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Ausgabe:

1951

Spalte:

593-600

Autor/Hrsg.:

Smend, Friedrich

Titel/Untertitel:

Vom literarischen Ertrage des Bach-Gedenkjahres 1951

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Theologische Literaturzeitung 1951 Kr. 10

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einerseits und an das mancherlei Zauberwesen andererseits. Aber
das ist nur ein Beispiel.

Von derartigen Gedanken, zumal von ihrer kritischen
Verwendung, finden wir nun bei Goethe wenigstens in diesem
Briefwechsel kaum etwas. Denn gerade das bekannte, bereits
in einer Art Abschlußbrief (4. X. 1782) an Lavater stehende
Wort: „In unseres Vaters Apotheke sind viele Rezepte" beschreitet
diesen Weg nicht. Nach diesem Wort sind vielmehr
die, wie Goethe sagt, „tausendfältigen Religionen . . . tausendfache
Äußerungen einer Heilungskraft", die „die Natur (wofür
sie unseren Dank verdiene) „in die Existenz eines jeden
lebendigen Wesens gelegt hat, daß es sich, wenn es an dem
einen oder dem anderen Ende zerrissen wird, selbst wieder
heilen kann. Aber er macht nun eine Art Punkt mit Lavater
und meint, daß eben Goethes „Pflaster" bei Lavater nicht
..anschlage" und das von Lavater nicht bei Goethe1.

Goethe hat übrigens diesen Gedanken von der Funktion
der Religion als helfender Arznei nicht ad hoc, etwa um einen
Abschluß mit Lavater zu gewinnen, geprägt. Auch schon ein
viertel Jahr früher (Juli 1782) äußert er sich ähnlich und
nieint, man brauche „bei des Menschen täglicher Schwachheit
", um „den flachen Damm unseres Gemüts gegen die losrauschenden
Leidenschaften damit zu verstärken, um die
lockeren Wände und die gemachten Risse damit auszustopfen
und zu versichern", einen „Helden — einen Helfer, ein höheres
Ideal der Vollkommenheit". Es müsse „erhaben und menschlich
zugleich" sein. Das treffe auf Lavaters Christentum zu.

Damit tritt Goethe, wie mir scheint, auf den Boden
unserer Gesamtbeurteilung des Dissensus: Anthropologische
Ausgerichtetheit beider Standpunkte. Er fährt nämlich fort,
das hätten auch die „alten Heiden" schon gesagt. Ein solcher
„Beystand" sei für den Menschen, „der ihn braucht, göttlich".
Und so sei „Jesus Christus Lavaters menschlicher Gott". —

Diese Erörterung Goethes ist also die gedankliche Unterlage
für die „vielen Rezepte in unseres Vaters Apotheke". Der

') Sie müßten einmal, meint Goethe ebd., ihre „Glaubensbekenntnisse
in zwei Columnen nebeneinander setzen und darauf einen Friedens- und
Toleranzbund errichten". Er möchte, daß sie „bald einmal einander über diesen
Punkt kennen und in Ruhe lassen".

nähere Grund, weshalb u. E. auch sie nicht zureicht, ist
der, daß dabei bloß vom Individuum und von dem sittlichen
Bedürfnis gesprochen wird, das es seinem Ideal gegenüber
empfinde. Der Zusammenhang der Menschen untereinander
und die Zusammengehörigkeit der Menschheit in dem
eigentümlichen Gebilde, das ihre „Geschichte" heißt, ist dabei
verkannt. Wir meinen damit das Geheimnis dieser Geschichte
vor und bei Gott, von der die biblische Offenbarung redet.
Denn gegenüber den tausendfachen Wiederholungen in der
Natur und auch im geschichtlichen Leben, wie sie selbst in
das persönliche Leben hineinreichen, ist es die biblische Offenbarung
, die uns das rechte Licht für die dennoch einmalige
Gestalt der Wirklichkeit sein will. Auf Schöpfung, Sünde,
Schuld und auf ihr selbst, der Offenbarung, die in Jesus Christus
gipfelt, beruht diese Einmaligkeit. Die Offenbarung ist selber
Geschichte.

