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Ausgabe:

1952 Nr. 7

Spalte:

397-402

Autor/Hrsg.:

Michaelis, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Notwendigkeit und Grenze der Erörterung von Echtheitsfragen innerhalb des Neuen Testaments 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 7

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Notwendigkeit und Grenze der Erörterung von Echtheitsfragen innerhalb des Neuen Testaments

Von Wilhelm Michaelis, Bern

Das Thema ist im Hinblick auf die Möglichkeiten, die für
ein Kurzreferat bestehen1, etwas allgemein und weit gefaßt, insofern
im NT in verschiedener Streuung und immer wieder
anderer Kombination eine ganze Reihe von Formen oder Spielarten
von Echtheitsfragen begegnen, die entsprechend auch
immer wieder andere methodische Überlegungen erfordern. Ich
möchte jedoch nur ein bestimmtes Problem in den Mittelpunkt
stellen, das mit den beiden Stichworten Notwendigkeit und
Grenze freilich auch nur unvollkommen angedeutet ist2.

Es handelt sich um ein Problem, das in dieser Form vor
allem in den synoptischen- Evangelien beheimatet ist. An analogen
Zügen bei Echtheitsfragen sonst im NT fehlt es gleichwohl
nicht. Soweit etwa — um dieses Beispiel zu nennen — bei
einzelnen Paulusbriefen auf Unechtheit im Ganzen, das heißt
auf nichtpaulinische Verfasserschaft votiert wird3, meint man
damit heutzutage in der Regel Abfassung durch einen Deutero-
pauliner und erhält damit eine Späterdatierung, die den Rahmen
einer Generation nicht überschreiten dürfte. Eine Tangierung
des Kanonischen nach seinem Umfang ergibt sich dabei
also nicht, aber auch keine Tangierung des Kanonischen
nach seiner Dignität4, und zwar nicht auf Grund eines vorgefaßten
Urteils, daß der Kanon nicht tangiert werden dürfe,
sondern als faktisches Ergebnis einer unvoreingenommenen
Erörterung der Echtheitsfrage5. Wird man daher zwar auch
nicht sagen dürfen, daß sich der Kanon in diesem Fall als
Grenze für die Erörterung von Echtheitsfragen erwiesen habe,
so verbleibt im Falle des Corpus Paulinum Echtes und „Unechtes
", Pseudonymes, doch de facto im größeren Bereich des
Kanonischen, auf dem Boden des urchristlichen Kerygmas
beieinander. Trotzdem kann diese Zusammenfassung unter
einer höheren Einheit, nämlich des Kanonischen oder Keryg-
matischen, keine Neutralisierung oder Vergleichgültigung der
Echtheitsfragen als Verfasserfragen bedeuten6. Vielmehr ist
klar, daß Paulinisches und Deuteropaulinisches, wie nahe sie
einander auch berühren mögen (es ist hierbei mehr an Eph. und
Kol. als an Past. gedacht) dennoch getrennte Typen darstellen
und als solche auch, z.B. im Rahmen einer Behandlung der
NT-Theologie, getrennt zu halten sind7. Es wäre verhängnisvoll
, wollte man in diesem Fall diesen Unterschied um der höheren
Einheit im Kanonisch-Kerygmatischen willen aufgeben,
und es wäre zudem auch keineswegs aussichtslos, ihn festzuhalten
und zur Darstellung zu bringen.

Was nun die Evangelien betrifft, so kehren hier, wenn die
Evangelien als Ganzes genommen werden, die gleichen Pro-

') Unter obigem Titel vorgetragen am 14. April 1952 in Bern auf der
6. Hauptversammlung der Studiorum Novi Testamenti Societas.

