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Ausgabe:

1949 Nr. 12

Spalte:

713-724

Autor/Hrsg.:

Schneider, Johannes Ferdinand

Titel/Untertitel:

Das Neue Testament und die menschliche Existenz 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 12

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digna praeparatione cordis pro suscipiendo sacramento eucha-
ristiae von 1518 (WA 1, 333)- Luther redet dort zu einem, der
gar zu schwach im Glauben ist; ihm rät er: laß dich wie ein
Kind tragen im Arm und Schoß der Mutter Kirche, ja mit dem
Gichtbrüchigen im Bettlein, daß der Herr ihren Glauben
wenigstens ansehe, wenn deiner nichts ist. Er berufe sich vor
dem Herrn Jesus Christus auf den Glauben entweder der
ganzen christlichen Kirche oder eines einzelnen ihm bekannten
Christen. Es darf gewiß sein: der Glaube der Kirche wird ihn
nicht verloren gehen lassen, „ebensowenig wie das kleine Kind,
das durch das Verdienst fremden Glaubens getauft und selig
wird". Die Gestalt dieses Gedankens vom stellvertretenden
Glauben bei Luther zeigt noch römische Züge (s. den Begriff
Verdienst, aber auch anderes im Texte, den wir hier nur abgekürzt
wiedergeben), aber er selbst besteht vor dem Evangelium
. Es ist ein schöner Konsensus und eine Bestätigung für
das biblische Recht des Gedankens, daß auch ein Exeget wie
Theo Preiß (in dieser Zeitschrift 1948, Sp. 656), wohl ohne den
Passus bei Luther zu kennen, auf die gleiche Stelle in der
Perikope vom Paralytischen hinweist, auf die Luther sich bezieht
: ,,Da nun Jesus ihren Glauben sah..." (Mt. 9, 2).
Preiß bemerkt: manchmal ..schafft Jesus ein Zeichen des neuen
Lebens und vergibt die Sünden . . . nicht auf den Glauben
dessen hin, um den es geht, sondern auf den Glauben seiner
Nächsten hin" (wobei der Herr gewiß darauf hinzielt, daß der
geheilte Kranke nachher selber glaubt — aber die Tat Christi
an ihm geht seinem Glauben vorauf). Vor Jesus Christus gilt
also doch auch Stellvertretung im Glauben, stellvertretendes
Glauben — man muß sich wundern, daß Karl Barth hierüber
mit einer schnellen Bemerkung hinweggellen kann: er will nur
den stellvertretenden Glauben Christi für uns gelten lassen
(S. 3}). Aber will Christus mit seinem Stellvertreten nicht
aucirin dem Eintreten seiner Glieder füreinander gegenwärtig
sein ? Luther hat es so angesehen. Freilich — ebenso wie die
Stellvertretung Christi für uns alle, so zielt unsere, eines für
den anderen, hin auf die eigene Lebendigkeit des Vertretenen.
Also in unserem Falle: der Glaube derer, die das Kind zur
Taufe bringen, will und soll und darf, indem er an Stelle des
noch nicht glaubenden Kindes steht, dessen künftigen eigenen
Glauben zugleich verbürgen, auf ihn hinwirken, das Kind in
den Glauben des „Hauses" hineinziehen. Ist das Kind zuerst
vom Glauben des Hauses, das vor Gott steht, umschlossen und
getragen, so soll aus eben diesem Verhältnis heraus des heranwachsenden
Kindes eigener persönlicher Glaube wachsen. Erst
wenn das geschieht, hat die KT ihre persönliche Ganzheit gefunden
.

Die Kirche Christi ist voll von solchen Verhältnissen der
Stellvertretung. Der Fall der KT steht durchaus nicht einsam
da, wenn auch als ein Äußerstes dessen, was auch sonst in
der Kirche geschieht.

5. Die Praxis der Kindertaufe.

Das Recht der KT hängt — so hat alles Bisherige gezeigt
— an dem Gegebensein des christlichen Oikos, also an dem
Darbringen der Kinder durch die Eltern und Paten, an ihrem
und der Gemeinde Bekenntnis, das die Kinder stellvertretend
umschließt, an ihrem Willen, den Sinn der Stellvertretung als
Bürgschaft, als Verantwortung für die Hinführung des Kindes
zum Glauben an Christus zu erfüllen. Damit ist zugleich die
Grenze bezeichnet für das Recht — nicht der KT als solcher,
sondern ihres Vollzuges im konkreten Falle. Wie ernst es in
dieser Hinsicht in unseren Ländern und Kirchengebieten seit
langem steht, bedarf keines Wortes. Die Kirchen werden ihre
Taufpraxis überprüfen und wahrscheinlich vielfach ändern
müssen, weil die Voraussetzungen für eine wahrhaftige Übung
der KT weithin verloren gegangen sind. Neben die KT muß,
gewiß in je nach der Lage in den einzelnen Ländern und Kirchen
verschiedenem Maße, die Katechumenentaufe treten.
Neben sie — denn niemals wird sie die KT ganz ersetzen und
verdrängen dürfen. Die jetzige Taufnot der Kirchen ist eine
Frage, die nicht die Dogmatik, sondern die praktische Theologie
und die Leitung der Kirchen und Gemeinden angeht. Sie
ändert nichts an dem grundsätzlichen evangelischen Rechte,
der christlichen Wahrheit der KT. Die heutige praktische
Problematik der KT ist „eine Wunde am Leibe der Kirche",
aber nicht die KT selbst, wie K. Barth (S. 28) will. Und
gesund wird unsere Kirche nicht dadurch, daß sie auf die KT
generell verzichtet. Ihre Gesundheit und Kraft wird sich vielmehr
gerade auch daran erweisen, daß sie die KT wieder mit
Wahrhaftigkeit und gutem Gewissen so weit wie nur möglich
üben kann.

