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Ausgabe:

1951

Spalte:

79-90

Autor/Hrsg.:

Gloege, Gerhard

Titel/Untertitel:

Gott im Widerspruch 1951

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 2

80

Gott im Widerspruch

Zur Christologie von Heinrich Vogel1

Von Gerhard Gloege, Jena

Die Lehre von Christus zum Gegenstand, einer Monographie
zu machen, stellt von jeher ein wissenschaftliches Wagnis
dar. Darum bleibt dieser Versuch auch so selten. Vor nahezu
einem Jahrhundert (1852—1861) schrieb Gottfried Tho-
masius in Erlangen unter dem Titel „Christi Person und
Werk" eine „Darstellung der evangelisch-lutherischen Dogma-
tik vom Mittelpunkt der Christologie". Seitdem hat ein Einziger
— Emil Brunner — das große Thema anzupacken gewagt
. Sein Werk „Der Mittler" mit dem Untertitel „Zur Besinnung
über den Christusglauben" (1927) brachte eine umfassende
Auseinandersetzung mit der zwischeneingekommenen
historisch-kritischen Forschung und stieß gegenüber der
„modernen" mystisch-idealistisch-moralistischen Allgemeinreligion
zum Grundfaktum der Offenbarung vor. Mit der Neufassung
des auch erkenntnis-theoretisch bedeutsamen Offenbarungsgedankens
— „Gott kann nur durch Gott erkannt
werden" —, der Rückgewinnung der Kategorie der „Einmaligkeit
", der Bestimmung der Sünde als des „Ur-Unver-
nünftigen", der Ernstnahme der Menschwerdung als göttlicher
Selbstbewegung und der Versöhnung als Gottestat war das
Herzstück der Dogmatik gegen die bislang relativistischen Gefährdungen
gesichert und ein neues Verständnis der vom
Historismus verkannten altkirchlichen Erlösungslehre angebahnt2
.

Auf diesem Wege bedeutet nach zwanzigjähriger Pause
Vogels „Christologie" einen beachtlichen Fortschritt. Behält
Brunners Untersuchung durch Weite des Blickes und Freude
an der „eristisch" gewonnenen Abklärung bleibende Bedeutung
, so ist Vogels Werk durch die Tiefe eigenständiger Reflexion
und den Ernst bohrender Dialektik ausgezeichnet.
Theologiegeschichtlich beurteilt, tritt dasselbe Objekt aus dem
Stadium kritischer Analytik in das systematischer Konzentration
. Um das Gesamturteil vorwegzunehmen: wir haben es
bei Vogel mit einer systematischen Leistung von außergewöhnlichem
Format zu tun, gleich eindrucksvoll durch Kraft des
Gedankens wie der Sprache.

I. Bericht

Vogels Entwurf sieht eine Einteilung des überlieferten Stoffes in vier
Kapitel vor: I. Der Name — II. Die Person — III. Der Weg — IV. Das Werk
Jesu Christi. Der vorliegende Band behandelt davon das I. und — bestenfalls
—die Hälfte des II. Kapitels. Er bricht inmitten der Lehre von der Person
(nach Durchdenkung des Satzes, daß Oott ein Mensch ward) ab und behält
die Aussagen von der Gottheit, von der Gemeinschaft von Gott und Mensch
Im Mittler (IIb), sowie die Lehre von seinem Wege (III), seinem Werke und
der darin beschlossenen Nachfolge (IV) der Fortsetzung vor. Trotzdem wird
die Struktur des Ganzen und seines Gedankenganges deutlich sichtbar. Von
Anfang an macht sich das „Thema" geltend: „Das Wort ward Fleisch" (Jon.
1, 14) — „das Ist der fundamentale und zentrale Offenbarungstext, als dessen
Exegese die Lehre von der Person Jesu Christi verstanden sein will" (79).