2) Bei der Formulierung des Themas hatte ich mich durch den Titel des
Aufsatzes, von Werner Georg Kümmel, Notwendigkeit und Grenze des Neu-
testamentiichen Kanons, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 47. Jahrg.
1950 S. 277—313, anregen lassen. Durch die Übernahme auch der Reihenfolge
„Notwendigkeit und Grenze" blieb allerdings für die, die im Tagesprogramm
mein Thema angekündigt fanden, verdeckt, daß nicht das Problem behandelt
werden sollte, daß und warum und wo etwa die notwendige Erörterung von
Echtheitsfragen ihre Grenze habe, sondern daß mir vielmehr umgekehrt daran
lag, zu zeigen, daß ungeachtet des Vorliegens einer ganz bestimmten Grenze
doch an der Notwendigkeit der Erörterung von Echtheitsfragen festzuhalten sei.

3) Ich sehe davon ab, daß ich persönlich die Echtheit aller Paulusbriefe
anzunehmen vermöchte.

4) Die Dignität wäre dann jedenfalls bestritten, wenn Unechtheit Fälschung
bedeuten müßte. An den Fall von Fälschung denkt man aber ja nicht,
wenn man bei Paulusbriefen von pseudonymer Verfasserschaft spricht, gleich
ob der unbekannte Autor seinerseits schon unter dem Namen des Apostels geschrieben
haben oder später die Überlieferung den Apostel als Verfasser ausgegeben
haben soll.

5) Dies ailes gilt selbstverständlich auch dann, wenn die Erörterung bei
einem Non liquet stehen bleiben müßte.

6) Dies gilt unbeschadet der Beobachtung, daß es für die praktische Ermöglichung
eines theologischen Gesprächs bei verschiedener Einstellung zu den
Echtheitsfragen sich als notwendig erweisen kann, Verfasserfragen hinter der
Betonung des kanonischen Charakters zurücktreten zu lassen. Dies zeigte sich
etwa bei einer früheren Berner Tagung, der 2. Ost-West-Konferenz vom Jahre
1930, die dem Eph. gewidmet war und bei der die Mitarbeit der östlichen Theologen
angesichts mancher Unechtheitsverdikte nur durch Unterstreichung der
kanonischen Geltung dieses Briefes gesichert werden konnte.

7) Auch im Fall der Echtheit wäre die Eigenart von Eph. und Kol. so
groß, daß sie besondere Beachtung und eine gesonderte Darstellung beanspruchen
dürfte.

bleme — Echtheitsfragen verstanden als Verfasserfragen mit
Bezug auf die Verfasserschaft einzelner Evangelisten — wieder
. Die Echtheitsfrage tritt jedoch — bei den synoptischen
Evangelien, in erheblich schwächerem Maß auch beim Johannes-
Evangelium - auch noch in einer anderen Form auf, nämlich mit
Bezug auf die Echtheit der innerhalb der Evangelien überlieferten
Worte Jesu1. Beide Formen der Echtheitsfrage stehen
in keiner unmittelbaren und zwingenden Beziehung zueinander.
Nicht einmal, wenn die altkirchliche Tradition sich bei einem
Evangelium als gänzlich verfehlt erweisen würde, müßte dies
schon ein ungünstiges Präjudiz für die Bewertung des in diesem
Evangelium sich findenden Bestandes an Jesusworten
darstellen, so wenig wie umgekehrt die Bestätigung einer altkirchlichen
Verfassertradition sich als günstiger Vorentscheid
auswirken müßte. Echtheitskriterien im Hinblick auf die Worte
Jesu könnten, wenn überhaupt, dann nur relativ unabhängig
von allen Verfasserfragen aus dem Urteil über die Arbeitsweise,
das historische und theologische Sensorium eines Evangelisten
oder schon seiner Vorgänger und aus der Einsicht in die Probleme
der synoptischen Frage im Ganzen erwachsen, und sie
würden sich außerdem nur sehr vorläufig und eklektisch handhaben
lassen. Kriterien, mit denen Echtheitsfragen bei Jesusworten
vorweg und in globo für ein ganzes Evangelium oder
auch nur für eine ganze Vorlage oder Schicht beantwortet werden
könnten, gibt es kaum. Vielmehr wird die Echtheitsfrage
in jedem Einzelfall eines Jesuswortes neu zu klären sein.

