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Ausgabe:

1949 Nr. 1

Spalte:

17-28

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Martin

Titel/Untertitel:

Die innere Einheit der Erweckungsfrömmigkeit im Übergangsstadium zum luther. Konfessionalismus 1949

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Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 1

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doch bloß diesen einen Widerspruch; der Fromme aber sieht
zugleich den zwischen seinem „freien" Tun und dem Wirken
eines allmächtigen und vielleicht allwirksamen Gottes. (Daß
wir nicht so unbesehen, wie es oft geschieht, von Allmacht
Gottes reden sollen, suchte ich zu zeigen in „Gott im Schicksal
?", München, Reinhardt, 1947. Inneres Widerstreben gegen
den Glauben an Gottes Allmacht und Allwissenheit kann
übrigens praktisch, so merkwürdig das klingen mag, von
ganz anderer Seite her kommen. Nämlich von* inniger Liebe
des Menschen zu Gott her. Tersteegen erzählt in seinen Lebensbeschreibungen
heiliger Seelen von einem Bruder Hermann,
der um 1700 in Lothringen lebte und wünschte, Gott wäre
nicht allwissend, damit er, Bruder Hermann, ihm etwas zuliebe
tun könne, ohne daß Gott es sogleich es merke, ohne daß
er es belohnen könne. Andere könnten ebenso wünschen, er
wäre nicht allmächtig, damit wir etwas für ihn tun könnten.)
Aber zugestanden, daß durch den Blick auf Gott zu jenem
Widerspruch zwischen Freiheit und Kausalzusammenhang
noch der zwischen menschlicher Freiheit und Gottes Wirken
kommt, dann gilt doch: vielleicht sind zwei Widersprüche
leichter zu ertragen als einer. In jedem Falle ist der Gottesglaube
der meisten tatsächlich mit Freiheitsglaube verbunden.
Sie können zwar keinen Ausgleich zwischen beiden schaffen.
Aber wie sie in Ehrfurcht vor Gott ihm zutrauen, daß er uns
gerade auf den Weg der Freiheit geschickt hat, damit wir
unser Ziel erreichen, so kann der Gottesglaube auch einen Ausgleich
ahnen lassen zwischen Freiheitsglaube und Erkenntnis
des Kausalzusammenhangs in der Welt.

Die Versuche, Gottes Wirken mit dem Weltgeschehen
widerspruchslos zusammenzudenken, Gott als causa prima
hinzustellen — das kann man auch für das seelisch-geistiggeschichtliche
Leben, obwohl der Begriff öfter auf die Natur
angewandt worden ist — sind alt, begreiflich, unzulänglich.
Aber gerade wenn man drei Betrachtungen zusammenstellt,
die sittliche, die wissenschaftlich-kausale, die religiöse, ergibt
sich etwas den Gottesglauben Erleichterndes: darf er beanspruchen
, ein besseres Los zu haben als das sittliche Empfinden
und Denken es hat ? Daß beide mit der wissenschaftlich-
kausalen Betrachtung in Spannung stellen, spricht dafür, daß
Religion und Sittlichkeit wirklich so zusammengehören, sich
so durchdringen sollen, wie es in rechtem Christentum der
Fall ist, und kann den sittlich strebenden Menschen in seinem
Gottvertrauen bestärken.

20. Gibt es aber nicht schließlich Antinoinieen auch zwischen
sittlichem Streben und Gottesglaubeu, Ethik und Religion
? Hartmanu bejaht das und führt fünf an, die zwischen
Diesseits und Jenseits, Mensch und Gott, dem (rein um seines
Wei tes willen getanen) Guten und Gottes Wille, unserer Freiheit
und Gottes Vorsehung, unserer Schuld und der Erlösung
(diese bedeute Vergebung der Schuld; aber unserem sittlichen

Empfinden nach sei Vergebung der Schuld weder möglich
noch auch das Würdige). Wer die Dinge so sieht, wacht eifersüchtig
darüber, daß unser ethisches Denken rein solches
bleibe, nicht mit religiösem vermischt werde. Auf der anderen
Seite weiß und sagt Hartmann, daß es dem Frommen durchaus
nur auf Gott, dessen Macht. Heiligkeit und Ehre ankommt
. Ob die Gegensätze da nicht überspitzt sind, ob nicht
für den, dessen Gottvertrauen sittliche Art hat und für den
Gottes Helligkeit sittlichen Inhalt hat (wie es doch beim
Jünger Jesu sein soll), das, was Hartmaun scharf einander
gegenüberstellt, vielmehr von vornherein zusammenfließt,
wesentlich eins ist, davon zu sprechen wäre eine Aufgabe
für sich.

21. Steht neben oder über der wissenschaftlichen Erforschung
der Welt kein Gottesglaube, so sinkt das Weltgeschehen
für unser Denken leicht in die Tiefen des Zufalls.
Sagt man nicht Zufall, sondern Schicksal, so wird die Vorstellung
einer einheitlichen, dahinter stehenden oder darüber
waltenden Macht kaum auf die Dauer völlig farblos bleiben
(wie und weil wir Menschen in den Kämpfen des Lebens nicht
ganz neutral bleiben), sondern entweder sich verdüstern zu
der eines weltbeherrschenden Dämons, wie etwa bei Spitteier,
oder sich verklären zu der eines weisen, heiligen, gütigen
Gottes. Und sittliches Streben und Denken hat in Unzähligen
dazu beigetragen, daß sich mit wissenschaftlicher
Weltbetrachtung bei ihnen Gottesglaube verband und sich
trotz wissenschaftlich-kausaler Weltbetrachtung bei ihnen erhielt
.

