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Ausgabe:

1944

Spalte:

185-187

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kristensson, Bertil

Titel/Untertitel:

Nietzsches etiska åskådning i dess relation till kristendomens ethos 1944

Rezensent:

Rosén, Carl Hugo

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Theologische Literaturzeitung 1944 Nr. 7/8

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waren mit Energie auf die philologische Seile der Evangelien- j
kritik und die neutestaraentliche Quellenforschung gerichtet; j
ich bildete mir nämlich damals noch ein, daß die Geschichte
und ihre Erforschung im Stande sei, auf gewisse religiöse
u. philosophische Fragen eine direkte Antwort zu geben" (471).

Am tiefsten dringt der philosophische Gedanke in der
Homerrede, insbesondere in den vorbereitenden Notizen
(268 ff.), die ebenso wie die autobiographischen Aufzeichnungen
von Karl S c h 1 e c h t a mit aller Sorgfalt dargeboten
werden. Charakteristisch schließt diese Rede mit dem Satz:
„Philosophia facta est, quae philologia hilf (305).

Wir verstehen, daß N. dieses Werk seinem Lehrer Ritsehl
gegenüber als esotericum behandelt wissen wollte. Und doch |
war dies nur der Anfang jenes komplizierten Emanzipationsr
nrozesses, dessen Fortgang wir in Bd. 3 und 4 der Briefe
bereits mit aller Deutlichkeit verfolgen können. Die Briefedition
, für die Wilhelm Hoppe verantwortlivh zeichnet,
ist der Veröffentlichung der Schriften weit vorausgeeilt und
führt bereits bis Mai 1877 (Sorrent). Hier war freilich nicht I
so sehr Neues zu bieten, als das bisher an den verschiedensten
Stellen veröffentlichte Material zusammenzufassen. Eine Köstlichkeit
wie der in Bd. 4 zum erstenmal bekanntgemachte
Briefwechsel mit Eleonore Guerrieri-Gonzaga muß aber besonders
herausgehoben werden. Zusammengenommen mit den
vom Nietzsche-Archiv gesondert herausgegebenen Briefen an
N. und mit den zahlreichen Erläuterungen, in die Briefe weiterer
Korrespondenten aufgenommen sind, ergeben diese Bände
von N.'s Persönlichkeit und Entwicklung ein Bild von einzigartiger
Plastik.

Es ist unmöglich, die Fülle der Beobachtungen, die dieses Material
erlaubt, in Kürze zu notieren; wie, um nur einige Hauptlinien
nachzuziehen, in dem begeisterten Apostel von Wagners kultureller
Mission allmählich das Bewußtsein der eigenen so ganz andersartigen
Sendung erwacht, wie er die Philosophie als eigenstes, noch nicht
voll durchschaubares Schicksal auf sich nimmt, zunächst im Äußeren
noch unsicher tastend, sodaß selbst Heilratsabsichten gelegentlich
laut werden; wie dann mit der Einsicht in die eigene Aufgabe auch
das Qefühl der Vereinsamung wächst, untermalt durch die ersten
schweren Erfahrungen der Erkrankung, über deren ganze Bedeutung
freilich noch ein gnädiges Dunkel gebreitet ist.

Zu N.'s religiöser Entwicklung ist folgendes festzuhalten:
Es fällt zunächst auf, daß die eigene religiöse Problematik kaum
zur Sprache kommt. Die Äußerungen aus diesem Gedankenkreis tragen
durchweg etwas sehr Fertiges und Entschiedenes an sich. Die Emanzipation
von Christentum und Theologie ist sozusagen eine intellektuelle
Selbstverständlichkeit. So heißt es von einem mit Sympathie
erwähnten Studenten, er sei ,jbis jetzt noch Theolog" (III, 33).
Für eine etwaige Mitarbeiterin ist „religiöse Freisinnigkeit absolute
Vorbedingung" (IV, 337). Eine entschiedene Antipathie liekennt
N. gegen „katholisches Wesen" (IV, 154) sowie gegen den Basier
Pietismus (IV, 164, 16Q) und allgemein gegen jüdischl-christliche
Redensarten, wobei er jedoch erkennt, daß der Ekel, den er sich
dagegen „irgendwann angegessen", leicht zur Ungerechtigkeit verführen
könnte (IV, 248). Vor religiös-philosophischen Auseinandersetzungen
äußert N. eine Scheu in dem Bewußtsein: „Wie VieleB
darf man nicht aussprechen! Und gerade religiöse und philosophische
Grundanschaiiungcn gehören zu den pudendis. Es sind die Wurzeln
unseres Denkens und Wollen«: deshalb sollen sie nicht ans grelle
Licht gezogen werden" (III, 151). Es erfüllt ihn jedoch andererseits
der Olaube, daß er selbst ,.etwas Heiliges zu vertreten habe" (IV, 154). j

