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Ausgabe:

1948 Nr. 10

Spalte:

581-592

Autor/Hrsg.:

Stürmer, Karl

Titel/Untertitel:

Judentum, Griechentum und Gnosis 1948

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Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 10

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und bekämpfte, die Haltung des weltgestaltenden Übertreters
des Gesetzes. Wo allein ein starres Gesetz als göttliche Forderung
in die gottfremde Wirklichkeit einbricht, kann es in
Reaktion dazu zwar sowohl eine ekstatische, Ich und Welt
zerstörende Mystik als auch eine rebellische Verweltlichung
geben. Der Gedanke aber, daß Gott den im Glauben gerechtfertigten
Menschen in die Welt ruft, ist unmöglich zu fassen.
Das atomistische Denken, das Erschrecken vor der Wahrheit,
die Ohnmacht der Vernunft, die mystische und utopische Ent-
rnächtigung der konkreten Wirklichkeit, um nur das zu
nennen, was von dem Verf. wiederholt herausgestellt wird,
»st hierin begründet. Es liegt im Prinzip des Islam.

Der Verf. vertritt in seinem abschließenden Kapitel die
Ansicht, daß die Hinwendung zu geschichtlichem Denken zur
Kritik führen und den Islam aus seiner theoretischen Erstarrung
lösen kann. Er sieht eine Möglichkeit dazu, da sich
auch für den Islam in der Geschichte Gottes Wille manifestiert.
Aber welcher Gott tut hier seinen Willen in der Geschichte
kund ? Kann man wirklich in diesem Zusammenhang von „Eter-
nal Reason" in der Geschichte sprechen ? Das ist es ja gerade
, wogegen sich der Islam seit je gewehrt hat. Die Geschichte
•st das Wirken des Gottes, der in einer jeder Vernunft undurchdringlichen
Willkür regiert. Man kann die geschicht-
Uche Tatsache aufzeichnen, das taten die islamischen Chronisten
und Historiker, und man kann sie idealisieren, verzerren
, dienstbar machen für Zwecke, das taten und, wie der
Verf. an vielen Stellen zeigt, tun auch heute noch alle.

Die Gleichsetzung von Heiligem Geist und menschlichem
Geist ist im christlichen Abendland oft gar zu leicht ausgesprochen
worden. Der Islam ringt aus der Verzweiflung an
der Gesetzlichkeit in seiner Mystik um diese Frage. Er mußte
dabei scheitern. Denn letztlich kennt er nur die Kluft, und
das sie Uberbrückende ist ein Gesetz. Deshalb gab es zwischen
Gesetzlichkeit, Mystik und weltzugewandter Haltung keine
Synthesis, sondern nur eine labiles Gleichgewicht. Das war
tragend, ja kulturschaffend in den Jahrhunderten der relativ
ungestörten Ruhe von außen. Heute stehen wie immer
die drei Elemente nebeneinander, eng verkoppelt und doch
getrennt. Wie der ultraorthodoxe Eiferer Ibn Taimiyya im
14. Jahrhundert den Philosophen doppelte Moral vorwirft, so
tun es seine Nachfolger, wenn sie es z. B. dem modernen
Dichter Zahäwi zum Vorwurf machen, daß er moderne, aufklärerische
Irrlehren verbreitet und sich zugleich zum Verteidiger
der Heiligenverehrung macht. Auch heute stellt der
islamische Mensch in einem Hin und Her zwischen Gesetzlichkeit
, Mystik und Weltlichkeit. Theoretisch ist denkbar,
daß wieder ein Gleichgewicht gefunden wird. Aber die
Situation ist nicht mehr die des späten Mittelalters, denn der
Einbruch des in sich selbst durch Krisen erschütterten Abendlandes
verhindert jede Konsolidierung.

Judentum, Griechentum und Gnosis

Von Karl Stürmer

Judentum und Griechentum sind in ihrem Weltverständnis
und ihrer Geisteshaltung, aber auch in ihrer Gottesanschauung
und Frömmigkeit die denkbar größten Gegensätze
.

Den Gegensatz von prophetischer und mystischer Frömmigkeit1
zur näheren Charakterisierung der jeweiligen besonderen
Eigentümlichkeit heranzuziehen, ist naheliegend,
«ann jedoch nicht befriedigen. Einerseits ist die jüdische
Religiosität nicht nur durch das Bewußtsein des Abstandes
tischen Gott und Mensch geprägt, sondern auch sie weiß
sich auf Grund des Bundesgedankens und Erwählungsbewußt-
seins in einer weitgehenden Übereinstimmung mit Gott; und
andererseits ist das Griechentum sehr wohl von dem Wissen
Ut« die Grenze zwischen Gott und Mensch durchdrungen: daß
der Neid der Götter jeden trifft, der sich vermißt, die Schranken
der Menschlichkeit zu überschreiten, ist geradezu ein
Grundzug griechischer Religiosität'. Ferner hat das Judentum
keineswegs nur die prophetische Offenbarung als maßgeblich
betrachtet, sondern war zutiefst von der Überzeugung
durchdrungen, daß Gottes Walten in der Natur und in der
beschichte unmittelbar erkannt werden kann (in der ganzen
Weltliteratur hat diese Überzeugung keinen so eindeutigen
Niederschlag gefunden wie in den Geschichtsbuchern und
psalmen des Alten Testaments!); und das Griechentum weiß
JNU auch um Offenbarungen, denn um Offenbarungen der
Gottheit und nichts anderes geht es doch im Dionysoskult,
lrn delphischen Orakel und in den Mysterienreligionen; ja
Selbst die philosophische Erkenntnis schlägt auf ihren Höhe-
Punkten oftmals in visionäre Schau und prophetische Begeisterung
um» Es läßt sich zwar nicht bestreiten, daß in
?.er Unterscheidung von Prophetie und Mystik ein gewisser
^ahrlieitsgehalt enthalten ist, aber Judentum ist nicht nur
^ophetie und Griechentum ist nicht nur Mystik.
n Jüdisches Denken ist dynamisches Denken. Griechisches
denken ist statisches Denken. Diesem Grundzug entsprechend
werden im Judentum die zwischen Gott und Mensch be-

') Nach F. Heller, Das Gebet (1921), S. 248 ff.

