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Ausgabe:

1950 Nr. 11

Spalte:

683-685

Kategorie:

Kirchenfragen der Gegenwart

Autor/Hrsg.:

Schempp, Paul

Titel/Untertitel:

Evangelische Selbstprüfung 1950

Rezensent:

Burgwitz, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 11

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diesem doppelten Dienst um deswillen besonders berufen, weil
er selbst sowohl der Bekennenden Kirche, wie der Gruppenbewegung
angehöre und gerade durch die Gaben der Gruppenbewegung
für seine innere Haltung innerhalb der B. K. nur
eine Bestätigung erfahren habe.

Ohne Zweifel enthält das Buch in all seinen vier Teilen
viel Beherzigungswertes. Verf. hat sicher recht, wenn er
es für die Kirche für fruchtbar hält, daß sie Spannungen in sich
erträgt, daß sie deshalb nicht von vornherein aus Angst vor
Schwärmerei sich allen Impulsen, wie sie vielleicht auch von
etwas übertriebenen Erweckungsbewegungen ausgehen könnten
, verschließt, daß sie auch auf der Kanzel die Stimme der
persönlichen Erfahrung in der Ichform nicht von vornherein
ablehnt, daß sie nicht aus Angst vor dem Perfektionismus
jeder ernsthaften Bemühung um Heiligung des Lebens, aus
Angst vor dem Methodismus jeder bewußten Einübung im
Christentum sich widersetzt. Auch der zweite Teil, der im
wesentlichen von dem Anliegen bestimmt ist, unter Verwertung
eben jener Gruppenbewegungserfahrungen das persönlich
-konkrete Ernstnehmen der Begegnung mit Wort und
Sakrament, mit den absoluten Forderungen Gottes, mit der
Bußforderung (wobei auf die persönliche Beichte und das
Wiedergutmachen ein großer Wert gelegt wird), die Pflege der
Stille vor Gott im Gebet zu betonen, enthält viel Beherzigenswertes
. Ebenso sind im dritten Teil, der die Frage der Seelsorge
besonders behandelt, viele feine Winke enthalten: es
spricht ein erfahrener Seelsorger, der eben gerade, weil er in
seinem Amt auf die Seelsorge viel Wert gelegt hat, viel Gewinn
aus der ja stark auf Seelsorge eingestellten Gruppenbewegung
gezogen hat. Was er schließlich im vierten Teil über
die Grenzen für das Wirken des Heiligen Geistes sagt, zeigt,
daß er durchaus um die Gefahren eines aktivistischen Optimismus
weiß.

Immerhin kann ich mich dem Eindruck nicht entziehen, daß der Verf.
bei seinem Bestreben, das Wirken des Geistes Gottes ernstzunehmen, in der
Gefahr steht, ins Kleinliche zu verfallen. Darin liegt doch wohl die eigentliche
Not der Gruppe, daß sie die Menschen dadurch, daß sie sie zum Aussprechen
ihrer Erlebnisse veranlaßt, in ihrem Ich sich allzu interessant werden läßt.
Die mancherlei Erlebnisse, die gerade etwa zum Kapitel der „Führung durch
den Geist" erzählt werden, sind für den Hörer oder Leser schwer erträglich,
sie versetzen ihn in eine Atmosphäre einer gewissen kleinlichen Erbaulichkeit.
Es zeigt sich doch wohl hier ein theologischer Mangel. Der Verf. operiert hier
mit dem Wort „Heiliger Geist" ziemlich unbesorgt, ohne sich die Frage vorzulegen
, worauf sich denn eigentlich in der Bibel das Wirken des Heiligen
Geistes bezieht. Es will glaubende Gemeinde, die den Weg zum Heil findet,
erwachsen lassen und in ihr zur Heiligung ihres Lebens wirksam werden.
Gewiß geht es dabei auch um die Verlebendigung jedes Einzelnen in der Gemeinde
. Aber das Einzel-Ich wird hier gerade aus seiner Kleinheit herausgeholt
und in den großen Zusammenhang der Gottesherrschaft in der Welt gestellt
. Die Methode der Gruppenbewegung aber scheint mir dadurch, daß sie
den Menschen veranlaßt, seine Ich-Erlebnisse als solche zur Schau zu stellen,
die Gefahr mit sich zu bringen, daß der Mensch in seinem Ich festgehalten
wird. Im übrigen bin ich der Meinung, daß auch das Operieren mit den „vier
Absoluten" nicht ganz ungefährlich ist. Es braucht wahrlich nicht zur Selbsterkenntnis
und damit zum Kreuz zu führen, sondern kann auch, vor allem,
wenn man veranlaßt wird, davon zu sprechen, wie gut es einem damit im
Leben gelingt, zu einer großen Selbstgefälligkeit führen.