Einige Ergänzungen: zu Bd. III, 268 (vgl. 481): der zitierte
Text stammt aus Schillers „Lied an die Freude" und ist eine Reminiszenz
an Beethovens in Bayreuth gehörte 9. Symphonie.

Zu III, 363,27: vgl. dazu die Anmerkung zu 163,26 f.

Zu 111,371 f.: gemeint ist Clementis „Oradus ad Parnassum".

Halle/S., z. Zt. Belgrad H. Zeltner

Kristensson, Bertil: Nietzsches etiska äskädning i dess
relation tili Kristendomens Ethos. Stockholm : Svenska Kyrkans
Diakonistyrelscs Bokförlag [1940]. 191 S. gr. 8". Kr. 5-.

Es wird in diesem Buche der Versuch gemacht, Fried - I
rieh Nietzsche als einen systematischen Denker zu be- j
handeln und sein Werk als ein geschlossenes Ganzes darj-j
zustellen. Motiviert wird dieses Verfahren damit, daß eine
Untersuchung der psychischen Struktur Nietzsches nur über die
Genesis seiner Anschauung Aufschluß geben könne (S. 13). i
edoch legt dem Verfasser sein Material solche schwierig-
eiten in den Weg, daß er sich gezwungen sieht, der systema- I
tischen Darstellung eine historische über Nietzsches Person und j
Entwicklungsgang voranzuschicken (S. 16). Kein Winder! i
Denn bei wenigen Denkern dürfte es so schwierig sein, zwischen j
i^ersoti un d Werk peinlich zu unterscheiden wie bei demjenigen,
der seine Werke „die erlebtesten Bücher" nennen konnte und
von sich selbst sagte: „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir I

verwandt". Diese beständige Wandlung bei Nietzsche sowie
sein vielbesprochener „Immoralismus" machen es schwer oder
unmöglich, „seine ethische Anschauung" ohne Rücksicht auf
seine persönliche Entwicklung darzustellen.

