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Ausgabe:

1950 Nr. 7

Spalte:

393-400

Autor/Hrsg.:

Lindeskog, Gösta

Titel/Untertitel:

Zwei Hauptfragen in der modernen schwedischen Exegetik 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 7

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Zwei Hauptfragen in der modernen schwedischen Exegetik

Von Gösta Lindeskog, Uppsala

Schweden blieb von den Greueln des zweiten Weltkrieges
Verschont. Das bedeutete auch, daß die Arbeit der Universitäten
ziemlich ungestört fortgesetzt werden konnte und daß
die Wissenschaft vor allem keine schmerzlichen Verluste an
Arbeitskraft erlitt. Man kann auch behaupten, daß die schwedische
Theologie in den letzten Jahrzehuten auch sonst besonders
priviligiert war. Hervorragende Wissenschaftler sammelten
um sich immer wachsende Schülerkreise, neue Ideen
wurden ins Feld geführt, eine Menge von umfassenden und
grundlichen Doktorarbeiten und Habilitationsschriften erschienen
, und die Stellung der theologischen Forschung in der
Kirche und im allgemeinen Kulturleben war erfreulich stark.

Nach außen gesehen war Schweden früher Hauptsächlich
auf die deutsche Theologie verwiesen — aus natürlichen Gründen
. An den deutschen Universitäten haben viele von den
leitenden schwedischen Theologen studiert, und die Verbindungen
mit den deutschen Kollegen war sehr rege. Diese Verbindungen
sind nie unterbrochen worden. Sogar während des
Krieges und vor allem in der Nachkriegszeit kamen viele von
den führenden deutschen Theologen nach Schweden als Gast-
vorleser. Einige blieben hier für iängere Zeit, und das war für
uns, die wir natürlich auch unter der Isolierung gelitten
Hatten, besonders wertvoll.

. Hinzu kommt nun auch, daß die Verbindungen mit England
und Amerika gestärkt worden sind. Die schwedische
systematische Theologie hat in Amerika Eingang gefunden:
Gustaf Aulen und Anders Nygren gehören dort zu den
meist geschätzten. Im Austausch hat die religionsgeschicht-
Hclie und alttestamentliche Forschung in Uppsala starke Anregungen
von den Angelsachsen empfangen und ihrerseits die
neuen Ideen derart angewandt, daß sie mit eigenen Produkten
das Importierte ausgleichen können. Ich denke an Forscher
wie den Religionsgeschichtler Geo Widengren und den Alt-
testamentler Ivan Engneil. Es gehört zur Sache, daß die
schwedische theologische Literatur nicht mehr nur oder fast
ausschließlich auf deutsch, sondern auch auf englisch geschrieben
wird.

In der ,,Theologischen Rundschau" werde ich bald eine
laiigere Ubersicht über die nordische neutestamentliche Literatur
für die Jahre 1939—1949 veröffentlichen. Wenn ich nun
damit beauftragt worden bin — was mir eine besondere Ehre
~~- etwas für die Theologische Literaturzeitung über die
schwedische neutestamentliche Forschung zusammenfassend
berichten, so greife ich — um Wiederholungen zu vermeiden
H rf11 Paar Fragen heraus, die jetzt besonders lebhaft diskutiert
werden, die aber ihrer Art nach nicht vollständig in der
'teratur studiert werden können, weil sie noch zum Teil in
"ufr ftündlichen Tradition" in Bearbeitung sind. Sie sind
aktuell nicht nur für den begrenzten Kreis der Fachleute, sondern
sie vereinen sämtliche Theologen zu einer gemeinsamen
Aufgabe, em er Auf gäbe, die auch gestellt wird von d er Kirche und
der Laienwelt. Wij befinden uns hier mitten im Leben und stehen
" or emer Problematik, die gewiß nicht nur bei uns, sondern in der
ganzen protestantischen Christenheit brennend ist. Es handelt
sich nämlich eben um die Kirche und um die Bibel. Zu den
notigen ,,inside informations" gehört auch die Vorbemerkung,
daß Theologen aus den Universitäten zu Uppsala und Lund
bei verschiedenen Gelegenheiten zu speziellen Konferenzen
zuj?amniengekommen sind, wo sie in der Form der „Tischreden
" die Fragen besprochen haben. Als literarische Ergebnisse
— denn es handelt sich nicht nur um mündliche Tradition,
aucli wenn sie für uns Exegeten besonders wertvoll ist — sind
U- a. drei Bücher erschienen, aus denen wir im Folgenden
einiges herausgreifen wollen. Sie heißen: ,,En bok 0111 kyrkan
d'•S^ enska teologer" (Ein Buch über die Kirche von schwedischen
Theologen), 1942, „Den nya kyrkosynen" (Das neue
Verständnis von der Kirche), 1945, und „En bok 0111 Bibeln"
(bin Buch über die Bibel), 1947.