Damit soll nicht gesagt werden, daß wir nicht allen
Grund haben, neben anderen heutigen kirchlichen Bewegungen
auch für die Gruppenbewegung dankbar zu sein. Demgemäß
wird man dem Verf., auch wenn man ihm in manchen Einzelheiten
nicht zu folgen vermag, doch für sein Buch im ganzen
von Herzen dankbar sein.

Heidelberg R. Hupfeld

Schempp, Paul: Evangelische Selbstprüfung. Beiträge und Berichte von
der gemeinsamen Arbeitstagung der Kirchlich-theologischen Sozietät in
Württemberg und der Gesellschaft für Evangelische Theologie, Sektion
Süddeutschland im Kurhaus Bad Boll vom 12. bis 16 Oktober 1946 hrsg.
Stuttgart: Kohlhammer 1947. 182 S. gr. 8". Kart. DM6.—.

Die wertvolle und inhaltreiche Schrift enthält sechs Vorträge
von verschiedenen Verfassern. Als Rahmen dient einleitend
eine Predigt des Herausgebers über Eph. 4, 1—6 wie
zum Schluß ein Nachwort und ein Bericht über den Verlauf
der Diskussion. Die Schrift gehört bei unserer schnellebigen
Zeit zu den wenigen, die auch nach den drei Jahren seit ihrem
Erscheinen nicht überholt, sondern geradezu noch stärker
aktuell geworden sind. Der klare Blick für die Wirklichkeit, der
allen Autoren gemeinsam ist, zeigt sich u. a. auch in der zutreffenden
Voraussicht und Einschätzung der Entwicklung,
wie sie inzwischen erfolgte.

Hermann Diem äußert sich über „die Problematik der
Konvention von Treysa", Gemeint ist die erste Zusammenkunft
vom August 1945-

Schon wenn in der Einleitung im Hinblick auf die dort verkündete
„wachsende Gemeinsamkeit" zwischen der BK und den im Amt befindlichen
Kirchenleitungen darauf hingewiesen wird, daß die entgegengesetzte Begründung
insofern zutreffender gewesen wäre, als bei den offiziellen kirchlichen
Stellen ein unüberwindliches Mißtrauen gegen die Organe der BK bestanden
habe, so erkennt man gleich hier, mit welcher Unbestechlichkeit und Nüchternheit
der unsichere Boden gezeigt wird, auf dem das Gebäude errichtet wurde.
Aus der Darstellung wird sehr deutlich, daß aus der so gewonnenen äußeren
Gemeinsamkeit mancherlei Schwierigkeiten und innere Divergenzen erwachsen
müssen, wie wir sie inzwischen auch erlebt haben. Verf. ist auch u. a. der beachtlichen
Meinung, daß die Bekenntnismäßigkeit des konfessionellen Luthertums
nicht unbestritten vorausgesetzt werden dürfe, sondern ernstlich zu prüfen
sei. Schon dieser erste Vortrag ist eine prophetische Stimme, deren Ruf unüber-
hörbar ist.

Solche Erwägungen werden dann in dem Referat von
Hans-Joachim Iwand über „die Neuordnung der Kirche und
die konfessionelle Frage" fortgesetzt.

Hier wird mit der Scheidung der Geister, die sich in Barmen vollzogen
hat, ernst gemacht. Es werden die echten Folgerungen aufgezeigt, die sich von
da her ergeben. Bei dem Gewicht der rechten Predigt vom Heile Gottes in
Jesus Christus stellt Verf. alles andere zurück, — sowohl die konfessionelle
Frage wie die Ordnungen der Kirche und ihre sonstigen Verflechtungen in das
Leben der Welt. Sehr eindringlich warnt er vor der Meinung, es stehe im Belieben
der einzelnen Landeskirche, mit oder ohne Barmen ihren Weg zu gehen,
weil der Kairos von Barmen nicht mehr vorhanden sei. Das sei die „Illusion
vom freien Raum". Da die Tendenz der reformatorischen Bekenntnisse im
Sinne des Evangeliums eine konvergierende und nicht eine divergierende sei,
könne die Kirche sinnvoll nicht mehr unter Zugrundelegung der konfessionellen
Unterscheidungslehren geordnet werden. Auch bei diesen Darlegungen
Iwands steht man immer wieder vor schlechthin überzeugenden Äußerungen,
die durch die jüngste Kirchengeschichte der letzten Zelt einfach als richtig
erwiesen sind.

