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Ausgabe:

1949 Nr. 4

Spalte:

199-206

Autor/Hrsg.:

Menn, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Kirche und die internationale Unordnung 1949

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199

Theologische Literaturzeitung 1949 Nr. 4

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gerechtigkeit entlarvt hat, kommt er zu der praktischen Forderung
eines dritten Weges, auf dem die Liebe die beste Verbindung
herstellt zwischen der Freiheit, die im Liberalismus
zur Illusion wird, und der Ordnung, die von den Marxisten
vergötzt wird.

So vorbereitet schritten wir in der Sektion an die Abfassung
des Berichtes1. Er konnte kurz werden, kürzer als in
Oxford, denn er war nur eine Station auf dem Wege der Arbeit,
eine Zwischenbilanz für die Öffentlichkeit. Der Bericht ist betont
realistisch, in seinen theologischen wie in seinen soziologischen
Urteilen. Er beginnt mit der Feststellung, daß die
tiefste Wurzel der Unordnung ein Mangel an Einsicht ist,
die Weigerung, die Verantwortung vor Gott sehen zu wollen.
Wer Gottes Wirklichkeit nicht anerkennt, wird aber auch nie
die Wirklichkeit des Menschen zu sehen bekommen, weder
„die ganze Tiefe des Bösen", noch „die ganze Freiheit und
Würde der Kinder Gottes". Anders ausgedrückt: ohne die
theologische Dimension gibt es keine richtige Soziologie. Das
ist nicht eine emphatische Forderung kirchlicher Intoleranz,
sondern eine nüchterne Feststellung politischen und wirtschaftlichen
Fachwissens. Der tröstliche Glaube an Gottes
Führung bewahrt vor dem Zwang zur Uberbewertung menschlicher
Maßnahmen. Das Wissen um die Verantwortung gibt
die Kraft, „die besonderen Formen der Unordnung zu überwinden
, durch welche das bleibende Böse in den menschlichen
Gemeinschaften noch verschlimmert wird". Diese besondere
Form wird heute nicht in der Technik gesehen, deren Segen
auf besonderen Wunsch der Vertreter der jungen Kirchen aus
unentwickelten Ländern ebenso betont wurde, wie ihre Gefahren
, sondern in der Machtkonzentration, die sie ermöglicht
, in der kapitalistischen und in der kommunistischen
Form. Demgegenüber wird der unbedingte Vorrang der Person
gegenüber technischen Erwägungen festgestellt. Aus ihm
folgt aber nicht nur die Ablehnung einer totalen Zwangswirtschaft
, sondern ebenso die Forderung, „dem kleinen Mann in
der großen Gesellschaft ein befriedigendes Leben zu sichern".
Die Sozialisierung wird für eine technische Frage erklärt, bei
der die Kirche nur zwei Dinge klären könne: die Relativität
des Privateigentums und die Gewißheit, daß man mit seiner
Aufhebung nicht die Wurzel der menschlichen Verderbnis beseitigt
haben würde. Sehr stark wird positiv die Forderung
nach der Dezentralisation gesellschaftlicher Macht und gesellschaftlicher
Aufgaben betont. Die Begründung, daß solche
dezentralisierten Gruppen die Möglichkeit zu persönlicher Begegnung
und persönlicher Entfaltung bieten, kommt im
nächsten Abschnitt „die verantwortliche Gesellschaft". Der
Bericht macht hier den Versuch, den Grundsatz, daß der
Mensch niemals zum Mittel gemacht werden darf, sehr konkret
auszulegen gegenüber den Ansprüchen des Staates und
der Produktion. Das Recht, „die Regierungen zu kontrollieren
, zu kritisieren und zu wechseln", die — schon in Oxford
geforderten — gleichen Entfaltungsmöglichkeiten für alle
Glieder der Gesellschaft werden ausdrücklich verlangt. Aus
der Forderung nach Gewissensfreiheit wird nicht nur das
Recht auf Erforschung und Verbreitving der Wahrheit, sondern
auch das sehr weitgehende Recht „an der Gestaltung
der Gesellschaft Anteil zu nehmen" abgeleitet, als eine
„Pflicht gegenüber dem Nächsten". Hier wird deutlich, weswegen
in Oldhams Entwürfen der Begriff der „freien Gesellschaft
" durch den „der verantwortlichen Gesellschaft" ersetzt
worden ist. Von hier aus wird für das Urteil über Kommunismus
und Kapitalismus ein Maßstab gewonnen: Der
Kommunismus zerstörte selbst sein Ideal der Gerechtigkeit,
weil er der Verantwortlichkeit des Menschen keinen
Raum lasse. Nicht gegen seine wirtschaftlichen Forderungen

') Amsterdamer Studienbuch. Hrsg. vom Bischof St. Neill, Furche-Verlag
, Tübingen 1948, S. 40 f.

hätten wir uns als Christen zu wenden, sondern gegen sein
Bild vom Menschen und von der Welt. Ebenso sei
der Kapitalismus nicht fähig, sein Ideal der Freiheit so zu
verwirklichen, daß es den Massen zugänglich bleibt, d. h.
daß es mit der Gerechtigkeit vereinbar bleibt.