') Vgl. E. Rohde, Die Religion der Griechen, Kleine Schriften II (1901),
^■328; O. Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte II (1902),

• '000; O. Kern, Die Religion der Griechen II (1935), S.261.

') Vgl. E. Rohde, Psyche II (1907), S. 283 über Plato: „Plato ist der
*fh:»rfsinnlgste, ja spitzfindigste, eifrig allen Verschlingungen der Logik auch
PJ paralogismus, nachspürende Dialektiker. Aber wie sich in seiner Natur die

es°nncnhcit und Kalte des Logikers in einer unvergleichlichen Art mit dem
'"'"uslastischen Aufschwung des Sehers und Propheten verbindet, so reißt
*Uct> »eine Dialektik selbst sich über das mühselige, stufenweise fortschreitende
^uf*artsstrcben von Begriff zu Begriff zuletzt empor an ihr Ziel in einem ein-

'Ken mächtigen Schwünge, der das sehnsüchtig erstrebte Ideenreich auf einmal
and "nmittelbar vor ihr aufleuchten läßt. So wird in der Ekstasis dem Bakchen

'e Gottheit in plötzlicher Vision offenbar, so in den Mysteriennächten dem

PoPten das Bild der hohen Gottinnen im Fackclglanz von Eleusis."

stehenden Beziehungen durch Verhältnisbestimmungen verdeutlicht
, im Griechentum durch Seins- und Wesensbestimmungen1
.

I.

Der Gott des Alten Testaments steht dem Menschen
gegenüber wie der Herr seinem Knecht2. Was ihn zum Herrn
macht, ist die Macht, die er hat, und das Recht, das er übt3.
Seine Macht ist unumschränkt: nichts stellt über ihm, von
dem er abhängig wäre; keine vorgegebenen Bedingungen
zwingen ihn so oder so zu handeln; an keine Gesetze ist er
gebunden, außer denen, die er sich selbst gegeben hat. Und
deshalb, weil diese Macht so umfassend ist, darum ist sie auch
rechtmäßig; sie steht nicht im Dienste einer anmaßenden
Despotie, sondern einer ausgleichenden Gerechtigkeit, und
dem Menschen fehlt jeder Grund, ihr zu widersprechen oder
sich gegen sie aufzulehnen; er hat sich ihr zu beugen und gehorchend
zu unterwerfen.

Das Gegenüber von Gott und Mensch als Herr und Knecht
hat zweifellos ein gewisses Abstandsgefühl zur Folge, aber
dies ist nicht der Hauptinhalt, sondern nur ein Begleitmotiv
der dynamischen Gottesvorstellung. Auch das Judentum
kennt eine Aufhebung des Abstandes zwischen Gott und
Mensch: in dem von Gott mit dem Volke eingegangenen Bund
wird eine Vereinigung der beiden Partner vollzogen, die nahezu
völlig und restlos zu nennen ist. Allerdings ist der Bund
die Form der Vereinigung zweier dynamischer Potenzen und
nicht zweier Seinsqualitäten, und im Alten Testament hat
deshalb auch die Vereinigung zwischen Gott und Mensch
juristisch-vertragsmäßigen und nicht mystisch-wesenhaften
Charakter. Aber dennoch ist diese Vereinigung nicht weniger
real. Durch die Bundesverpflichtung nimmt Gott den Menschen
gewissermaßen in die Sphäre seines Willens und seiner
Macht auf, — ähnlich wie die Mystik den Menschen in dsa
göttliche Sein aufgenommen sein läßt4. Daß die seinsmäßige

') Vgl. hierzu besonders Stauffer, Die Überweltllchkeit Gottes, ThWb.
III 113, 26 ff. und W. Foerster, Neutestamentliche Zeitgeschichte I (1940)
S. 127 ff.

■) Dieser Grundzug der jüdischen Gottesvorstellung ist auch der Religion
der Babylonler, Assyrer und Ägypter eigen, und dem phönizisch-kanaanitlschen
Baalglauben liegt er ebenfalls zugrunde. Vgl. A. Ungnad, Die Religion der
Babylonier und Assyrer (1921), S. 174 u. ö.; G. Roeder, Urkunden zur Religion
des alten Ägypten (1915), S. 5, 7, 69 usw.; W.W.Graf Baudlssin,
Kyrios als Gottesname im Judentum (1929), III, 246 ff.; 284 ff. Den Griechen
erschien eine solche Gegenüberstellung von Gott und Mensch als Herr und
Knecht immer als etwas Sklavenhaftes und typisch Orientalisches und Barbarisches
.

*) Vgl. Foerster, xvgiot, ThWb. III 1039, 18 ff.

«) Die sonst übliche angeblich etymologische, im Grunde aber psychologische
Definition der Mystik z. B. bei F. Heiler, Das Gebet (1921), S. 248 ff.,
wird diesem Wesen der Mystik allerdings nicht gerecht. Sie muß durch eine
ontisch-phänomenologische Deutung ersetzt werden.