•Die Schilderung des Werdegangs Nietzsches fällt sehr
dürftig aus, weil der Verfasser den Schlüssel verschmäht,
der doch so nahe liegt. Er weigert sich bestimmt, religiösen
Gesichtspunkten eine entscheidende Bedeutung beizulegen für
die Beurteilung Friedrich Nietzsches, ja er spricht sogar von
der „eventuellen" Religiosität Nietzsches (S. 11, die große
Note). Und doch ist das Zentrale bei Nietzsche ohne jeden
Zweifel seine „religiöse Bejahung des Lebens" (Wille zur
Macht, Stück 678). Dies ist die Einheit in seiner Widerspruchs^
vollen Gedankenwelt; dies ist auch die Erklärung ihrer wichtigsten
Wandlungen. Von entscheidender Bedeutung ist für
Nietzsche wie für jede religiöse Persönlichkeit das Verhältnis
zwischen seinem ethischen Ideale und seiner Gottheit. Bei
ihm wird dies Verhältnis ganz besonders tragisch, weil er so
ausgesprochen ethisch veranlagt ist und sein ethisches Ideal
doch seinen Oottesbegriff nicht wesentlich mitgeformt hat,
wie es in den Persönlichkeitsreligionen sonst der Fall ist.
Sein Gott ist vielmehr das unklar, aber vorzugsweise biologisch
gefaßte „Leben". Eine Zeit lang jedenfalls, während er Zara-
thustra schrieb, glaubt er in diesem „Leben" eine Tendenz zur
Vervollkommnung voraussetzen zu dürfen. Es flüstert ihm ins
Ohr: „Siehe, ich bin Das, was sich immer selber übervx'inden
muß" — was sich der Verfasser auch richtig gemerkt hat; er
fügt auch selbst hinzu: „Das Leben ist (ihm) das ewig Werdende
, eine stetige Steigerung und Entwicklung" (S. 35).
Dann hat er aber nicht das Recht, Nietzsche jeden „Entwicklungsglauben
" abzusprechen (S. 60). Freilich ist Nietzsche kein
„Darwinist"; er hat aber einmal fest geglaubt, daß seine
Göttin, das Leben, das Herankommen des vornehmen
Menschen fördere. Eigentlich fordert seine Religion, daß er der
biologischen Stärke ohne weiteres huldige. Er war zu fein daz.u.
Er sagt „die Starken", aber er meint die genialen, verfeinerten
Ausnalimemenschen: „Die großen .Abenteurer und Verbrecher'
und alle Menschen, die gesündesten voran (!), sind
gewisse Zeiten ihres Lebens krank" (Wille zur Macht, 671).
Er hat die feinsten und seltensten Qualitäten in das Wesen des
eigentlich ethisch indifferenten „Lebens" hineingeglaubt. Bald
aber ist ihm dieser Glaube abhanden gekommen. Er muß sich
selbst zugeben, daß der Beistand des „Lebens" bei der Verwirklichung
seines Menschenideals sehr fraglich ist. Er stellt
mit Bitterkeit fest, daß „die Schwachen" d. h. die Unvornehmen
und Mittelmäßigen im Vorteil sind, weil sie zahlreicher und
listiger sind als „die Starken", und setzt hinzu: „Es ist unsinnig
vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werte antibiologisch
sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem
Interesse des Lebens zur Aufrechterhaltung des Typus „Mensch"
selbst durch diese Methodik der Oberherrschaft des Schwachen
und Schlechtweggekommenen —". (Wille zur Macht, Stück
671). Also: Das Menschenideal Friedrich Nietzsches bleibt sich
gleich, aber er glaubt bald nicht mehr an die Verankerung
seines Ideals in einer übermenschlichen Wirklichkeit. Seine
ethische Totalanschauung ist nicht immer dieselbe und kann
als geschlossene Einheit nicht behandelt werden.

Bestehen bleibt aber "sein religiös bedingter Imperativ:
„Du sollst das Leben bejahen!" Über die Grenzen der Moral
kommt also auch Nietzsche nicht hinaus; sein Immoralismus
bedeutet tatsachlich nur einen Versuch, die landläufige Moral
durch eine andere zu ersetzen. Hat er doch den Philosophen,
d. Ii. sich selbst charakterisiert als „den Menschen der umfänglichsten
Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesamtentwicklung
des Menschen hat." Und von andern Im-
moralisten seiner eigenen Art sagt er: „Auch wir noch gehorchen
einem strengen Gesetze über uns — wir sind in ein
strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und
können da nicht heraus — auch wir sind noch Menschen
des Gewissens", wie der Verf. ganz richtig zitiert. Dann
aber hat dieser nicht das Recht zu behaupten, daß sich
Nietzsche gegen die moralische Fragestellung überhaupt wende
(S. 40). Doch wird diese Behauptung alsbald in einer Note
so begrenzt, daß sie sich sehr gut sagen läßt: Nietzsche
wende sich gegen „die Fragestellung gut-böse als eine in sich
selbst begründete, metaphysische Größe", was später widerlegt
wird: „Das Moralgesetz ist keine metaphysische, illusionäre
Größe, die wie ein Schwergewicht auf dem irdischen Leben
lastet, sondern ein notwendiger und allgemeingültiger Gesichtspunkt
im menschlichen Geistesleben" (S. 166). Daraus folgt
tür das praktische Leben ein einziges aber unerläßliches Gesetz-
„Du sollst recht leben!" Gegen diesen allgemeinsten Imperativ
konnte noch wollte Nietzsche revoltieren. Seine heftigen Ausfälle
gegen die „Tyrannei der Moral" erklären sich daraus, daß
er „kein Verständnis hatte für die formale Fassung der Moral'f