Schluß

Infolgedessen ist auch Goethes Abwehr des bloß einen
Individuums, von dem fälschlich alles Heil erwartet werde, —
zugunsten seiner Aristokratie von Offenbarungsträgern —, der
Sache gegenüber fehl am Platze. Und für die Sache ihm gegenüber
erglüht eben faktisch doch Lavater trotz seiner Eigenheiten
und seiner fraglichen Theorie. Wir würden also sagen:
Nicht unter dem Titel eines, auch nicht des einen „Individuums
", ist Jesus Christus zu denken, sondern in der Einheit
seines Lebens und Werkes als die Sprechstunde Gottes gleichsam
in der Weltgeschichte und als sein Eingriff in sie zur Erlösung
. Daß sowohl Gottes Dasein und sein Wirken nach dem
Reichtum seiner Gaben vielfältig spürbar ist, wird dadurch
nicht verneint, ist vielmehr Tatsache der Erfahrung. Sie weg-
theologisieren zu wollen, ist künstlich.

Damit dürfen wir für jetzt abschließen. Wo man Christus
dadurch zu ehren meint, daß man ihn vor alles als Apostroph
setzt, verkrampft sich der Sinn der Glaubensaussage, wie des
theologischen Begreifens. Wo wiederum das „Eins ist not"
nicht festgehalten wird, da geht das Verständnis für die Einmaligkeit
der Zeit, und damit der Geschichte, verloren, von
der das Evangelium die offenbarende Kunde ist.

Vom liierarischen Ertrage des Bach-Gedenkjahres

Von Friedrich Smend, Berlin

Wie schon der Titel dieses Aufsatzes besagt, will er weder eine vollständige
Übersicht über die Bach-Literatur des zurückliegenden Jahres bieten
(wer wäre bei der Fülle des Erschienenen dazu imstande I), noch in die Einzeldiskussion
über das in diesem Schrifttum Enthaltene eintreten. Das Ziel ist viel
bescheidener. Ich möchte auf eine Anzahl von Publikationen aufmerksam
machen, die ich als wertvollen Gewinn betrachte, und dies mein Urteil kurz begründen
. Die weitaus bedeutendste unter den vorliegenden Arbeiten, das „Thematisch
-systematische Verzeichnis" der Werke Bachs von Wolfgang Schmieder
ist schon früher gewürdigt worden (ThLZ 1951, 7, Sp.437). Zunächst ein
kurzes Verzeichnis der Veröffentlichungen, die ich im Auge habe:

A. Quellen und allgemeine Sammlungen

1. Bach, Johann Sebastian: Briefe. Gesamtausgabe, hrsg. im Auftrage
des Internationalen Musiker-Brief-Archives von Hedwig U. E. H. Müller von
Asow. 2., verm. Aufl. Regensburg: Gustav Bosse Verl. [1950]. 288 S., 8 Taf.
8° = Deutsche Musikbücherei Bd. I. Hlw. DM5.80.

2. Bach, Johann Sebastian: Documenta. Hrsg. durch die Niedersächsische
Staats- und Universitätsbibliothek von Wilhelm Martin Luther
zum Bachfest 1950 in Göttingen. Kassel, Basel: Bärenreiter-Verlag [1950J.
152 S. m. zahlr. Abb. 8°. Kart. DM 2.40.

3. Bach-GedetlkSChrift 1950. Im Auftrage der Internationalen Bach-
Gesellschaft hrsg. v. Karl Matthaei. Zürich: Atlantis Verl. [1950]. 216 S. 8°.
Lw. DM 14.—.

4. Bach-Probleme. Festschrift zur deutschen Bach-Feier Leipzig 1950.
Anläßlich der zweihundertsten Wiederkehr des Todestages von Johann
Sebastian Bach. Hrsg. v. Prof. Dr. Hans-Heinz Draeger und Dr.KarILaux im
Auftrage des Deutschen Bach-Ausschusses 1950. Leipzig: C. F. Peters [1950].
87 S., 9 Taf. 4°.

