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Ausgabe:

1949 Nr. 3

Spalte:

150-151

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pauli, Richard

Titel/Untertitel:

Das Wesen der Religion 1949

Rezensent:

Hermann, Rudolf

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149

Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 3

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im Ernst glauben, daß Elischa' ben Abujah an einem Versöhnungstage
, der noch dazu auf den Sabbath fiel, in provozierender
Weise durch die Straßen Jerusalems geritten sei
(s- 73) ? Wo steht das, daß bei der Proselytentaufe der Getaufte
unmittelbar nach der Immersion einen Trank erhielt
(S. 121)? In Summa: das Problem „Paulus und das rabbi-
nische Judentum" ist mit D.s Arbeit noch nicht gelöst. Um
eine solide Basis zu haben, müßte von einer sorgfältigen Darstellung
der hillelitisch-gamalielischen Theologie ausgegangen
werden und deren Nachwirkung am paulinischen Schrifttum
nachgewiesen werden. Dieser methodische Weg ist ergiebig und
hat den Vorzug, daß er der Forderung genügt: wir brauchen
ideengeschichtlich nicht Analogien, sondern Genealogien!

Aber es ist nun auf der anderen Seite doch auch Positives
zu sagen. Namentlich das vorletzte Kapitel „Der alte und der
neue Gehorsam: Der Tod Jesu" (S. 227 ff.) ist hier zu nennen.
Der Verf. unterscheidet hier 1. zwischen Gedankengängen, die
an die traditionelle Deutung des Todes Jesu im Urchristentum
anknüpfen (Opfergedanke: llaoxr()iov, näo%a) und 2.
solchen Gedankengängen, die für Paulus selbst zentrale Bedeutung
hatten (Gehorsamstat des Gottesknechtes), und er
zeigt richtig, wie beide Gedankengänge nur von dem spät-
jüdischen Hintergrunde aus zu verstehen sind. In diesem Zusammenhang
wirft D. am Schluß des Kapitels die Frage
auf, ob der Gedanke eines Leidenden Messias auf Jesus selbst
zurückgehe oder älter sei. Kannte das Spätjudentum den
Leidenden Messias ? Manches scheint dagegen zu sprechen, vor
allem die Anstößigkeit, die nach Ausweis des Neuen Testamentes
dieser Gedanke für das zeitgenössische Judentum besaß
. Aber dem stehen andere schwerwiegende Erwägungen
gegenüber. Auch wenn man von zweifelhaften Argumenten
absieht (sterbender Messias ben Joseph, Taxo der Ass. Mosis),
so bleibt doch von Bedeutung: 1. daß im äthiopischen Henoch
die Gestalten des Menschensohnes und des Gottesknechtes verschmolzen
sind, 2. daß Trypho in Justins Dial. c. Tryphone
betont, daß das Leiden des Messias unzweideutig von der
Schrift angekündigt werde und daß das wohlbekannt sei, und
3- daß talmudische Belege des 3. Jahrhunderts Jes. 53 mes-
sianisch deuten (der aussätzige Messias vor den Toren Roms
usw.). Aus alledem folgert D. in vorsichtiger Formulierung, daß
..die Annahme wenigstens möglich ist, daß die Vorstellung
eines Leidenden Messias dem vorchristlichen Judentum nicht
unvertraut war" (S. 283). Die Anstößigkeit der Kreuzesbotschaft
ist kein Einwand hiergegen: nicht der Tod des Messias
an sich war das Anstößige, sondern die Art dieses Todes: der
Gekreuzigte ist cheräm, die Kreuzigung bedeutet den Ausschluß
aus dem Gottesvolk. Das war das Skandalon. Mit
diesen Erwägungen ist, so würde ich meinen, ein für die Frage
nach der Geschichtlichkeit der Leidensankündigung Jesu überaus
wichtiger Tatbestand klar und besonnen dargestellt.