Jedoch: ist wenigstens das möglich ? Wie ist denn die
Ausgangslage? Hans von Soden hat sich dahin geäußert: ,,Es
ist wissenschaftlich nicht möglich, aus dem Uberlieferungsbestand
, wie er in den synoptischen Evangelien vorliegt, die Botschaft
und die Geschichte Jesu gleichsam durch ein Filtrier-
rungsverfahren wiederzugewinnen ... Es hat . . . niemals
.Uberlieferungen von Jesus' gegeben, die nur überliefernde Erinnerung
und nicht schon formendes Bekenntnis gewesen wären
, und auch die frühesten Schichten in unseren Evangelien
sind Stadien in einer Geschichte des Glaubens an Jesus Christus2
". Wenn dem so ist, bedeutet das die grundsätzliche Aufhebung
der Möglichkeit, bei Echtheitsfragen überhaupt zu
einem Entscheid zu kommen ? Ist an dieser Stelle, bei dem Bekenntnis
- oder Zeugnischarakter der Evangelien, eine Grenze
aufgerichtet, die nicht überschritten werden kann oder gar
nicht überschritten werden darf ?

Eduard Schweizer hat einmal — in einer Besprechung über
Werner Georg Kümmel, Verheißung und Erfüllung, 1945 —
geschrieben: ,,Man darf sich freilich ob dieser gründlichen Prüfung
der Stellen nicht verhehlen, wie unsicher doch immer der
Entscheid über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit eines
Wortes zur Verkündigung Jesu bleiben muß, auch bei sorgfältigster
Argumentation . . . Die Scheidung zwischen Jesusworten
und Gemeindeworten wird also naturgemäß immer unsicher
bleiben. Es läßt sich darum . . . die prinzipielle Frage
stellen, ob es . . . theologisch relevant ist, zur Verkündigung
des .historischen' Jesus vorzudringen, und ob nicht das Scheitern
der ganzen Leben-Jesu-Forschung bzw. ihr wesentlichstes
Ergebnis, daß auch die Synoptiker Zeugnisse und nicht Biographien
sind, uns jene gesegnete Zurückhaltung auferlegt, in
der wir dabei bleiben, daß wir Jesus nur mit den Augen der
glaubenden Gemeinde sehen können und sollen. Wer hier mit
dem Rezensenten meint, ja sagen zu müssen, der erklärt eine
Arbeit wie die vorliegende nicht als unnötig, er meint aber, daß
sie nur als Vor-Arbeit verstanden werden darf zur eigentlichen

l) Andererseits würde dieser Fall bei den Paulusbriefen eine nur sehr
entfernte Parallele darin haben, daß es etwa einmal um den Nachweis gehen
könnte, daß in einem als Pseudonym erkannten Brief dennoch echte paulinische
Fragmente enthalten seien. Wieder eine andere Form der Echtheitsfrage würde
der Fall darstellen, daß der Apostel in einem Brief •— verändert oder unverändert
— ältere vorpaulinische Aussagen übernommen haben könnte. Gerade
in der Richtung auf das Aufspüren solch älteren Gedankenguts bewegt sich
die Forschung seit geraumer Zeit. Vergl. etwa für Phil. 2, 6—11 die bekannte
Untersuchung von Ernst Lohmeyer, Kyrios Jesus (1928), für Kol. 1, 12—20
den Aufsatz von Ernst Käsemann, Eine urchristliche Taufliturgie (in der Festschrift
für R. Bultmann 1949 S. 133—148), für Rom. 8, 29f. den Beitrag von
Bischof Cassian, Le Fils et les fils, le Frere et les freres (in: Paulus—Hellas—
Oikumene 1951 S. 35—43).

*) Hans von Soden, Urchristentum und Geschichte 1 1951, S. 207.