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Ausgabe:

1951 Nr. 5

Spalte:

293-294

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Veit, Marie

Titel/Untertitel:

Die Auffassung von der Person Jesu im Urchristentum nach den neuesten Forschungen 1951

Rezensent:

Bornkamm, Günther

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 5

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verlaufend, man vergleiche etwa Matth. 19, 28. 26, 29, I.Theas.
4, 17. Die Wiederherstellung des göttlichen Urzustandes liegt
ebenso auf der Lüne diesseitigen Geschehens wie das, was sich
zwischen Ur- und Endzeit begibt. Daran ändert auch i.Kor.
15, 28 nichts, im Gegenteil, die dort erwartete Unterordnung
des Sohnes unter den Vater ist eben der gradlinige Abschluß
alles Vorangegangenen, der Schluß eines Kreislaufes, der in
der Urzeit begonnenen hat. Einen Gegensatz zwischen „Geschichte
" und dem, was dem „Ende aller Geschichte" folgt,
gibt es für antikes Denken nicht, da der Antike, insbesondere
dem rabbinischen Judentum, unser Begriff von Geschichte
fremd ist. „Ein diese Zeit und jede Zeit aufhebendes, durchstreichendes
Jetzt" mag modern-dialektisch gedacht sein, im
Evangelium findet sich von solchen Deduktionen keine Spur.
Dazu dürfte Rudolf Otto, Reich Gottes und Menschensohn,
S.38, das Nötige gesagt haben. Es gibt genug Stoffe in den
Evangelien, die sich keineswegs auf die Endsituation beziehen,
sondern Alltag und Dauer des Alltags voraussetzen (ebenda
S.47). Hierher dürfte auch die Exegese der vier letzten Bitten
des Vaterunsers gehören, die Kuhn nach den drei ersten
eschatologisch deutet: ihr eigentlicher Sinn dürfte doppeldeutig
sein — man denke wieder an das schon besprochene
Exiovoio; und ori/iegov nebeneinander und vergleiche dazu
Luk. 10, 42 und Joh.6, 48ff. —, wie es nicht nur der Situation
eines sukzessiven Heute und Morgen entspricht, sondern auch
derjenigen des Alltags und des ihn durchdringenden kultischen
Mysteriums, das wir ebenfalls für die urchristliche Gemeinde
voraussetzen müssen.

Wiesbaden Ernst Ludwig Dietrich

Veit, Marie: Die Auffassung von der Person Jesu im Urchristentum
nach den neuesten Forschungen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung
des Doktorgrades der Theol. Fakultät der Philipps-Universität Marburg.
Marburg: Druckerei Hermann Bauer 1946. VII, 114 S. 8».

Daß sich auf Grund der Evangelien keine Biographie
schreiben läßt, wird nach A. Schweitzers berühmter Darstellung
der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung heute nur
noch von wenigen bestritten. Die Aufgabe, aus dem in den
Evangelien gegebenen Glaubensbild der Gemeinde das Bild
des geschichtlichen Jesus zu erheben, ist damit freilich der
Forschung nicht abgenommen. Wie sie in der modernen Forschung
hi Angriff genommen und gelöst ist, zeigt Marie Veit
in der vorliegenden, durch Knappheit, Klarheit und kritischen
Sinn ausgezeichneten Arbeit. Das Ergebnis ist von einer beunruhigenden
Vielfalt. Dabei ist die Reihe der Auffassungen
von der Person Jesu, über welche die Verfasserin kritisch referiert
, noch in keiner Weise vollständig. Sie beschränkt sich auf
E. Lohmeyer, J. Schniewind, R. Otto, W. Grundmann und
R. Meyer. Lehrreich wäre eine entsprechende Darstellung etwa
für M. Dibelius und W. Kümmel, J. Jeremias und die Vertreter
der englischen Forschung wie Hoskyns, C. H. Dodd u. a. Dagegen
kommt die Auffassung R. Bultmanns und damit vor
allem auch die W. Wredes, der Bultmann treu geblieben ist,
indirekt zur Geltung; sie liefert zu dem Dargestellten in jedem
Falle das von der Verfasserin selbst vertretene Gegenbild.

