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Ausgabe:

1948 Nr. 10

Spalte:

609-611

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schwinkhart, Ludwig

Titel/Untertitel:

Chronik 1948

Rezensent:

Hermelink, Heinrich

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609 Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 10 610

jst es für Paracelsus wie auch für Goethe schlichthin wesent-
«Wtt, daß Welt und Felsenwände, Busch und Matten, Ernte,
grün Gelände „übrig sind". Aber darüber hinaus leuchtet hier
jene Reinheit, die jenseits alles elan vital und aller Gestalt liegt.
Jener Friede, von dem es bei Goethe heißt: „der du von dem
Himmel bist". Natur wird hier nicht nur zum universalen
Symbol aller gestaltenden Kraft, sondern darüber hinaus zum
Namen für Erfüllung und Vollendung des menschlichen Seins.
Aus doppeltem Grunde kann Natur dieses Symbol sein, einmal
weil hier der ganze Mensch in der Gesammeltheit aller,
auch der vitalen Schichten seines Seins in Frage steht, und
sodann, weil es das Pathos ist, das zum Wesen der Natur gehört
und das zum Quell der Erlösung wird.

Die Paracelsische Naturinnigkeit führt wie die des Hl.
»tanz aus innerster Notwendigkeit vor das Problem des Per-
^onalismus. Wie Franziskus Natur und Kreatur in das Verhältnis
geschwisterlicher Liebe hineinzieht, so spricht Para-
celsus den einzelnen Pflanzen und Blümlein eine „Auferstehung
" zu. Veil sieht darin mit Recht einen tiefen Ausdruck
der Naturversenkung der Paracelsischen Religion. Aber
Jucht jede Versenkung in die Natur kommt zu solcher „Speku-
'ation". Wie in ein Symbol gefaßt leuchtet hier der grundsätzliche
Personalismus des Paracelsus auf und mit ihm die
•Kernfrage:

Ist die Persönlichkeit verschwindende Welle über der unendlichen
Tiefe des Seins, oder kommt in ihr ein letzter Sinn
z«r Erfüllung ? Wenn es so ist, so ist sie mehr und qualitativ
anderes als die Individualität auch in ihrer reichsten Fülle,
gelbst das Moment des Schöpferischen, das sicher über die
Individualität hinausführt und zur Personalität gehört, reicht
Qann noch nicht zur Charakterisierung des eigentlichen Wesens
■M. Sondern das Schaffen muß dann als Ausdruck der inneren
^elbstmächtigkeit verstanden werden, und die Frage ist, ob
juese Selbstmächtigkeit, hegelisch gesprochen, diese Reflexion
"es Seins in sich, als eigene und als höchste Seinsstufe und Seins-
*eise anzusprechen ist. In dieser Frage nach der Metaphysik
uer Person schließen sich untrennbar das theologische und das
Pj'tliropologische Interesse zusammen. Die Beobachtung der
watur führt hier zu keiner schlüssigen Antwort. Dennoch ist
*s die Natur selber, die bis zu dieser Frage führt; denn auch
"er Mensch trägt alle Schichten der Natur in sich, und er ist es,
JJJ welchem die Natur sich spiegelt und in dessen Schauen
nre Werte erspürt und erlebt, ergriffen und bewahrt werden.
gO bahnt sich von der Natur selbst her die Goethische Endlage
an: „Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen ?"
Entweder heißt das: in seinem Herzen kann der Mensch ergreifen
, was Natur überhaupt ist. Oder es bedeutet: hier ist
S,^ Kern, in welchem alle Natur ihre letzte Sammlung und
Erhöhung findet. („Die Wertfülle verlangt die Wertantwort.. .
erjese Sinnbeziehung kann nur das wertfühlende Wesen in die
elt tragen." Nie. Hartmann.) — Das Problem des Personalis-
j .Us ist das offengebliebene Kernproblem des Deutschen
jUealismus. Der wiederum von Jena ausgegangene jüngere
].• j*. Fichte hat es zum Zentrum seiner Philosophie gemacht,
j,c|itvoll durchdacht und in Frage und Antwort weit gefördert.
l's,ist auch die offene Frage am Idealismus Veils. Es ist die
j^'clie Frage, die das von Veil gezeichnete, so ergreifende,
"vSterium und Offenbarung der Natur in seinem Auge spie-
Jrjpde und die Liebe zu Gott, Natur und Nächstem ausrückende
Paracelsus-Antlitz uns stellt.

