois und Xanthos nennt.
H. vergleicht die Adligen um 400 n. Chr., die nahezu jeden Gestus nach einem
nationalen Vorbild reglementierten und bei jedem Erlebnis sofort an gelesene
literarische Formen erinnert wurden, in die ihnen die Wirklichkeit unmittelbar
und oft ohne formenden Akt einmündet (51,3).

Literarisch entwickelt sich eine Darstellungsweise, die
einer Kette von Bildern gleicht, welche, ohne hinreichende kausale
Verbindung untereinander, einzeln sozusagen die Zeit
überspringen und den Leser im hic et nunc ansprechen, im
Grunde nur für ihn da sind. Die assoziativ gereihten Wunderaufzählungen
aretalogischer Berichte haben diese „querschnittlich
-akausale Anschauungsweise" und besitzen in der
Hist. Aug. zahlreiche, gleichstrukturierte Parallelen (23ff.).
Beiden ist auch ein Ubermaß an Wendungen eigen, die die
Vergegenwärtigung des Geschichtlichen zum Ausdruck bringen
, die sog. nunc-Formeln, die oft Gegenstände, die dem Leser
bekannt sind, als Zeugen aufrufen, daß das Erzählte wahr sei

(iof.). H. wie Mehmel halten bei diesen Beobachtungen enge
Fühlung mit der Archäologie und vergleichen immer wieder
ihre Ergebnisse u. a. mit der Frontalstellung der späten Relieffiguren
oder mit den akausalen Elementen in der Darstellung
historischer Szenen. Es wäre wünschenswert, wenn ein
Archäologe vom Fach sich nunmehr dieser Schritte der Philologie
in ein schwieriges Neuland annähme und wenn durch
Kooperation ein beiderseits befriedigendes Resultat zustande
käme.

Ein Schriftsteller, der bewußt oder unbewußt „Bildansichten
" und historische Querschnitte anstrebt, stellt aber
nicht nur mit der Logik des Handlungsablaufs auf Kriegsfuß,
sondern zeigt auch gegenüber dem Stilgesetz, daß alles nur
einmal vorzutragen sei, merkwürdige Unempfindsamkeit. Der
moderne Kritiker stellt in solchen Fällen „Dubletten" fest
(257). H. zeigt, daß es an vielen Stellen nicht im strengen Sinne
solche sind, sondern daß die Verschiedenheit der übergeordneten
Gesichtspunkte dem Bilde jeweils eine andere Funktion
zuweist. Auch hier gerät man wieder zur Vergilkritik, wo, zumal
in den Eklogen, die Interpreten ihre Schwierigkeiten haben
angesichts des „Abbrechens" von Gedankenzügen, des
„assoziativen" (scheinbaren) Sich-verlierens, des „Fast-genau-
dasselbe-Sagens" usw. (362).

An ausgewählten Proben zeigt H„ wie man querschnittliche Bilder gegeneinander
abheben kann, u. a. an Verg. Ekl. IV 18—23 (267f.); die Verse 18—22
(at tibi . . . nullo munuscula cultu . . . tellut. . .fundet) stehen unter dem
Aspekt, daß das heraufkommende goldene Zeitalter die Welt in ihren Akziden-
tien, in dem Wie des Zusammenspiels der Dinge verändert; dagegen zeigen
23—25 (ipsa tibi ... /und ent cunabula llores) einen Wandel der Weltsubstanz:
die Wiege läßt Blumen sprießen, Schlange und Giftkraut sterben aus; beide
Bilder stellen formal eine Steigerung dar, zeitlich liegt ihnen kein Früher und
Später zugrunde, sondern offensichtlich gleichzeitige Ereignisse. So bereitwillig
Ref. zugibt, daß H. der Struktur mancher schwierigen Stelle dergestalt
auf der Spur ist, so scheint ihm doch die Gefahr recht groß zu sein, die mit
solcher Auslegung verbunden ist; die Grenze liegt nicht fern, jenseits derer kein
Mensch mehr sagen könnte, ob der xdXXtarot xöofios, den ein ingeniöser Interpret
in eine Stelle hineinassoziiert, beim Autor je bewußt oder unbewußt lebendig
war. Im übrigen hat sich H. auch Partien der Genesis und des Buches Hiob
auf ihre „Dubletten" hin angesehen (270) und konstatiert Berührungen seiner
Auffassung mit M. Blumenthals „Zweiheitsgesetz", für das er eine Modifizierung
vorschlägt.

Weiteres kann Ref. nur andeuten: wer die Ideologie des
römischen Kaisertums und des kaiserzeitlichen Imperialismus
in der Vielfalt ihrer religiösen, literarischen und monumentalen
Ausdrucksformen und Nuancen, wer den Grad ihrer Verankerung
in Vergil sich vergegenwärtigen will, wer ihr Ringen gegen
die Kräfte des „geistigen Widerstandes" in seinen Positionen
und Gegenpositionen (man sah meist nur die eine Seite der
Sache) verfolgen möchte — sehr lehrreich die Paralysierung
der berühmten Lactanzkapitel divin. inst. 7, 15ff. (Hystaspes-
orakel vom Untergange Roms durch einen König aus dem
Norden und einen aus dem Osten, dazu Lebensaltertheorie)
durch genau entsprechende Gegenverkündigungen und einen
ostentativ korrigierten Romaspekt in der Hist. Aug. (353ff-,
388ff.) -, wer sich mit Vergils Eklogen und den Proömien der
Georgica, mit der eigenartigen vielfältigen Rolle seiner Dichtung
in dem Heraufkommen einer neuen geistigen Welt beschäftigt
, wer allgemein das Römertum in seinem Denken
(75 ff. über das Wertverhältnis zwischen Mythos und Geschichte
), wer den spätrömischen heidnischen Adel in seinem
letzten Weltanschauungskampf und seinem schließlichen Hineinwachsen
in die durch ihn sich feudal und adelsethisch ausrichtende
Großkirche studiert, wird in H.s Buch Förderung
und sicher auch manchen Anlaß zu prüfendem Nachdenken
finden.

Erlangen Carl Koch

Schubart, Wilhelm: Griechische literarische Papyri. Berlin: Akademieverlag
1950. 108 S. 8° = Berichte über die Verhandlungen der Sachs. Akademie
der Wissenschaften zu Leipzig. Philolog.-hist. Klasse. 97. Bd., 5. H.
DM 13.25.

Der Altmeister der deutschen Papyruswissenschaft bietet
uns 44 Nummern der immer noch unzugänglichen Berliner
Papyrussammlung, den „Rest eines umfangreichen Manuskripts
, das im letzten Krieg zum größten Teil untergegangen
ist." Der Herausgeber konnte die Originale nicht nachprüfen;
die notwendige Fachliteratur stand ihm nicht zur Verfügung;
nicht einmal die Nummern der Stücke im Berliner Inventar
konnten angegeben werden. Kurze Anmerkungen müssen daher
die ausführlichen, zuverlässigen Kommentare der früheren
Veröffentlichungen Schubarts ersetzen. Wort- und Namen-