Zur Kritik des Baptismus, d. h. der Forderung der Katechumenentaufe
als der alleinigen rechtmäßigen Gestalt christlichen Taufens, hat das Entscheidende
Luther gesagt; vgl. dafür diese Zeitschrift 1948, Sp. 711 f. Ich
selber könnte nur wiederholen, was in meiner „Christi. Wahrheit", II, S. 351 f.
dargelegt Ist.

Das Neue Testament und

Von Johannes Sc

Man darf wohl sagen, daß die Gegenwart von keiner Frage
so stark bewegt wird wie die von der nach der menschlichen
Existenz. Die schweren Erschütterungen, von denen die
Menschheit heimgesucht worden ist, haben auch die weltanschaulichen
Grundlagen, die lange Zeit in Geltung waren, in
Frage gestellt. Die optimistisch-idealistische Betrachtung des
Menschen ist zerbrochen. Die Erfahrungen der vergangenen
Jahrzehnte haben den Blick freigegeben für die gähnenden Abgründe
, die den Menschen unausgesetzt bedrohen und die in
ihm selber sind. Die moderne Wissenschaft, vor allem die Psychologie
, hat uns gelehrt, daß in den Tiefen des Unbewußten
Kräfte wirksam sind, die sich mit dämonischer Gewalt des
Menschen bemächtigen und in triebhaften Affekthandlungen
ihren Ausdruck finden. Das Menschenbild der Gegenwart ist
frei von Illusionen; es zeigt die menschliche Kreatur in ihrer
unverhüllten Wirklichkeit. Die Frage nach dem Wesen der
menschlichen Existenz ist neu gestellt und wird in der
modernen Existenzphilosophie mit großem Ernst beantwortet
, nachdem Kierkegaard den Begriff der Existenz geprägt
hat, der für das gegenwärtige Denken über den Menschen
bestimmend ist.

I.

Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Philosophie
der menschlichen Existenz, wie sie uns bei Jaspers, Heidegger
und Sartre entgegentritt, genauer darzustellen oder zu analysieren
. Für unser Thema ist nur die Erkenntnis wichtig, daß
das philosophische Bemühen der Gegenwart in enger Beziehung
zu einem Grundanliegen des Neuen Testamentes steht.
Gewiß ist das Grundthema der neutestamentlichen Verkündigung
nicht der Mensch, sondern Gott und Christus. Das NT
lehrt, was Gott in Christus zum Heil der Welt getan hat. Aber
die neutestamentliche Theologie hat doch auch von der
Situation des Menschen zu reden. Denn sie muß den Menschen
zeigen, wie er in seiner Krcatürlichkeit den Mächten der Welt

die menschliche Existenz

hneider, Berlin

preisgegeben ist; und sie muß darlegen, wie der Mensch zu
einem neuen Sein gelangt. Das heißt: der Begriff der Existenz
ist ein der neutestamentlichen Theologie angemessener Begriff.
Er ist gleichsam die große Klammer, die modenies philosophisches
Denken und neutestamentliches Denken miteinander
verbindet. Das Problem ist nur, wie sich die beiden
Existenzbegriffe und ihre Inhalte zueinander verhalten. Führt
die Philosophie der menschlichen Existenz wie bei Sartre zu
einem atheistischen Existentialismus, dann ist die Abgrenzung
klar; berührt sie sich aber mit Grunderkenntnissen des NT,
dann kann die moderne Existenzphilosophie eine Hilfe sein,
neutestamentliche Aussagen zu vergegenwärtigen.

Das darf freilich nicht dazu führen, daß der Reichtum des NT zugunsten
der Existenzphilosophie vernachlässigt wird. Dilschneider hat sich in seinem
Buch „Gegenwart Christi" gegen die dialektisch-existentielle Redeweise in der
Dogmatik gewandt und der gegenwärtig herrschenden Theologie den Vorwurf
gemacht, daß sie der Aufrollung der Probleme vom Boden der neutestamentlichen
Texte her entbehre'. Es ist hier nicht zu erörtern, ob Dilschneider in
seiner Beurteilung der dogmatischen Situation recht hat. Richtig Ist zweifellos
seine Forderung, vom NT auszugehen und das neutestamentliche Zeugnis nicht
durch die Existenzphilosophie zu ersetzen. Das NT muß für die Theologie die
letzte Instanz sein, wenn es sich darum handelt, die Existenz des Menschen
wahrheitsgemäß zu deuten. Es Ist das große Verdienst Bultmanns, daß er die
Terminologie der Existenzphilosophie aufgenommen hat, um neutestamentliche
Tatbestände der Gegenwart nahezubringen. Darin liegt die faszinierende
Macht seines Schrifttums zum großen Teil begründet. Und wie bei Bultmann,
so ist auch bei anderen Theologen die Interpretation des NT und die Deutung
des dem NT eigentümlichen Sachgehaltes vom existentiellen Denken her bestimmt
. Durch diese Betrachtungsweise wird mit großem Nachdruck deutlich
gemacht, daß es sich im NT Im letzten Grunde nicht um zeitbedingte Aussagen
handelt, sondern um ewig gültige Wahrheiten über den Menschen, und daß die
Frage der menschlichen Existenz niemals ohne die tiefen Einsichten, die Jesus,
Paulus oder Johannes gegeben haben, beantwortet werden kann. Es besteht

') O. Dilschneider, Gegenwart Christi II, 1948. S. 157 f.