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Ausgabe:

1939 Nr. 6

Spalte:

203-205

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hempel, Johannes

Titel/Untertitel:

Das Ethos des Alten Testaments 1939

Rezensent:

Hertzberg, Hans Wilhelm

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203

Theologische Literaturzeitung 1939 Nr. 6

204

ALTES TESTAMENT

Hempel, Prof. Johannes: Das Ethos des Alten Testaments.

Berlin: Alfred Töpelmann 1938. (VIII, 287 S.) gr. 8° = Bein. z. Zeit-
schr. f. d. alttestamentliche Wissenschaft 67. RM 14 — .

Das neue, umfassende und großangelegte Buch Hs.
steht seinem Oehalt nach zwischen einer Alttestament-
lichen Theologie, etwa der Art von Ludwig Köhler
(Tübingen 1936), und einer israelitischen Kulturgeschichte
wie der von Alfred Bertholet (Göttingen 1919),
ist aber jener mehr benachbart als dieser. Denn es will
nicht das sittliche Handeln innerhalb des AT. beschreiben
, sondern die Wurzeln aufweisen, aus denen es erwächst
. Es bleibt also nicht bei den Einzelerscheinungen
stehen, so wie sie sich darbieten, sondern fragt
ständig, warum sie sich so und nicht anders darbieten.
Es wäre möglich gewesen, eine derartige Untersuchung
in einen geschichtlichen Rahmen zu fassen, wie es etwa
Max Lohr seinerzeit in seinem Buche „Israels Kulturentwickelung
" (Straßburg 1911) getan hat. Mit gutem
Bedacht hat H. diesen Weg, der der wissenschaftlichen
Situation jener Zeit durchaus entsprach, in seinem Buche
nicht beschritten. Es muß ja auch so sein: sind die Tatbestände
, die dem Ethos des AT. zugrundeliegen, richtig
gesehen, dann muß das ganze AT. davon betroffen
werden und nicht bloß dieser und jener Zeitabschnitt
oder dieser und jener Teil. Natürlich ist es dabei unvermeidlich
, daß gewisse Erscheinungen und Gedankenkreise
wiederkehren, und es ist ein Zeichen für die
Gründlichkeit, mit der dieses Buch gearbeitet ist, daß
solche Wiederholungen auf das sachlicn notwendige Maß
beschränkt worden sind.

Das Buch gliedert sich in fünf bezw. sechs große Abschnitte. In
dem ersten („Die Volkssitte und ihre Lehrmeister") wird von der „Mehrschichtigkeit
" der Sitte ausgegangen, die ihre Erklärung zum Teil in
dem für Israel vorauszusetzenden Rassegemisch findet, doch auch in der
Mannigfaltigkeit der politischen Geschehnisse, denen das Volk ausgesetzt
war, und der Verschiedenartigkeit der wirtschaftlichen Struktur. Hier
hätte rühig noch stärker auf das Hineinwirken der Landschaft — sowohl
in Bezug auf den Brückencharakter Palästinas wie auch auf die Unein-
heitlichkeit innerhalb des Landes — hingewiesen werden können. Der
am stärksten sittenbildende Faktor, der Einfluß von der Gottesseite her,
wird in den späteren Abschnitten hinreichend deutlich, wird aber auch
hier schon betont. Das kommt besonders da zum Vorschein, wo H. von
den „Lehrmeistern" der Volkssitte spricht: Priester, Propheten, Weise;
bei jedem von ihnen wird sehr fein die „Versuchung" aufgezeigt, die
aus ihrer Stellung sich ergeben kann und ergeben hat. Bei alledem
soll klargemacht werden, wie die „Entscheidung" und „Abgrenzung",
nämlich im Blick auf die „Auseinandersetzung mit fremdem Gut" (S. 29),
die Hauptmerkmale des israelitischen Ethos werden.

Der zweite Abschnitt erörtert unter der Überschrift „Kollektivismus
und Individualismus" die hier in Frage kommenden Spannungen. Daß
Beides ständig nebeneinander hergeht, wird mit Recht herausgestellt;
„der Kollektivismus" ist „mit dem VI. Jh. nicht ausgestorben" noch „der
Individualismus . . . erst im VIII. Jh. entstanden" (S. 44). Das Ineinander
wird vor allem auf den Gebieten des Rechtes und der Sittlichkeit
gezeigt. Es wird deutlich gemacht, wie der Personalismus des Jahweglaubens
antimagisch wirkt und den ethischen Personalismus des Großichs
und des Einzelnen bedingt, sehr im Unterschied von den entsprechenden
Gegebenheiten der anderen Völker. Eng damit verbunden ist
der dritte Abschnitt: „Die Gemeinschaft als ethisches Subjekt", worin
von Familie, Stamm und Volk gesprochen wird. Es wird ausgeführt,
vor allem beim „Volk", wie weitgehend innerhalb der Jahwereligion die
Gemeinschaft das Ethos prägt. Das Ethos ist „völkisch-religiös", nicht
„völkisch-politisch" ; es ist praktisch, indem es sich in der Gemeinschaft
auswirkt, nicht „zeitlos-theoretisch". Diese letztere Erkenntnis ist auf
das nachdrücklichste zu unterstreichen; sie ist m. E. von größerer Tragweite
, als es in dem Zusammenhang sichtbar werden kann, in dem sie
steht. Es ist überhaupt charakteristisch für das Buch, daß solche bedeutsamen
Einzelerkenntnisse hin und her auftauchen, bei denen man
länger verweilen möchte; sie erklären sich aus einer Gesamtschau, wie
nur ein Kenner wie H. sie haben kann.