Eingang: Die Frage. Die Untersuchung setzt mit der Definition des
Begriffes „Christologie" ein: sie „ist die Lehre, daß ein bestimmter Mensch,
Jesus von Nazareth, wie ihn uns die Schriften des NT bezeugen, der Christus
ist, wie ihn uns das AT verheißt" (1). Im Rahmen einer weitgespannten Paraphrase
von Matth. 16, 13—18 wird zunächst die Christusfrage in ihrer dialektischen
Fragestellung fixiert: unsere Frage nach Ihm ist Seine Frage an
uns. In der Fragestellung wird bereits über die Antwort entschieden. Zur
Christusfrage gibt es keinen „phänomenalen Zugang" (4). Es Ist unmöglich,
Christus in das scheinbar Bekannte, mittels Analogieschlusses, einzureihen, ihn
innerhalb eines vorgängigen Schemas — etwa des des Religionsstifters! — zu
verstehen. Die Christologie sprengt die allgemeingültige Subjekt-Objekt-
Relation. Ihr eigentliches Problem besteht darin, daß es, indem es sich uns
zum Objekt gibt, sein Ihm selbsteigenes Subjektsein in einer Welse geltend
macht, die alle unsere Relationen aufhebt und seinem eigenen Gesetz unterwirft
" (8). Die unmittelbare Christusfrage stellt uns vor das Entweder-Oder
einer unausweichlichen Entscheidung. Die Frage fragt uns. Denn die Frage ist
Er selberl Das Subjekt macht sich zum Objekt, „ohne doch einen Augenblick
aufzuhören, das Subjekt zu sein und zu bleiben I" (10). „Er, Christus, ist die
Substanz des Christentums, wie dies von keiner Religion, keiner Philosophie
oder Staatsordnung gesagt werden kann" (12).

') Vogel, Heinrich, Prof. D,: Christologie. I. Band. München: Chr.
Kaiser Verlag 1949. VIII, 477 S. gr. 8°. Lw. DM26.—.

a) Brunner blieb bisher ,der Einzige'. Denn Friedrich Gogarten will
In seinem Buche „Die Verkündigung Jesu Christi" (Heidelberg 1948) keine
„Christologie" geben. Ihm geht es darum, die „Gestalt" Jesus Christus, seine
„Existenz", In der das „göttliche Gegenüber" offenbar wird, als „unser Gegenüber
" wiederzugewinnen (18ff.).

Die Kraft der Frage beruht darauf, daß in ihr uns die Gottesfrage gestellt
wird. Denn in Jesus Christus begegnet uns Gott selbst. Christologie Ist
der Substanz nach Theologie. Ihre am Christusgeschehen gewonnenen'Er-
kenntnisse sind rational unableitbar, von einer den philosophischen Geist
„empörenden Unbegründetheit" (17). Der Ratio, die postulativ, a priori, und
nicht „ex post" erkennen will, „stellt sich der Sinn der christologischen Wahrheit
als Widersinn und Wahnsinn dar, wie denn unsere Erkenntnis dieser Wahrheit
unter den Widerspruch versiegelt ist" (18). Freilich hat das Paradox nicht
das letzte Wort, sondern die Versöhnung des Widerspruches. Jede ideologische
oder psychologische Verfälschung der Christologie wird durch die eschato-
logische Bezogenheit auf den Kommenden im voraus abgeriegelt. Christologie
ist nicht Jesulogie, nicht „Jesuanismus", weder im liberalen noch im „pietistischen
" Sinne. — Andrerseits will Theologie als Christologie verstanden
sein. Gotteserkenntnis ist nicht in Natur, Geschichte oder Im menschlichen
Selbst, sondern — Ungeheuerlicherweisel — allein in Jesus von Nazareth zu
gewinnen. Mag die christologische Versiegelung aller Theologie der „natürlichen
Theologie" oder einer gewissen „Orthodoxie" als „Christomonismus"
erscheinen (27), sie verhütet ihr Abgleiten in Anthropologie und Kosmologie
und das Beschreiten der falschen Erkenntniswege (Negation, Kausalität, Eminenz
) einschließlich der „Analogia entis". Die Christusaussage ist die Mitte der
trinitarischen Aussagen, Substanzgrund wie Kriterium der ökonomischen wie
der immanenten Trinität. Wahrhaft christozentrische Theologie ist theozen-
trisch — und umgekehrt (34).

