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Ausgabe:

1951 Nr. 6

Spalte:

369-372

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Thurneysen, Eduard

Titel/Untertitel:

Die Lehre von der Seelsorge 1951

Rezensent:

Rendtorff, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 6

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konnte und durfte, und Keller hat sich nicht getäuscht, wenn
j* trotz anfänglichem schmerzlichem Widerstreben Feuer-
Dachs Kritik dankbar als eine Befreiung zu innerlicher Wahr-

und als eine Erweckung zu echtem Dichtertum enip-
junden hat. Von daher begreifen wir auch, was Buri anschau-
hch schildert, Kellers heftige Ablehnung nicht nur gegen eine
lebensfremde gewaltsame Orthodoxie, sondern noch mehr
gegen eine innerlich unwahre, im Grunde verlogene neumodische
Art von Christlichkeit, die den Verlust der Substanz
<2m scllönen Redensarten verdecken will. Die letzte der
beldwyla-Novellen „Das verlorene Lachen" beschreibt das ja
außerordentlich anschaulich mit unbarmherziger Kritik. Uns
neute wird freilich nicht warm bei dieser Novelle. Der hier bedampfte
Gegner ist uns fremd geworden.

Mit Dank werden alle Leser von Buris Buch an die beiden
ersten Abschnitte des fünften und letzten Kapitels zurückdenken
. Ausgehend von einem kurzen Satz, den der Dichter
aut seinem Sterbebette gesagt hat, den auch C. F. Meyer gehört
hat: „Ich schulde, ich dulde", schildert er die tiefe Macht
IT 11 und des Gewissens sowohl in dem Dichter Gottfried
Heller wie in den nach dem Leben geschaffenen Gestalten
seiner Dichtung. Das ist wohl der wirksamste Gegenbeweis
gegen die Akertsche These.

Aber mir scheint, daß dieser große Dichter, nachdem ihm
Beuerbach den Bedürfnisglauben seiner Jugend zerbrochen
"atte, zu einer neuen höheren Gestalt christlichen Glaubens
nicht durchgedrungen ist; sondern so gewiß er allen pfäffischen
Atheismus ablelinte, zeitlebens ein Suchender geblieben ist.
Uie Auffassung von Buri, der ihn zu einem Urbild und Vorbild
wahrhaft protestantischer Frömmigkeit machen möchte, hat
mich nicht überzeugt. So leicht darf man doch den Verlust
des Glaubens an einen persönlichen Gott, der unsere Gebete
erhört und uns statt der natürlichen Unsterblichkeit in der
K-raft Jesu Christi ewiges Leben schenken will, nicht einschätzen
. Ich wundere mich, daß dieses am Ende des zweiten
Weltkrieges geschriebene Buch sich mit dem Problem des
iodes innerlich so wenig Mühe macht, davon zu schweigen,
daß Keller wie Storm und lange Zeit auch Goethe sich mit
W-n ^ruzifixus nicht befreunden konnte. So dürfte wohl
Wilhelm Kahle in seiner „Geschichte der deutschen Dichtung
' (vgl. Sp. 365 ff.) eher das Richtige getroffen haben mit
feinem Urteil: „Keller vereinigt künstlerische Sinnlichkeit mit
emem sicheren Gefühl für die unbeugsame Strenge des ritt*
neuen Gebotes. So behält sein Werk eine Richtung ins Ideale,
wenn er auch zeitweise fast Materialist und scharfer Anti-
sr!fn* er war sPäter wifd er milder, er wahrt sich die ab-
. oiute Freiheit des Denkens, ohne tolerant zu sein. Er ist kein
Atlieist; nur kann er sich Gott nicht persönlich denken und
ndet so bei einer stillen wortlosen Frömmigkeit".