Daß im Gottesglauben wie im sittlichen Glauben Anti-
nomieen liegen, hängt eng damit zusammen, daß beide eine
Deutung von Rätseln sind. Ganz erraten können wir den Sachverhalt
nicht, die Geheimnisse nicht ganz enträtseln. Und eine
Summe klarer, widerspruchsloser Sätze über die letzten
Gründe und Ziele des Seienden entspräche dem nicht, daß
Ehrfurcht immer irgendwie auf Geheimes geht. Auch wird
durch Anerkennung von Antinomieen die Festigkeit des Glaubens
nicht gebrochen. Starke Zuversicht kann durchaus auch
der Ehrfurcht vor Geheimnissen und Widersprüchen geschenkt
sein. In der Ehrfurcht liegt zwar erstens, daß wir die Glaubens-
gedanken der Väter nicht leichthin preisgeben, aber zweitens,
daß wir alles menschliche Denken über das Ewige, auch die
Lehren unserer Kirche, nie mit diesem Ewigen selbst gleichsetzen
dürfen, unsere Gedanken da immer wieder zu prüfen,
zu läutern, zu berichtigen suchen müssen. Albert Schweitzer
sagt geradezu: „Je tiefer die Frömmigkeit ist, desto anspruchsloser
ist sie in Hinsicht auf die Erkenntnis des übersinnlichen".
Und drittens liegt in Ehrfurcht und Geheimnis: wir wundern
uns nicht, wenn unsere Gedanken, die dem Letzten gelten,
antinomisch sein und bleiben müssen.

Die innere Einheil der Erweckungsfrömmigkeit im Übergangsstadium zum luther. Konfessionalismus

Von Martin Schmidt, Berlin-Rostock

Die Wesensbestimmung der Erweckungsfrömmigkeit1
leidet unter kaum geringeren Schwierigkeiten als die des alten
Pietismus2. Was die Bewegung kennzeichnet, ist ihre weite
zeitliche und räumliche Ausdehnung und ihre starke inhaltliche
Differenzierung3. Wenn ihre Wurzeln einerseits zu Hamann
, Jacobi, Wizenmann, vielleicht darüber hinaus zu Herder
und Lavater, andrerseits zur Herrnhuter Brüdergemeine und
Jung-Stilling reichen, so nennt jeder Name eine eigen geprägte
Gestalt1. Die im folgenden vorgelegten Beobachtungen, die

') Es ist ein besonderes Verdienst der Theologiegeschichte, die uns Horst
Stephan geschenkt hat, daß sie die Größe und Fruchtbarkeit der Ansätze sehen
lehrte, die in der Erweckungsbewegung beschlossen waren, aber von ihr nicht
zur Reife gebracht wurden. Dies tritt vor allem auch darin hervor, daß sie
den Deutschen Idealismus mit dem gleichen Terminus als „Erweckungsbewegung
großen Stils" bezeichnete (Geschichte der evangelischen Theologie
seit dem Deutschen Idealismus 1938, 100 ff.).

') Die Bemerkung Stephans in seiner Jugendschrift (Der Pietismus als
Träger des Fortschrittes in Kirche, Theologie und allgemeiner Geistesbildung
1908, 7 f.): „Die wichtigste Frage wird noch sehr verschieden beantwortet,
die Frage nach den konstitutiven Elementen des pietistischen Christentums"
läßt sich nach 40 Jahren mutatis mutandis auf die Erweckungsbewegung und
ihren Forschungsstand übertragen.

') Stephan kennzeichnet sie unter theologischem Blickwinkel sogar als
..unklare Mannigfaltigkeit" (Geschichte der evangelischen Theologie 1938, 101).

') Besonders betont dies Wilhelm Lütgert, Die Religion des deutschen
Idealismus und ihr Ende t. 2. Aufl. 1923, 64 ff.; Ii. I, u. 2. Aufl. 1923, 1 ff.

von einem begrenzten Ausschnitt der Spätzeit her zum Zentrum
vorstoßen, können daher nur eine Vorarbeit für ein Gesamturteil
leisten. Der Punkt, an dem sie einsetzen, dürfte
allerdings besonders aufschlußreich sein, weil sich beim Ubergang
zum Konfessionalismus noch einmal die alten Motive wie
in einem Bündel sammeln.

Man hat versucht, in dem neu erwachten Sündenbewußt-
sein den Nerv zu finden1. Die Aufnahme der zentralen pauli-
nischen Aussagen von Unheil und Heil, von Verdammnis und
Rettung sei es gewesen, die den Männern um 1800—1830 die
Kraft ihres Glaubens, die Bewegtheit nach innen und den Angriffswillen
nach außen verliehen habe. Gleichzeitig sei damit
der Weg zum eigentlichen Konfessionalismus beschritten, die
Heimkehr zum lutherischen Kirchenbewußtsein im Ausatz

Es ist zu bedauern, daß Lütgert seine reichen und intimen Kenntnisse nicht
methodisch sauber verwertet hat. Seine einseitige Blickrichtung auf das Ende
des Idealismus und sein Suchen nach der Begründung des neuen, von ihm begrüßten
„Realismus" hindert sowohl die Erfassung des einzelnen im Zusammenhang
, wie die Verfolgung des Zusammenhangs selbst nach den ihm eigenen
Gesetzen.

') Gottfried Thomaslus, Das Wiedererwachen des evangelischen Lebens
in der lutherischen Kirche Bayerns, ein Stück evangelischer süddeutscher
Kirchengeschichte (1800—1840). 1867, 244 ff. Karl Hennig, Die sächsische
Erweckungsbewegung am Anfang des 19. Jahrhunderts 1928, 19; auch Hans
Leube im Handbuch der Kirchengeschichte, Teil IV: Die Neuzeit 1931, 309.