Jesus Christus ist selber Frage und Antwort in'einem: „nach Christus
fragen heißt auf Christus hören!" (35). Ort der Frage aber ist die Kirche, die
das prophetisch-apostolische Offenbarungszeugnis Im Bekenntnis auslegt. Im
ehrfürchtig-kritischen Hören auf die Exegesen der Väter merkt die christologische
Forschung im „Raum" der Kirche auf den Text und dient ihrer Verkündigung
. Ihre Lehrsätze sind nicht als „Grundsätze" aus einem systematischen
Grundprinzip abzuleiten. „Grundprinzip" ist Jesus Christus selbst,
der eben nicht mit einem Christusprinzip verwechselt sein will (40).

I. Kapitel: Der Name.

1. Christus. Der im NT als der Gekommene und Wiederkommende
bezeugte Jesus von Nazareth ist der vom AT als der Kommende bezeugte
Christus. Wer im NT nicht den im AT verheißenen Messias findet, wird einen
andern, falschen Christus, ein Abbild eigener Ideen und Ideale, einen rationalen
oder mystischen, nationalen oder sozialistischen Christus finden (43).
Die Bezeichnung „Christus", ursprünglich Würdename, wird im NT zum
„anderen" Namen Jesu. Wer ihn erhält, „ist der Träger des Qottesnamens,
in dem offenbart sich Gott selber" (52), und zwar der Gott, der Im AT (Ex. 3,
13—15) seine Selbstoffenbarung in der Namensoffenbarung vollzieht. Sie geschieht
im Akt des Gnadenbundes. Wiewohl sie in seiner Ascität gründet,
offenbart Gott sich in ihr „in seinem für uns seienden", uns sich erschließenden
Wesen. „Oott mit uns" (Jes. 7, 14) ist sein Offenbarungsname (57). Als
Träger des Gottesnamens ist der kommende Messlas aber zugleich Träger eines
Menschennamens, des „Menschensohnes" von Dan. 7. Die ganze Tiefe seines
Geheimnisses verbirgt sich in der Verheißung des Gottesknechtes von
Jes. 53: In seiner Knechtsgestalt tritt Oott selbst an unsere Stelle. Kurzum:
das AT bezeugt den künftigen Gesalbten als Qottes- und Menschensohn, als
König und Knecht, als Hohenpriester und Opferlamm, „als den Sprecher und
als das Wort in einem und weist in alledem auf das Wort, dessen Fleisch-
werdung in Jesus von Nazareth das NT bezeugt" (63).

2. Jesus. Das NT gibt uns in dem Jesusnamen den aussprechbaren und
nachsprechbaren Namen des Bruders kund, der unser Heiland ist. Gott offenbart
sich selbst, indem der Christus, indem Oott dieser bestimmte einzelne
Mensch wird. „Jene Frage: Wie heißt Gott? findet im Evangelium die unerhörte
Antwort: Jesus von Nazareth!" (64). Der Doppelname Jesus Christus,
der Heiland, der Herr, ist die Summe der Christologie, des christlichen Glaubensbekenntnisses
(70). Dieser Name sagt uns, wer und was Gott Ist (76). Name,
Person, Weg und Werk aber sind „unlöslich eins", so daß „ein jedes In dem
andern beschlossen und offenbart ist" (75).

Zweites Kapitel. Die Person. Das an Umfang und Inhalt gleich
gewaltige Kapitel enthält ein I. Hauptstück: „Die Menschwerdung Gottes"
und die erste Hälfte eines II. Hauptstückes: „Der Mittler".

I. Die Menschwerdung Gottes.

1. Ihr Grund. Sie hat ihren absoluten Grund im ewigen Ratschluß
des grundlosen Erbarmens Gottes. Jede anthropologische Nötigung zu Ihr
(Wahlverwandtschaft), aber auch jede ideell-theologische Spekulation (absolute
Potentialität Gottes), wird durch die Realität der Sünde unmöglich gemacht
. Menschwerdung heißt Fleischwerdung. Fleisch aber meint Sündeti-
fleisch, Todesfleisch, d.h. die vom Todesfluch seines Abfalls geschlagene
Existenz des Menschen ohne und wider Gott!" (84). Daß Gott sich selber in
dem Sohne, der von keiner Sünde wußte, zur Sünde machte unterstreicht
Freiheit wie Unbegreiflichkeit des göttlichen Liebens (88).

Ihren relativen Grund hat die Menschwerdung Oottes „Indem Elend des
zur Gottesgemeinschaft geschaffenen und bestimmten, von Gott abgefallene"