Hannover-Kleefeld Hermann Schuster

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Thurneysen, Eduard, Prof. d.: Die Lehre von der Seelsorge. München:

Chr. Kaiser 1948. 311 S. gr. 8". Hlw. DM 11.80.
~ Dasselbe. Zollikon-Zürich: Evang. Verlag 1946. 327 S. gr. 8 V

1907 erschien die 2. Auflage von H. A. Köstlin, Die Lehre
■von der Seelsorge. Es war der letzte Versuch, die gesamten
Aufgaben der Kirche und des Amtes unter dem Gesichtspunkt
der Seelsorge, d. h. der persönlichen Einwirkung von Person zu
£erson zu behandeln, wobei die „private Seelsorge" nur einen
feinen Raum einnimmt und sich auf Kranke, Gefangene, Gefährdete
beschränkt. 1950 schrieb Wolfgang Trillhaas sein
"Uch „Der Dienst der Kirche am Menschen", das zur ausgesprochenen
„Pastoraltheologie" zurückkehrt, d. h. die Lehre
^'pn der Seelsorge behandelt als „den unmittelbaren Hirtendienst
des Pastors an seiner Herde". Dazwischen liegt außer
Praktischen Handbüchern der Seelsorge (Blau, Asmussen,
«och, Riecker) zwar eine Fülle von Schriften von psychotherapeutischer
Seite und ein umfangreiches Kleinschrifttum
ai,s der pfarramtlichen Praxis, aber keine wissenschaftliche
Lehre von der Seelsorge. In diese Lücke tritt das Buch von
~y das schon 1946 in der Schweiz erschien und nun in einer
auch dem deutschen Leser zugänglichen Ausgabe vorliegt.
Energisch faßt T. das Problem ins Auge: Es fehlt im allgemeinen
eine theologische Begründung für die Notwendigkeit,
der Seelsorge als einer Verkündigung von Mann zu Mann in
ihrer Unterschiedenheit von der Verkündigung in Predigt und