In dem ersten, umfangreichsten Abschnitt behandelt die
Verfasserin Lohmeyers bekannten Versuch, aus den Evan-.
gehen eine doppelte Christologie zu rekonstruieren, deren erste
sich im Begriff des Menschensohnes, deren zweite sich im Begriff
des Messias zusammenfaßt.

Beide Konzeptionen werden zunächst gesondert untersucht. Dabei zeigt
sich, daß L. dem Begriff des Menschensohnes eine Art von Zweinaturenlehre
impliziert, die seinem Ursprung und Sinn fremd ist, und ein festes Schema in
die Einzelperikopen (vor allem Wundergeschichten, Einzellogien und Passionsgeschichte
) einträgt. Auch die Thesen Lohmeyers über die Herkunft des
Menschensohnbegriffes werden von der Verfasserin mit Nachdruck bestritten:
die Verwendung des Menschensohntitels als Selbstbezeichnung des historischen
Jesus und die These einer schon im späten Judentum vollzogenen Verknüpfung
von Menschensohn- und Gottesknechtsgedanken, die nach L. in den Kreisen
der Anawim vorgebildet und von der galiläischen Urgemeinde übernommen
und auf Jesus übertragen sei.

Die Bestreitung dieser Auffassung Lohmeyers erkennt dabei das Recht
der Sonderung verschiedener christologischer Strömungen durchaus an, sie
stellt nur das Recht in Frage, die verschiedenen Linien in die Idee des Menschensohnes
hineinzuzeichnen, diese einem national-religiösen Messiasgedanken
gegenüberzustellen und beiden Christologien ein bestimmtes historisches Fundament
in der galiläischen und jerusalemischen Urgemeinde zu geben. In Wahrheit
erkläre sich die Verschiedenheit der Motive daraus, daß Markus, nach L.
der Hauptzeuge der Menschensohn-Christologie, die Christologie des hellenistischen
Kerygmas mit der Tradition über die Geschichte Jesu vereinigt.

Die Kritik Lohmeyers wird erfreulicherweise nicht summarisch, sondern
in sorgfältiger Nachprüfung seiner Einzelexegesen durchgeführt, wobei schon
die Klarheit und Sicherheit, mit der die Verfasserin die vielfach verschlungenen

Gedanken L.s wiedergibt, ein beträchtliches Verdienst ist, wenn sie auch den
Gegenthesen, die im wesentlichen schon von Wrede und Bultmann entwickelt
sind, nicht eigentlich neue Argumente hinzuzufügen vermag.

Der zweite, J. Schniewind gewidmete Teil der Arbeit
behandelt zunächst das Verständnis des Messiasgeheimnisses,
das Schniewind in den Mittelpunkt der synoptischen Christologie
stellt, von Wrede dadurch unterschieden, daß er es
als den beherrschenden Wesenszug der Messianität Jesu überhaupt
versteht und in allen Perikopen und Logien ausgedrückt
findet. Es ist für ihn der Ausdruck des in Gebet und Glauben
sich äußernden Gehorsamsverhältnisses Jesu zum Vater.
Sehn, bestreitet von hier aus (zu Unrecht!), daß die Wunder
Beweise seiner Gottessohnschaft sein sollen; sie sind
nach ihm nur Ausdruck der Abhängigkeit und Demut
Jesu gegenüber Gott und des Verzichtes auf Geltung bei den
Menschen und seiner Herablassung zu den Niedrigen und
Armen. Diesem Sinn des Verhüllungsgedankens entspricht
nach Sehn, sein Zweck: er tendiert auf den Glauben, der allein
die Wunder in ihrem Sinn zu verstellen, in der Verhüllung den
Messias zu erkennen und in ihm den Anbruch der Gottesherr-
schaft zu sehen vermag.