Marburg a. d. Lahn Th. Siegfried

"Jjwig Schwinkhart. Chronik. 1506 bis 1521. im Auftr. d. Hist. Ver-

'insd. Kantons Bern hrsg. v. Dr. Hans v. Greyerz. Bern: Feuz 1941. XXIII,
30 S., 1 Taf. gr. 8« = Archiv d. Hist. Vereins d. Kantons Bern. Bd. 36, H. 1.
au i^^6^ Llu^w'g Schwinkhart, der eine „Schweizer Chronik
fäu- msc'lcr Sicht" hinterlassen hat, die durch die sehr sorg-
*Sr» 1 Edition von Dr. Hans von Greyerz der Öffentlichkeit
^ gelegt wird, sind wir merkwürdig schlecht unterrichtet.
Ah.vvissen nur, daß er 1495 geboren sein muß und daß er im
jjj °r von 22 Jahren durch die Ostermontagswahl von 1517
Großen Rat von Bern einrückte. Im Jahr darnach,
li'c] vei"heiratete er sich mit Margareth Z'moß (wahrschein-
Ha" !»28 ^hun)• Am sichersten steht fest, daß er, wie aus einer
4fc "''Bemerkung am Anfang seiner Chronik hervorgeht, ,,an
&io 'Sockenschlacht umkam", d. h. in der Schlacht von
VaiCoPca am 27. April 1522 den Tod gefunden hat, wie auch
zCl.S™8 Anshelm in seiner berühmten Berner Chronik be-
' zusammen mit „Immus Bergern, Antonin Fischern
Über a1nc*ern uß der Gemeind, ob fünfzigen". Seine Witwe,
Syjn ueren weiteres Schicksal wir nichts wissen, mußte gegen
$ci w} vater oder seinen Bruder, die beide den Namen Nikolaus
""ikhart führten und ebenfalls Mitglieder des Großen
68 waren, einen Rechtsstreit zur Durchführung des von

Ludwig hinterlassenen Testaments durchfechten und wurde
dabei von einem Vogt Lienhard Tremp, einem Verwandten
Zwingiis, und von ihrem Verwandten Venner Hans von Weingarten
unterstützt, die beide zur reformatorischen Partei im
damaligen Bern gehörten. Ob Ludwig selbst zu dieser Beziehung
gehabt hat, ob er Kinder hinterließ, welchen Beruf
er gehabt — alles sonstige persönlich Wissenswerte über ihn
ist unbekannt. Seine Handschrift ist nicht an uns gekommen;
wir wissen nichts über seine Quellen, nichts über die Nachwirkung
seiner Chronik, ob sie von Valerius Anshelm benutzt
worden ist oder nicht. Erst ums Jahr 1835 tauchte „durch Gelegenheit
einer Auktion" eine Abschrift der Chronik (vom
Jahre 1539) mit Zusätzen des Kopisten auf, deren Umfang
jedoch ungewiß bleibt. Erst bei Michael Stettier, dessen
Schweizer Chronik 1627 herauskam, finden wir einen Hinweis
auf Ludwig Schwinkhart, „der etwas von den May-
ländischen Kriegen verzeichnet hat"; und I. R. Wyß gibt im
„Geschichtsforscher" von 1825 die erste Kunde vom Manuskript
.