Unterweisung. T. bemüht sich um eine solche Begründung,
indem er lutherische, pietistische und reformierte Auffassungen
der Seelsorge in ein Gespräch miteinander eintreten läßt. Für
lutherische Seelsorge (Luther, Klaus Harms, Löhe, Vilmar,
Asmussen u. a.) liegt alles Gewicht auf Wort und Sakrament;
wenn überhaupt Seelsorge als das Außerordentliche, dann
jedenfalls nur durch die Verkündigung des Wortes; auch wenn
der Einzelne angeredet wird, dann immer nur so, daß das Wort
Gottes als das große Gegenüber seine Alleingeltung behält.
Pietistische Seelsorge (Spener, Francke, Zinzendorf, Tersteegen,
Ludwig Hofacker u. a.) mit Hausbesuch, Einzelgespräch,
Pflege der Konventikel, Briefwechsel, Biographien verlegt den
Schwerpunkt auf die Erweckung und Bekehrung des einzelnen
Christen, der vor der Gemeinde da ist. Das objektive Wort
Gottes soll umgewandelt werden in die Subjektivität der
Frömmigkeit; das „Vermögen" des Menschen soll erweckt und
gepflegt werden, die persönliche Besitzergreifung des Wortes
Gottes zu vollziehen. Mit Notwendigkeit mußten so verstandene
lutherische und pietistische Seelsorge in Gegensatz
treten in der Ablehnung einer toten Orthodoxie von der einen,
in der Sorge um die Verdunkelung der Alleingeltung des
Wortes Gottes von der andern Seite. Die Frage ist, ob es eine
legitime Seelsorge geben kann, bei der das pietistische Anliegen
zu seinem Recht kommt, und die doch ihren Grund und
ihr Recht allein im Worte Gottes hat. Die vollgültige Antwort
sieht T. gegeben in der reformierten Auffassung der Seelsorge
als Kircheuzucht (Calvin, besonders institutio XII, 1; Bullinger
, zweite helvetische Konfession, Karl Barth u.a.). Die
Lehre Christi, also das Wort Gottes und seine Austeilung in
Wort und Sakrament sei nach Calvin die Seele der Kirche.
Aber diese ordentlichen Mittel genügen nicht. Nur wenn die
persönliche Einzelvermahnung hinzutritt, kann es zu einer in
sichtbarer Ordnung und möglichster Reinheit in Erscheinung
tretenden Gemeinde kommen. Mehrfach braucht T. das Bild
aufmarschierender Marschkolonnen: Durch Gottes Wort wird
aus einem wilden, ungeordneten Haufen ein wohlgeordnetes
marschierendes Heer; der Befehl geht aus vom Worte Gottes,
aber um es wirksam zu machen, bedarf es des Zuspruches, der
Anrede, der Zucht und Ermahnung an den Einzelnen. Auf
einem schmalen Gratweg mitten hindurch zwischen katholischer
und modern-spiritualistischer Kirchengestaltung sucht
Calvin den Weg zum Sichtbarwerden der Kirche in das wirkliche
Leben des von Wort und Sakrament gerufenen Menschen.
Dem eben dient die Kircheuzucht, die diseiplina. Die Kirche
wacht darüber, daß die vom Wort und Sakrament ausgehende
Kraft an den Gliedern der Kirche „wirklich wirksam wird".
„Sie kann es nicht dulden", daß Einzelne, die Glieder der
Kirche sind oder sein sollten, sich sozusagen wild herumtreiben
, d. h. ohne in der Ordnung der Gemeinde zu leben.
Sie richtet darum „Rückfragen" an den Einzelnen, indem sie
ihn zur Verantwortung ruft vor den Forderungen der von der
Gemeinde errichteten Ordnung. Durch den Begriff des „Zeichens
" will T. die Kirchenzucht abgrenzen sowohl gegen das
römische Bußsakrament wie gegen das Mißverständnis, als
könne die Kirchenzueht an sich die wahre Heiligung oder
Buße bewirken. Sieg, Sinn und Kraft der Gemeinde als der
geordneten Marschkolonne liegt allein im Worte Gottes, in
Jesus Christus selber, — aber die Sammlung um dieses Wort
kann nicht anders geschehen als so, daß eine Ordnung als
Zeichen in Erscheinung tritt und Beachtung fordert. In diesem
reformatorischeu Verständnis der Seelsorge sieht T. das Anliegen
lutherischer und pietistischer Seelsorge vereint. Sie ist
ein Mittel, „den Einzelnen zum Worte Gottes zu führen, ihn in
die Gemeinde einzugliedern und dabei zu erhalten. So verstanden
ist sie ein Akt der Heiligung und der Zucht, durch
den die Gemeinde in ihrer sichtbaren Gestalt erbaut und
lebendig erhalten und der Einzelne von seiner geistlichen Verwahrlosung
und Verderbnis gerettet und bewahrt wird".

Damit ist in dankenswerter Klarheit ein entscheidendes
Problem aller Seelsorge aufgedeckt: Wie verhalten sich die
objektive Dynamik des Wortes und die subjektive Hilfe zur
Verwirklichung ? Wie stehen zueinander die Gefahr nur lehrhafter
Orthodoxie und psychologistischen Abgleitens in den
Synergismus? Zu T.s Versuch, die reformatorische diseiplina
als die Lösung des Problems herauszustellen, müssen nun allerdings
eine Reihe von Fragen angemeldet werden, die auf
weitere Klärung drängen. Ist nicht schon rein geographisch
der Raum zu eng, wenn nur die westeuropäischen Bewegungen
lutherischer, pietistischer und reformatorischer Seelsorge ins
Auge gefaßt werden ? Es ergibt sich sofort eine Weitung und
Bereicherung des Bildes, wenn auch die typischen angelsächsischen
Formen ins Auge gefaßt werden, wie sie in den
Evangelisationsbewegungen auftreten, wo z. B. in der every
member visit eine Aktivierung aller Gemeindeglieder und gc-