In einem dritten Vortrag behandelt Hermann Diem
„Karl Barths Kritik am deutschen Luthertum".

Verf. macht den Versuch, in der kritischen Beleuchtung der Barthschen
Kritik zwischen Luthertum und Luther selbst wesentlich zu unterscheiden.
Er sieht, wie sich im Gegensatz zur Haltung Luthers das Luthertum der folgenden
Jahrhunderte in starkem Maße von der staatlichen Entwicklung abhängig
macht. Bei dieser letzteren fände eine Neutralisierung und schließlich Trennung
von der „Religion" statt; dieser Entwicklung sei das Luthertum ideologisch
insofern gefolgt, als es Gesetz und Evangelium voneinander losgerissen habe.
Das habe sich dann fortgesetzt in der weiteren Trennung zwischen Kerngemeinde
und christlicher Gesellschaft, wie auch zwischen dem einzelnen Gläubigen
und dem Staatsbürger. In der aber schließlich doch notwendig werdenden
Zusammenschau jener Aufspaltung im Sinne der „christlichen Persönlichkeit"
hätte sich dann ergeben, daß der Staatsbürger sich in christlichem Gehorsam
der Obrigkeit schlechthin unterordnete, während der Christ sich unter den
Übeln und Leiden der staatsbürgerlichen Situation dem Jenseits zuwendete
und dort seinen Trost suchte. — Als die entscheidende Frage stellt sich hier
heraus, wie das Miteinander von Gesetz und Evangelium im Rahmen persönlichen
Lebens legitim zu gestalten ist. Aus dem einzelnen an Gott gebundenen
Gewissen und der verantwortlichen Freiheit des Gehorsams auch im protestierenden
Widerstand oder aus einem neuen evangelischen Verständnis des
natürlichen Gesetzes? So etwa formuliert die Diskussion weiterführend und
ergänzend den Tatbestand. — Inzwischen ist die Barthsche Umstellung: Evangelium
und Gesetz stärker vorgetragen worden. Damit wurde die Gefahr
deutlich, die entsteht, wenn dieses Gedankengut aus dem Boden der Soterio-
Iogie in ethische oder politische Bereiche verpflanzt wird. Da kann es denn zu
jener extremen Meinung kommen (H. Diem), daß die Vorordnung des Gesetzes
vor dem Evangelium die Evangeliumspredigt verderbe. Weil dies
Thema nun aber einmal in die Soteriologie hineingehört, muß es bei der lutherischen
Ordnung: Gesetz und Evangelium bleiben, — sowohl zur Uberwindung
der natürlichen Theologie wie zur Abwehr aller Schwärmerei, weil allein auf
diesem schriftgemäßen Wege das Kreuz recht verkündigt werden kann.

Hier schließt sich dann Ernst Wolfs tiefgreifender Vortrag
„Zur Selbstkritik des Luthertums" an. Mit einer überlegenen
Beherrschung des Materials zeigt der Verf. in drei
großen Gedankengruppen erneut den Weg Luthers wie manchen
Irrweg lutherischer Entwicklung.

Die entscheidende falsche Weichenstellung sieht er in der lutherischen
Dreiständelehre, welche schon seit der Zeit der Orthodoxie die Einheit göttlicher
Ordnung in der Welt zerrissen habe. Damit gerät die Kirche in eine
Selbstisolierung, die sie bestenfalls zum Partner der anderen beiden „Stände'
macht. So würden wesentliche Gesichtspunkte des Neuen Testaments und
auch Luthers zurückgestellt, — etwa das Verständnis des Staates aus dem
Spannungsverhältnis von Rom. 13 und Apc. 13, das Evangelium mit seinem
uneingeschränkten Öffentlichkeitsauftrag im Sinne des aktivierten primus
usus legis, der ein politicus ist. Verf. kommt zu dem Ergebnis, daß die Kirche
den Gehorsam zu predigen hat, der die Welt ernst nimmt. Hier werde das
Ringen um Gerechtigkeit und Frieden zwar als menschliche Sehnsucht verstanden
, aber die Erfüllung in Oottes Hand gelegt. Das Referat bringt mit
der Richtigstellung der Aussagen Luthers die notwendige und bei der viel verzerrten
Darstellung einer romantisch-Idealistischen Luthertradition zeltgemäße