Auch hier ergibt die Nachprüfung der Exegese im einzelnen, daß immer
wieder den Perikopen fremde Motive aufgenötigt oder unbetonte Züge zu Leitmotiven
gemacht werden. Die Problematik auch des von Sehn, gegebenen Jesusbildes
wird damit deutlich. Da Sehn, die zwar grundsätzlich anerkannte Differenzierung
von Tradition und Redaktion nicht wirklich methodisch durchführt
und kritisch im Sinne einer Differenzierung von Gemeindeglauben
und geschichtlichem Bild Jesu auswertet, bleibt auch setne eindrucksvoll vertretene
Auffassung der synoptischen Christologie, deren summarische Charakteristik
als „apologetisch-seelsorgerlich" mir freilich zu massiv erscheint, ohne
wirkliche Sicherung gegenüber Wrede und Bultmann.

Das wird in anderer Weise auch an R. Otto sichtbar, der
in seinem Buche „Reich Gottes und Menschensohn" den Versuch
macht, das messianische Selbstbewußtsein Jesu historisch
zu rekonstruieren — mit diesem Versuch erwies er sich
im Unterschied zu Sehn, als ein Spätling der Leben-Jesu-
Theologen. Daß dieser Versuch auf tönernen Füßen steht, weil
er auf einer unkritischen Quellenverwertung und einer fragwürdigen
, aus der Henoch-Apokalypse abgelesenen Menschen-
sohii-Christologie basiert, die Jesus veranlaßt haben soll, sich
als Menschensohn vor der Enthüllung seiner Macht zu verstehen
, wird von der Verfasserin nach dem Vorgang anderer
erneut gezeigt.

Als ein spätes und fragwürdiges Produkt der Leben-Jesu-
Forschung erweist sich vor allem W. Grundmanns Jesusbild
(„Die Gotteskindschaft in der Geschichte Jesu";,, Jesus der Gali-
läer und das Judentum"): Jesus als Träger eines neuen Gotteserlebnisses
, das im Gegensatz zu den ihm später aufoktroyierten
Menschensohn- und Messiasvorstellungen im Vater-
gedanken und in der Dienstbereitschaft seinen eigentlichen Inhalt
hat. Die Verfasserin zeigt, wie bei G. der Gottesbegriff Jesu,
der Sinn der Gottessohnschaft und die Anschauung vom
Reiche Gottes modernisiert werden und allzu deutlich die
Tendenz, Jesus in einen ausdrücklichen Gegensatz zum Judentum
zu stellen, auf Schritt und Tritt durchschlägt.

Den letzten Teil der Arbeit bildet das kritische Referat
über R.Meyers „Der Prophet in Galiläa" (1940): seine
Untersuchungen der verschiedenen in der Umwelt Jesu vorhandenen
und auf seine Person angewandten Prophetenvor-
stellungen (Jesus als ein Prophet, Jesus als der messianische
Prophet) und Meyers Versuch, in Abhebung von dem überlieferten
Prophetenbild das prophetische Selbstbewußtsein
Jesu herauszustellen, das in der Abstreifung der nationalen
Beschränkung, in der Verkündigung einer neuen universalen
Frömmigkeit, in der Erkenntnis der Heilsbedeutung seines
Todes und in der religiös-sittlich verstandenen Reich-Gottes-
Idee seine Eigenart haben soll. Mit Recht kritisiert die Verfasserin
an diesem Bilde die Überschätzung der Bedeutung
der Propheten Vorstellungen, die für die Gemeinde hinter dem
Menschensohn- und Messiasgedanken zurücktreten mußten,
und die auch bei Meyer charakteristische modernisierende und
psychologisierende Umdeutung von Jesu Selbstbewußtsein
und Reich-Gottesgedanken.

Die Leistung der Untersuchung M. Veits ist ohne Frage
die sorgfältige Kritik der von ihr behandelten Darstellungen.
Das ist bei dem gegenwärtigen Stand der Arbeit und der Un
bekümmertheit, mit der auf diesem Felde der Forschung so
leicht ungesicherte Hypothesen und Entwürfe gewagt werden,
nicht gering anzuschlagen. Es gelingt der Verfasserin freilich
nicht, neue Fragen und Aufgaben sichtbar zu machen und aus
dem fest umzäunten Gehege der von Wrede und Bultmann
bereits erarbeiteten Position hinaus- und weiterzuführen.

Heidelberg O. Bornkamm