5. The Iittle Bach Book. Valparaiso (Indiana): Univ. Press [1950]. 8°.

6. Bach- Sondernummern derZeitschriften:

Musik und Kirche. Hrsg. v.Christhard Mahrenholz, Günther Ramin
u- Wolfgang Reimann. 20. Jahrg. 1950, H.2: Bach-Heft. Kassel, Basel:
Bärenreiter-Verl. 1950. S. 33—80 u. S. 17—31, 2 Taf. gr. 8°. Kart. DM 2.—.

Zeitschrift für Musik. Monatsschrift für eine stete geistige Erneuerung
der Musik. 111. Jahrg. H. 2 u. H. C |1. u. 2. Bach-Heft]. Regensburg:
Gustav Bosse Verl. 1950. S. 65—120 u. S. 289—344. gr. 8°. Einzelne«
DM 1.50, viertelj. DM 4.—.

Musica. Monatsschrift für alle Gebiete des Musiklebens. Hrsg. v. Dr.
Fred Hamel. Jahrg. 1950. S. 242—320 m. 14 Abb., 1 Beilage. H. 7/8. Kassel,
Basel: Bärenreiter-Verl. 1950. gr.8». DM 2.40.

Revue Internationale de Musique. No.8. Automne 1950. Paris:

G.Michel. 195 S., 5 Taf., 16 S. Mus. Suppl. 8°.

7. 27. Deutsches Bachfest der Neuen Bachgesellschaft 26.-30. Juli

verbunden mit der Deutschen Bachfeier 1950, der Musikwissenschaftl. Bachtagung
d. Ges. f. Musikforschung, Kiel u. d. Internationalen Bach-Preis Leipzig
1950. [Text von W. Neumann.] Leipzig: Breitkopf & Härtel. 88 S. 8°.

8. Festgabe zur Deutschen Bach-Feier, Leipzig 1950. Aniäßi.der
200. Wiederkehr des Todestages von Johann Sebastian Bach am 28. Juli 1950
überr. vom Dt. Bach-Ausschuß 1950. Bearb. von Dr. Karl Schönewolf u.
Karl-Heinz A. Tetzner. (Leipzig: Peters 1950.) 61 Taf. 4°.

9. Bachfest 1950 Göttingen 23.—30. Juli. Kassel: Bärenreiter-Druck
1950. 61 S. m. Abb. 8°.

10. Die Werke des Bach-Festes 1950. Erläuterungen zum Programm
hrsg. v. Rudolf Gerber mit Beiträgen von Alfred Dürr, Rudolph Stephan,
Helmut Walcha. Kassel, Basel: Bärenreiter-Verl. [1950]. COS., 1 Plan. 8°.
Kart. DM 1.— .

B. Reden zur allgemeinen Würdigung

1. Lilje, Hanns: Johann Sebastian Bach. Musik aus Glauben. Nürnberg
: Lätare-Verl. [1950]. 39 S. 8°. Lw. DM 2.50.

2. Gerstenberg, Walter: Zur Erkenntnis der Bachschen Musik.

Berlin, München: Duncker <& Humblot [1950]. 21 S. 8».

3. Hindemith, Paul: Johann Sebastian Bach. Ein verpflichtendes
Erbe. Mainz: B. Schott's Söhne 1950. 25 S. gr.8°.

C. Biographien

1. Terry, Charles Sanford: Johann Sebastian Bach. Eine Lebensgeschichte
. Mit einem Oeleitwort von Karl Straube. Berlin: Evang. Verlagsanstalt
(Lizenzausgabe des Insel-Verlages, Leipzig) [1950]. 248 S., 33 Taf.
2 Stammtaf. 8°. Lw. DM 9.75.

2. Paumgartner, Bernhard: Johann Sebastian Bach. Leben und
Werk. Bd. I: Bis zur Berufung nach Leipzig. Zürich, Freiburg/Br.: Atlantis
Verl. [1950]. 543 S. m. Notenbeisp., mehr.Taf., 1 Titelb. gr.8°. Lw.DM18.—