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Ausgabe:

1952 Nr. 5

Spalte:

315

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Döblin, Alfred

Titel/Untertitel:

Die literarische Situation 1952

Rezensent:

Doerne, Martin

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315

Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 5

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Blickansätze zurück; das Gesetz der „indirekten Aussage",
das für den künstlerischen Gestalter religiöser Botschaft gilt,
wird zugunsten allzu systematischer Ausdeutung mißachtet.
Doch ist St. Historiker und Psycholog genug, um, aufs Ganze
gesehen, die inneren Unausgeglichenheiten in D.s Denken
stehenzulassen. — Sein Buch widerlegt die oft zu hörende
oberflächliche Meinung, die Dostojewski-Bewegung der 1920 er
Jahre sei nur eine vorübergehende seelengeschichtliche Mode
gewesen. Wir kennen wenige Bücher, die dem deutschen Leser
so leicht und so verläßlich wie dieses den Zugang zu den schier
unausschöpfbaren Reichtümern von Dostojewskis Werk aufschließen
, und hoffen, es bleibt nicht bei dieser „ersten Auf-
läge" (S. 4).

Rostock Martin Doerne

DÖblin, Alfred: Die literarische Situation. Baden-Baden: P. Keppler
[1947]. 64 S. 8°. Kart. DM 2.70.

A. Döblin, der Autor von „Wallenstein", „Berge, Meere
und Giganten", „Alexanderplatz", Marxist und Psychoanalytiker
, einer der klügsten und einfallsreichsten Köpfe der
Weimarer Zeit, überraschte uns 1946 mit dem gut christkatholischen
Buch „Der unsterbliche Mensch" (Freiburg 1946,
Alber), dem Dokument seiner tiefen Wandlung in der Emigrationszeit
. Um dieser Wandlung willen erweckt das hier vorliegende
kulturpolitische Manifest, im wesentlichen eine kritische
Auseinandersetzung mit der deutschen „Utopie von
1933", ihren feudalistischen und bürgerlichen Wegbereitungen
und den aus ihr erwachsenden inneren Bedingungen künftiger
deutscher Literatur zunächst das lebhafte Interesse der geistig
wachen Christenheit. Es dürfte kein unbilliges Urteil sein, daß
dieses Interesse durch das ungefüge Vielerlei der teils geistvollen
, teils heute schon merkwürdig veraltet wirkenden Aphorismen
in dieser Schrift, alles in allem, enttäuscht wird. Mit
dem Schlußergebnis sind wir herzlich einverstanden: „Wo das
Göttliche sich nähert., .klingen die Lieder der Kunst anders.
Die Herzen werden neu gestimmt. Das ist keine Zeit für
Klassen, Nationen und private Eigenbrötler. Es ist die Epoche,
in der wieder ... die Frage nach dem Menschen aufgeworfen
wird" (62). Aber über die „literarische Situation" müßte schon
etwas konkreter geredet werden, anders als mit den rasch vorbeihuschenden
gelegentlichen Namen- und Gruppenbenennungen
, um uns zu zeigen, wo heute und morgen die wirklichen
Desiderien dichterischen Schaffens liegen.

Rostock Martin Doerne

Ebeling, Hans: Ernst Wiechert. Das Werk des Dichters. Wiesbaden:
Limes-Verlag 1947. 167 S., 2 Taf. 8°. Geb. DM 5.—.

Zu erster Einführung in das Werk und die seelisch-geistige
Welt E. Wiecherts ist dieses Büchlein mit seinen drei „Querschnitten
, dem biographischen, dem philosophischen und dem
ästhetischen" (Vorw. S. 5) und der sorgsam angelegten synchronistischen
Bibliographie (144 —167) unbestritten dienlich.
Als Hilfe für eine selbständige literatur wissenschaftliche Durchdringung
von W.s ebenso ansprechender wie problematischer
Botschaft, die jedenfalls eine der echtesten Dichterstimmen
innerhalb der Zeitgenossenschaft hören läßt, reicht sie nicht"
ganz aus. Die „Missa sine nomine", das letzte Werk des unlängst
verstorbenen Dichters, konnte in E.s Arbeit noch nicht
einbezogen werden. Die zuverlässig referierende Darstellung
von der Entwicklung und den treibenden Kräften des Wie-
chertschen Gesamtschaffens wäre durch dies Letztwerk kaum
wesentlich verändert worden. Eine durchschlagende Deutung
des religiösen Gehalts, insbesondere der (sehr verschiedenen
Urteilen Raum gewährenden) biblisch-christlichen Rückbe-
ziehung von Wiecherts Gesamtwort darf man in der sonst
dankenswerten Materialsammlung „Die Welt Gottes" (II 3,
S. 86—104) nicht erwarten. E.s Studie mag uns gerade durch
ihre Schranken daran erinnern, daß unsere christlich-dichterische
Grenzbesinnung Ernst Wiechert gegenüber noch eine
uneingelöste Schuld hat.

Rostock Martin Doerne

Glaser, Martha: Dichtung vor Gott. Eine darstellende Untersuchung der
Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin-Bielefeld: Verl. Haus u.
Schule (jetzt Lettner-Verlag) [1950]. 460 S. gr. 8°. Lw. DM 14.20.