Die Chronik Schwinkharts steht in keiner ausgesprochenen
literarischen Tradition, sondern sie ist recht eigentlich ein
Laienwerk, aus den politischen Interessen des Berner Ratssaals
heraus entstanden, ohne daß sie amtlich beauftragt und
beeinflußt gewesen wäre, wie die Werke von Diebold Schilling
(f 1485) und Valerius Anshelm (ab 1520). Sie setzt ein mitjdem
Jahr 1507, d. h. mit dem Bündnis der Eidgenossen mit Frankreich
und der Einnahme Genuas durch Ludwig XII.; sie
wächst an mit dem Jahr 1513, der Schlacht bei Novara und
den Bauernaufständen jener Jahre, und schließt mit dem
Krieg in Oberitalien im Herbst 1521 (vor dem Fall Mailands
am 19. November 1521). Alle merkwürdigen Ereignisse dieser
Ubergangszeit, angefangen von den Schweizer Reisläufen für
und gegen Frankreich, über die hohe Politik der heiligen Liga
vom Jahr 1511 und den Intrigen des Kardinals Schinner von
Sitten bis zur Kaiserwahl von 1519 und bis zu den Württemberger
Wirren um Herzog Ulrich und seinen Werbungen in
der Schweiz; sowie alle kleineren, aber wunderbar erscheinenden
Ortsbegebenheiten, wie Mißgeburten und Drillinge, Sterbläufe
und Erdstöße mit Seeausbrüchen und Wetterumstürzen
und Donnerschläge, auch Himmelszeichen, wie das blutigrote
Kreuz, das in den Wolken über der ganzen Schweiz am Vorabend
der unglücklichen Schlacht von Marignano am 13. September
1515 gesehen wurde, werden, wie wir es von der
Zimmerischen Chronik her gewohnt sind, zusammen mit den
türkischen Uberfällen auf Ungarn oder Ägypten, mit der Ausraubung
und Wiedererstarkung italienischer Seidenkaufleute
und mit Staatsbesuchen des Herzogs von Savoyen in Bern
sorgsam gebucht. Das größte Ereignis der Zeit, der Reformationsanfang
in Wittenberg, wirft seine Schatten voraus mit
den Berichten über den Jetzerprozeß im Predigerkloster zu
Bern 1507—1509, mit mehrfachen Ablaßverkündigungen, angefangen
im Jahr 1509/10, sodann anläßlich der Erneuerung
des päpstlichen Bündnisses mit der Eidgenossenschaft im Jahr
1513/14; dann ganz besonders gibt der Bericht über die Ablaßpredigt
des Barfüßermönchs Bernhardin Sanson 1518/19
Anlaß zu kritischen Bemerkungen gegen den Ablaß, die über
den Rahmen der sonstigen Urteile hinausgehen und im reformierten
Sinn interpoliert erscheinen. Dicht daneben steht der
gläubige Bericht über die Erhebung der Reliquien des heiligen
Ursus und seüier Genossen in Solothurn (6. April 1519), die
zur thebaischen Legion des heiligen Mauritius (um 302 gemartert
) gehört haben sollen, „zu Lob Gott dem Allmächtigen
und Danksagung seiner göttlichen Gnaden, daß er einer
ganzen Eidgenossenschaft und loblichen Stadt von Solothurn
wunnsame Freud und Gnad bewiesen hat".

Trotz seiner langatmigen Umständlichkeit und mehrfacher
„Entschuldigung des Dichters" mit Vorsätzen zur
Kürze bekundet der Verf. in der Bewältigung des spröden
Stoffs des vielfätigen Hin und Her der Mailänder Kriege einen
historischen Griff im Nebeneinander der pragmatischen und
der annalistischen Darstellung. Er bedient sich dabei gern
des epischen Kunstmittels der Wechselreden, wie sie vom
Humanismus der Zeit gern gepflegt worden sind. Humanistisch
beeinflußt ist auch seine stark gouvernementale Einstellung,
seine entschiedene Abneigung gegen den Herrn „Omnes".
Ein vorherrschender Zug ist das starke Friedensverlangen
nach all den unglücklichen'Kriegen der tapferen Eidgenossenschaft
. So scheint er hineinzugehören in die Friedensbewegung,
die nach 1516 von Erasmus in Basel ausging und viele
Schweizer Intellektuelle erfaßte. Das primäre Motiv der eras-
mischen „Querela pacis" (von 1517), die Wiederherstellung
des goldenen Zeitalters der literarischen Kultur, liegt natürlich
auch nicht im mindesten im Blickfeld des bernischen
Ratsherrn und Chronisten, doch begegnet er sich mit dem