. Wenn man eine Darstellung über die orthodoxe Kirche
studiert, z. B. Serge Boulgakoff, L'Orthodoxie (1932), fin-
d man' daß sie mit der Kirche anfängt. Daraus kann man
Qie Rolle, welche das Kirchenverstäudnis für diesen Teil der
hfinstenheit spielt, leicht ersehen: „Die Kirche ist ein Werk der
<lenschwerdung Christi, ja, sie ist diese Menschwerdung: Gott
P ™,lert sich mit der menschlichen Natur, und die menschliche
Natur assimiliert sich mit der göttlichen; es ist die Deifi-
Kation (dtcootg), eine Folge der Vereinigung der beiden Naturen
Christi". Das ist für die orthodoxe Kirche charakteristisch
. Das Gleiche ist es in der römischen Kirche: die Kirche
ist das Zentraldogma. Wir können als ein neues Beispiel Viktor
Warnach, Die Kirche als leibgewordene Christusagape (Gloria
Dei 1948/49, S. 36f.) anführen: „Die Kirche ist aber nicht
nur die Christussphäre, sondern in einem bestimmten Sinne
Christus selbst oder, wie die spätere Theologie sagt, der
.fortlebende Christus'. Sie ist eben der erhöhte Herr, wie er
als Pncuma und durch sein Pneuma in den an ihn Glaubenden
und damit in der geschichtlichen Wirklichkeit weiterlebt".

Die protestantische Welt ist an diesem Punkt lange Zeit
relativ wortkarg gewesen. Jetzt ist ein Umschwung spürbar.
Das Problem, das in der letzten Zeit unter schwedischen Theologen
in höchstem Grade die Aufmerksamkeit in Anspruch genommen
hat, ist eben die Kirche. Unter denjenigen, welche vor
allem bei uns dieses Problem, wie es im NT vorliegt, mit großer
Energie angegriffen haben, ist Anton Fridrichsen. Durch
seinen Unterricht und seine Schriften sind manche wissenschaftlich
arbeitende Theologen auf das Gebiet der Ekklesio-
logie geführt worden. Fridrichsen hat gelegentlich gesagt, daß
die Entdeckung der Rolle der Kirche im Urchristentum eines
der größten Ereignisse innerhalb der Exegetik unserer Generation
sei.

Das Interessante ist nun, daß vor allem auf diesem Gebiet
die exegetische und systematische Theologie nicht nur
aufeinander gestoßen sind, sondern auch eine Arbeitsgemeinschaft
etabliert haben. Aber noch mehr. Die kirchlichen Er-
neuerungsbestrebuugen, welche jetzt in Schweden aktuell
sind, haben durch die exegetische und systematische Forschung
ihre Positionen befestigt und theologisch-wissenschaftlich begründet
gefunden.

Die Diskussion auf dem exegetischen und systematischen
Gebiet ist keineswegs abgeschlossen, die Begriffe haben noch
nicht genügende Evidenz und Klarheit gewonnen, aber man
kann doch die Intentionen und die Tendenzen deutlich erkennen
. So ist es wenigstens der Fall mit dem oben erwähnten
Buch „Den nya kyrkosynen", einer Sammlung von Vorträgen
von Yngve Brilioth, Anton Fridrichsen, Ivar Hylander,
Rüben Josefson und Anders Nygren.

Es war seinerzeit in dem protestantischen Lager gang
und gäbe, in Jesus den Großen Einsamen zu sehen, der seine
Botschaft brachte, ohne daran zu denken, eine neue Gemeinschaft
zu schaffen oder eine Religion zu stiften. Das Christentum
und die Kirche waren nicht seine Schöpfungen; eher
könnte man sagen, daß sie entgegen seiner tiefsten Intention
entstanden, sogar durch ein Mißverständnis von dem, was er
beabsichtigte und meinte. Man kann wohl jetzt behaupten,
daß die Forschung sehr gute Gründe für ihre These hat, daß
Jesus der Kirchengründer im gewissen Sinne genannt werden
kann. Das bedeutet in der Tat, daß man zu der altkirchlichen
Auffassung zurückkehrt (vgl. z. B. Cyprianus, Ep. 70, 3). Es
gibt zwar keine direkten Aussagen darüber in den Synoptikern
, wenn mau die umstrittene Primatstelle Matth. 16, 18
ausnimmt. Aber die Sache ist in der Regel vor dem Begriff
da, und man kann auf Worte und Handlungen von Jesus hinweisen
, die dafür sprechen, daß er in irgendeinem Sinne eine
Gemeinde zu gründen beabsichtigte, z. B. die Jüngerberufuug
und die Einsetzung des Abendmahles. Und das Wichtigste von
allem: wenn die Forschung von heute immer einstimmiger betont
, daß Jesus von dem Bewußtsein einer messianischen Berufung
getragen wurde, dann hat man damit den wichtigsten
Beweis für die These von seiner Kirchengründung festgestellt.
Der Messias war keine Privatperson, hat man treffend gesagt.
Der Messias kann nicht ohne den alttestamentlichen Volksgedanken
verstanden werden.

Wenn man zufälligerweise von der „Kirche" im AT
spricht, so mißbraucht man ohne Zweifel den Begriff, der
leider bei uns modernen Christen durch unsere kirchlichen
Traditionen schwer belastet ist und ungebührende Assoziationen
in sich trägt, wenn wir uns an die urchristliche Literatur
wenden und das dort vorkommende Wort t'xxAiym'a mit
„Kirche" übersetzen. Die „Kirche" ist doch, um zum AT zurückzukehren
, ein spezifisch neutestamentlieher und christlicher
Begriff, wie „Synagoge" genuin jüdisch ist. Aber — und
das gehört auch mit zu der charakteristischen Betrachtungsweise
der modernen Exegetik — es gibt im AT eben einen
messianischen Volksgedanken, dessen Interpretation Licht
auf Jesu eigene Konzeption des Kirchengedankens wirft. Wir
begegnen im AT der wichtigen Vorstellung von der Einheit