Nachdem vor über hundert Jahren August Vilmar seine
„Geschichte der deutschen Nationalliteratur" schrieb und
Heinrich Geizer „Die deutsche poetische Literatur seit Klop-
stock und Lessing nach ihren ethischen und religiösen Gesichtspunkten
" betrachtete, fehlte bis vor kurzem eine grundsätzliche
Beschäftigung mit der Dichtung vom bewußt christlichen
Standpunkt aus, wenigstens auf evangelischer Seite. Das ist
seit einigen Jahren anders geworden, ich brauche nur die Namen
Karl Kindt, Johannes Pfeiffer, Joachim Günther, Wilhelm
Grenzmann zu nennen; Zeitschriften wie Eckart, Zeitwende
und die neue Furche sorgen für lebhafte kritische Auseinandersetzungen
mit einzelnen literarischen Erscheinungen
der Gegenwart. Auch die Frauen stehen nicht zurück mit wertvollen
Arbeiten, die, wie Christine Bourbeck und Ilse Martens,
ältere und neuste Literatur mit gründlicher Kenntnis und
reifem Urteil als Christen beleuchten.

Der umfassendste Versuch, „Dichtung vor Gott" im
neunzehnten Jahrhundert darzustellen, wurde von Martha
Glaser imternommen, ein zweifellos großer Wurf von hohem
Verdienst, der bestätigt, das sich in der Tat die entscheidenden
Fragen der Dichtkunst in den religiösen Bereich verlagert
haben. Mit Recht hat vor kurzem Walther von Loewenich die
jetzige Lage mit dem Wort gekennzeichnet, daß der Geisteskampf
der Gegenwart für das humanum nur als gleichzeitiger
Kampf für das christianum geführt werden könne: „die Rettung
des humanum steht und fällt heute mit der des christianum
". Es wäre zu wünschen, daß diese Erkenntnis auch in den
Kreisen der zünftigen Germanisten zur Geltung käme, die
weithin noch in rein ästhetischer oder philologischer oder literarhistorischer
Haltung verharren.

Die Verfasserin des vorliegenden Werkes will nach ihren
eigenen Worten bis zu den Gründen und Hintergründen des
Seins vordringen, aus denen als seinen Erscheinungsformen
die einzelnen ästhetischen Gestalten und die Geschichte
aller Gestalten erst hervorgehen, wobei sich dann die
ästhetischen wie auch die literargeschichtlichen Gesetze aus
der Beziehung dieser Erscheinungsformen zum Sein von
selbst ergeben. Sie verfolgt ihr Ziel durch Analyse der Hauptwerke
von zehn Dichtern, die sie nach ihrer Stellung zum
„großen Welt- und Lebensspiel Gottes" befragt, denn sie hält
die Wirkung dieses Spiels zwischen absoluter Wirklichkeit
Gottes und bedingter Wirklichkeit des Teufels auf die Zwischenwirklichkeit
, in der eben der Mensch sich in ständigem
Kampfe, gehorchend oder sich empörend, entscheiden muß,
für Aufgabe und Thema aller Kunst. So ist auch dies Werk
von dem Bestreben geleitet, einen Zusammenhang zwischen
Heilsgeschichte und profanem Geschehen aufzudecken, nachdem
das lange herrschende Prinzip der wertfreien oder voraussetzungslosen
Literaturbetrachtung, als subjektiv bedingt und
von zweitrangigen Wertungen bestimmt, von innen her überwunden
ist.

In den Mittelpunkt stellt Martha Glaser den noch viel zu !
wenig bekannten Jeremias Gottheit; in dessen Würdigung —
als Gotterleuchteter, als Psychologe, als Schilderer, als Erzieher
und Gestalter — gibt sie ihr Bestes, indem sie eindringlich
auf die zwei wesentlichen Faktoren seines umfangreichen
Schaffens hinweist: Dienst am Menschen und göttliche Inspiration
. Gottheit liest in den beiden Büchern, die Gott vor
uns aufgeschlagen hat: in der heiligen Schrift und im Leben,
um zum leidenschaftlichen Erzieher, zum Reformator, Bußprediger
und Seelsorger seines Volkes zu werden; er nimmt bewußt
Partei für die Mächte des Himmels gegen die der Hölle,
ohne sich bei seinen vielfältigen Charakteren in abstrakte Typenschilderung
zu verlieren. Ihm gelingt als Einzigem von den
behandelten Autoren die echte Verschmelzung von modernpsychologischem
Individualismus mit dem allgemeinen von
Gott gesetzten Gültigen, von unentrinnbarer Gesetzmäßigkeit
alles Geschehens und völliger Freiheit des Individuums, wobei
freilich das letzte Geheimnis gewahrt bleibt.

Dieser große Aufsatz voll Klarheit und Tiefe geht aller-
dmgs gänzlich daran vorüber, daß Gotthelf in seiner überaus
komplexen Natur große Widersprüche vereinigte: Neigung
zum Chthonischen und zum Idealismus, zum Romantischen und
zum Rationalismus, zum Mystischen und zum Realismus; er
ist orthodox, pietistisch und liberal in einem und geht unglaublich
selbstherrlich mit Text und Gehalt der Bibel um.
Erst eine große innere Wandlung machte ihn für die Leistung
seines Werkes reif. Bezeichnend für ihn ist seine theozentrische
Frömmigkeit, während Christus als Lehrer und Vorbild etwas
verblaßt und mehr symbolisch betont erscheint. Hier, wie übrigens
im ganzen Werk der Verfasserin selbst, erscheint die uns
am meisten bewegende Frage nur ganz am Rande. Nun ist
aber Literaturgeschichte eben auch Geschichte, die dadurch,
daß Christus in unsere Geschichte leibhaftig eintrat, von der
Wurzel her neu bestimmt wurde als der Raum der Begegnung
mit ihm oder der Loslösung von ihm. „Auch in dem Sprachleib
der Dichtung muß das geheime, das eigentliche verburü
Dei sein." (Friso Melzer.)

Die unleugbar vorhandenen künstlerischen Schwächen
Gotthelfs werden gar nicht erwähnt, vielmehr wird sein ganzes
Schaffen zum Maßstab für das der andern genommen mit der
Begründung, daß sein Werk den Wegen Gottes nachgehe, sie '