Auch das Schlußkapitel „Die alte und die neue Hoffnung:
Auferstehung" (S. 285 ff.) verdient Erwähnung. D. gibt hier
zunächst einen Aufriß der paulinischen Eschatologie, in dem er
leugnet, daß der Apostel Chiliast war. Gegen die weitverbreitete
, vor allem durch A.Schweitzers Arbeiten eingebürgerte
Erklärung von 1. Kor. 15, 23 ff., daß zwischen der Parusie
(V. 23) und dem Telos (V. 24) das Christenreich liege, daß also
das Ära (V. 24) einen längeren Zeitraum umschließe, führt D.
an: der einzige Text, der explicit von der ßaadiia rov %oiotov
redet, ist Kol. 1, 12 f. — und hier wird die Christusherrschaft
als gegenwärtige Größe betrachtet. Sie hat also mit der Auferstehung
begonnen, und die Parusie bezeichnet nicht ihren
Anfang, sondern ihr Ende (S. 296).

Abschließend seien noch einzelne Einzelbeobachtungen D.s
niit Zustimmung notiert. S. 3: Die rabbinischen Quellen spiegeln
den Sieg der Richtung des Jochanan ben Zakkai wider,
d.h. bringen nur pharisäische Ansichten; gegnerische Parteien
, Bewegungen, Meinungen wurden ausgeschlossen. (Diese
Feststellung ist deshalb wichtig, weil sie eine Mahnung ist, das
argumentum e silentio, z. B. in der Frage des Leidenden
Messias, nur mit äußerster Vorsicht anzuwenden.) — S. 24 ff.:
J'Iit 13 Jahren wird der jüdische Knabe bar micwa; bis dahin
"at der Mensch nur den jecer hara', ist aber nicht verantwortlich
; der jecer hara' umfaßt vor allem die sexuelle Begierde;
mit 13 Jahren beginnt der Kampf zwischen den beiden Trieben.
Das ist der Hintergrund dessen, was Paulus Rm. 7, 7 ff. als
Erlebnis seiner Jugendzeit beschreibt. — S. 28: Test. Naphth.
3. 2 f. wird gesagt, daß die „Veränderung der Ordnung" durch
die Anbetung von Holz und Stein statt Gottes die sodonii-
tische „Änderung der Natur" nach sich zieht — eine frappierende
Parallele zu Rm. I, 25—27 (fiexi'iXlaiav xijv tHrjVetav rov
"■«oü lv xiö yevSet [Götze] / fterr)X).alav rrv fvaix^r y.oijotv eis
T^»' nuoii ipvmv), auf die bisher noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit
gelenkt worden ist. — S. 273: Die Aussagen über

die stellvertretende Kraft des Gehorsams und des Todes Jesu
fußen auf Vorstellungen über die Solidarität der Gottesgemeinde
, wie sie z. B. die Lehre vom stellvertretenden Verdienst
der Väter zum Ausdruck bringt. — S. 274: Phil. 2, 6.
8. 9. 10 finden sich lauter Bezugnahmen auf Jes. 53. —
S. 306 f.: Die „Verwandlung" 1. Kor. 15, 51 f. ist nicht als
hellenistische Vorstellung zu betrachten; sie ist vielmehr der
jüdischen Apokalyptik wohl vertraut, vgl. syr. Bar. 51, 10,
wo von den Auferstandenen gesagt wird, daß sie den Engeln
und den Sternen gleichgemacht werden sollen und verwandelt
werden

„in jede Gestalt, die sie wünschen,
von Schönheit bis zu Lieblichkeit
und von Licht bis zu Strahlenglanz",
ööttingen Joachim Jeremias

PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Pauli, Richard: DasWesen der Religion. Eine Einführung in die Religionsphilosophie
. München: Paul Müller [1947]. 147 S. kl. 8»= Christentum und
Geistesleben Bd. 1. Kart. DM3.50.