Aufgabe des Christen bleibt es, „neue schöpferische Lösungen
zu suchen, die es nicht zulassen, daß sich Gerechtigkeit
und Freiheit gegenseitig zerstören". Die Funktion der Kirche
dabei ist, wie Patijn — der übrigens auch Vorsitzender dieser
Sektion war — betonte, eine indirekte. Nur selten, und mehr
zur Warnung und zum Protest als zur Aufstellung eines konkreten
Programmes, wird sie durch ihre leitenden Organe zu
den sozialen Fragen zu sprechen haben. Um so wichtiger ist
ihr indirekter Dienst, die Menschen geistig und geistlich vorzubereiten
, die im öffentlichen Leben zu handeln haben, und
im Leben der eigenen Gemeinden Vorbilder für ein verantwortliches
Leben in Freiheit und Gerechtigkeit zu bieten.
Zwei Sonderaufgaben greift der Bericht noch heraus. Das eine
ist die Rassenfrage, in der jede Diskriminierung „ihrem Glauben
an die Liebe Gottes zu allen seinen Kindern widerspricht".
Das andere ist die Gründung von christlichen Parteien. Die
Kirche darf sich nie mit ihnen identifizieren. Sie sind immer
eine gewagte Sache, „können aber in bestimmten Lagen erwünscht
sein, solange sie nicht den Anspruch erheben, es sei
der einzig mögliche Weg, sich als treuer Christ zu beweisen".
Der Bericht schließt mit der Betonung, daß auch eine verantwortliche
Gesellschaft eine Gabe göttlicher Gnade ist, und
daß wir mit all unserem Streben nur nach der neuen Erde ausschauen
können, „in der Gerechtigkeit wohnt". Zwei Dinge
hatte die Oxforder Konferenz auf dem gesellschaftlichen Gebiet
klar herausgearbeitet: es gibt kein „christliches" Programm
und es gibt kein Abfinden mit dem totalen Staat.
Diese beiden Erkenntnisse sind in Amsterdam unterstrichen
worden. Aber sie sind erheblich konkreter gefaßt worden. Der
Christ hat nicht von der Forderung nach Freiheit, sondern
von der Pflicht nach verantwortlicher Gestaltung der Welt
und der Gemeinschaft auszugehen. Und: es gibt jenseits der
falschen Alternativen vom Kapitalismus und Kommunismus
einen dritten Weg der dezentralisierten gegliederten Gesellschaft
, den diejenigen beschreiten können, die bereit sind, ihn
als freie Personen in Demut vor Gott und in Verantwortung
vor dem Nächsten zu gehen. Daraus erwächst für die christlichen
Laien die Aufgabe, alle Gebiete des öffentlichen Lebens
darauf zu prüfen, welchen Raum sie für solche verantwortliche
Betätigung geben, solchen Raum zu schaffen und auszugestalten
. Für die Kirche erwächst die Aufgabe, im rechten
Sinn Kirche zu sein, damit im eigenen Gemeinschaftleben und
durch die Bewährung ihrer Glieder in der Welt glaubhafte
Vorbilder und Ansätze zu geben. Aber noch eine umfassendere
Aufgabe wird dahinter sichtbar. Nicht nur in der dritten Sektion
und nicht nur in Amsterdam, sondern auf jeder Synode
oder Kirchenkonferenz der letzten Jahre hat sich herausgestellt,
wie eng Lehre und Leben zusammenhängen. Längst sind die
enthusiastischen Parolen vom „sozialen Evangelium" verstummt
. Nur aus einer klaren Vorstellung von der Natur als
Gottes Schöpfung, vom Menschen als Gottes Ebenbild und dem
erlösten Bruder Jesu Christi und von der Geschichte als dem
Werk des heiligen Geistes kommen wir zu richtigen Maßstäben
für das gesellschaftliche Handeln. Das klare Denken
ist etwas, was die Kirche der Welt ebenso schuldig ist, wie
die reine Liebe. Dieses christliche Weltbild ist aber nicht nur
in der Wissenschaft zu erarbeiten, sondern es muß erfahren
werden im geistlichen Leben des Gebetes und des Gottesdienstes
. Erst in der Einheit von Liturgie, Diakonie und
Theologie erfüllt sich der Dienst der Kirche an der Welt, kann
sie über der Unordnung der Menschen den Heilsplan Gottes
sichtbar machen.

Die Kirche und die internationale Unordnung

Ein Bericht über die vierte Sektion von Amsterdam
Von Wilhelm M e n n, Andernach

Man darf ohne Übertreibung sagen, daß keine der Amsterdamer
Sektionen vor einer schwierigeren Aufgabe stand als
diese. Die Gründe dafür liegen zum Teil auf der Hand. Die
internationale Lage hatte im Augenblick des Zusammentretens
der Konferenz ein unerhörtes Maß von Verwirrung
und Zuspitzung erreicht; der Weltkrieg erschien als naheliegende
Möglichkeit. Die Welt wartete auf ein womöglich
lösendes, jedenfalls aber hilfreiches Wort und sprach diese
Erwartungen laut genug aus, nicht ohne hier oder dort zu
versichern, daß „Amsterdam" besser täte, nicht zusammenzutreten
, wenn es sich nicht imstande wisse, dieser dringendsten
Aufgabe gerecht zu werden. Es ist unnötig zu sagen, daß
der Gegensatz von Westen und Osten als das zentrale Problem
erschien, wohl aber, daß es bis in den Kreis der kirchlich Verantwortlichen
hinein nicht an Stimmen fehlte, die keine andere
Alternative für Amsterdam zu sehen meinten als die derEnt-
scheidung zugunsten des einen oder des anderen, das um so
mehr, als es wenigstens nach der Darstellung eines großen
Teils der nichtkirchlichen Presse so aussah, als habe der
Vatikan längst diese Entscheidung getroffen. Das alles be-