Eine kleine, aber recht gehaltreiche Schrift des Münchener
Psychologen. Eine Schulung zugleich in sauberer
Methodik und ein Vorbild für klare und verständliche Ausdrucksweise
. Der Verf. tritt gegen die Intellektualisierung der
Religion und zugleich für ihre Zusammengehörigkeit mit der
Philosophie in die Schranken. Rechte Philosophie erkenne
eben die unableitbare „irrationale" Eigenheit der Religion an.

Diese versteht sich selbst ihrem „Wesen" nach als Gottes-
und Nächstenliebe, wie das, nach der Methode der „ausgezeichneten
Fälle", an griechischen, chinesischen, persischen
und indischen Quellen aufgewiesen, aber an der Person Jesu
Christi als einzigartig vollkommener und in einmaliger Weise
verwirklichter Darstellung vom Verf. ausführlich bezeugt
wird. Mit Eindringlichkeit und Liebe kommt er insbesondere
auf das Vaterunser, den Gebetskampf in Gethsemane und die
Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin zu sprechen; —
und er läßt es sich angelegen sein, die Höhe sowohl wie die
praktische Gestalt des Doppelgebotes von der Liebe zugleich
mit der grundlegenden Bedeutung der Sündenvergebung zu
verbinden. Hier findet er auch die Einzigartigkeit des Christentums
in der religionsgeschichtlichen Welt.

Trägt, zumal im Gebet und unter dem Eindruck der
Person Christi, die Religion Offenbarungscharakter in sich,
so wird ihr durch die Philosophie bestätigt, daß ihr nicht mit
Sinn widersprochen werden kann. Der Verf. durchläuft die
Gottesbeweise und wertet sie, wenn auch nicht als Be-, so doch
als Hinweise und als Wahrscheinlichkeitsquellen, die hohe und
höchste Gewißheit verbürgen. Der scheinbar verwirrenden
Vielfalt der vorhandenen Definitionen vom „Wesen der Religion
" sucht er durch Aufzeigung der Gründe Herr zu werden,
die zu solcher Vielfältigkeit führen.

Daß schließlich die Anstöße, die an den Verwirklichungsformen
der positiven geschichtlichen Religionen und Konfessionen
faktisch nun einmal genommen werden, das Wesen
der Religion und die Offenbarung in Christus nicht verdunkeln
möchten, ist ihm ein, freilich in Breite nicht mehr
ausgeführtes, persönliches Anliegen seiner Arbeit. Als bewußter
Protestant und damit als Anhänger der „offenen"
Form des Christentums gegenüber dem „geschlossenen"
System des Katholizismus, ist er Lobredner, nicht Tadler,
sowohl der mannigfachen Ausgeprägtheit des Protestantismus
, wie auch der, sonst in der Rehgionsgeschichte unerhörten,
freien und wissenschaftlichen Untersuchung der schriftlichen
Glaubensquellen der Religion. Gleichwohl will er die Unterschiede
der Konfessionen nicht überschätzt wissen, und findet
auch im Katholizismus, für den die Betonung des „äußerlich-
sinnlichen Elementes" charakteristisch ist, den „eigentlichen
Kern der Religion", die Gottes- und Nächstenliebe „mit ihren
letzten Folgerungen", durchaus gewahrt. — Am „Ende der
Entwicklung" steht dem Verf., mit Tolstoi und Rolland, ein
„Christentum ohne Dogmen und Wunder". Die „Religion
Jesu in reiner Form" ist ihm „ein Evangelium nicht so sehr
des Wortes und des Glaubens als vielmehr der Gesinnung und
der Tat: Näher mein Gott zu Dir, näher zu Dir".

Paulis Buch ist ein Lebensbekenntnis, vorgetragen mit
alldringlichem religiösen Ernst und zugleich aus reifer philosophischer
Bildung und aus geistiger Weite heraus. Gewiß
könnte man im Ganzen wie im Einzelnen in Disput mit dem
Verf. treten, so über die Einschätzung von „Wort und Glaube",
so auch über den Wahrscheinlichkeitscharakter des kosmo-
logischen Gottesbeweises oder über die Zweckmäßigkeit der
am Schluß zusammengestellten 150 Zitate zum Religions-