Der vierte und längste Abschnitt („Die religiöse Entscheidung und
der indirekte Weg der Lebenssicherung") geht von der „Grenzlage"
Israels aus, dem Wissen um das Bedrohtsein des Lebens; da der „direkte
Weg der Lebenssicherung" sich als unzulänglich erweist, bleibt der
indirekte, der Weg über Gott, übrig. Wie öfter in dem Buche, tritt
auch hier die Wichtigkeit von „Bund" und „Erwählung" hervor; zugleich
tut sich dabei der — ins Judentum hinabführende - Abweg auf. Die

Minderwertigkeitsgefühle der „Pariasituation" haben das Ethos des Volkes
verdorben. Es wird dann gezeigt, was die „Entscheidung für

j Jahwe" auf dem eigentlichen Gebiet der Sittlichkeit bedeutet. Es handelt
sich insbesondere um die soziale Gerechtigkeit (Beziehung zu den Armen,

| der Frau, dem Sklaven, dem Fremden). Wirkt sich die indirekt leben-

j sichernde „Entscheidung für Jahwe" zunächst innerhalb der Gemeinschaft
aus, so gilt das natürlich auch für den Einzelnen, der sich ebenfalls
ständig bedroht sieht. Auch da erweist sich der indirekte Weg
der Lebenssicherung als der einzig mögliche; er gibt dem Ethos die
stärksten Antriebe, verdirbt es aber auch durch eine gesteigerte Betonung
des Lohngedankens. — Im fünften Hauptabschnitt („Die Abgrenzung
als religiöses und ethisches Prinzip") soll es um die inhaltliche
Färbung des israelitischen Ethos durch seine konkrete geschichtliche
Lage gehen. Im Hintergrunde steht die Gerechtigkeit Gottes; von ihr

! aus wird die Forderung der Gerechtigkeit an die Menschen gerichtet.
Und wie jene Gerechtigkeit sich je länger desto mehr mit Caritas füllt,
so auch diese. Es werden auf solche Weise mancherlei Auswüchse abgestoßen
. Die „Abgrenzung" gegenüber der sexuellen Orgiastik — bei
durchaus vorhandenem Ja des AT. zum geschlechtlichen Gebiet als solchem
— wird stark betont. Doch wird auch die Kehrseite des „Andersseins"
erwähnt: die Entstehung des Antisemitismus. Es wird gezeigt, wie in den
Abgrenzungsprozeß noch alte Tabuvorstellungen mithineinwirken, vor allem
aber, wie der „irrationale Gehorsam", der nicht nach Gründen fragt, sondern
nur gehorcht, weil Gott es will, sich als hochbedeutsam erweist.
Gut und Böse sind von Gott her bestimmt. Da liegt die Wurzel zur
„Reduktion" und „Konzentration", nämlich auf den Willen Gottes, dem
es einfach zu gehorchen gilt.

Das Abschlußkapitel „Gottesglaube und Ethos" arbeitet heraus, in
welchem Sinne in Israel, parallel zu Griechenland, von einer „Humanisierung
" gesprochen werden kann. Es handelt sich dabei um ein Abgehen
von den „wilden und grausigen Bildern", die sich noch bei den Propheten

i von Gott finden, und ein Hingehen zu einem Vater-Gott-Glauben sowie

I um das Sich-selbst-Schranken-setzen Gottes im Bundesgedanken. „Das
ist seine Humanität, daß er . . . sich selbst an Regel und Richtschnur

I bindet" (S. 202). Von daher ergibt sich die Forderung der Sittlichkeit,
je länger je mehr nicht als „heteronomes Gesetz, sondern als Gebote,
in denen mit dem Wesen Gottes auch das menschliche Wesen als sein

j Abbild zum Ausdruck kommt" (S. 203). —

H. macht dem Leser, wie man sieht, die Arbeit nicht leicht. Man merkt

I seinem Buch die jahrelange Beschäftigung mit dem Stoff, das Ringen um
die Einordnung der einzelnen Tatsachen, das Einarbeiten neuer Erkenntnisse
und Forschungsergebnisse, auch anderer Fachgenossen, auf Schritt und Tritt
an. H. führt seinen Leser nicht einen leicht überschaubaren Weg. Immer

i wieder schieben sich Zwischengedanken und Nebenzüge ein; es kann
vorkommen, daß ein „nicht nur" dasteht, und daß das entgegengesetzte

! „vielmehr" erst 49 Zeilen später auftritt. Die Sätze sind oft lang und
kompliziert, mit überreichem Inhalt beladen, in ihrer Diktion nicht selten
so, daß man sie mehrfach lesen muß, um sie zu verstehen. Dabei hat
H., offenbar um ein glatteres Lesen zu erreichen, die Anmerkungen, die
allein 72 Seiten im Kleindruck betragen — etwa ein Drittel des Ganzen! —,
an den Schluß gestellt; das ist recht unpraktisch, da man dauernd
blättern muß.

Man wird solch ein weitschichtiges Thema, wie es
mit dem Ethos des AT. gegeben ist, zweifellos in
| sehr verschiedener Weise anfassen können. Es besteht
keine unbedingte Notwendigkeit, es so zu tun, wie es
H. tut; es läßt sich aber auch nichts Grundsätzliches
dagegen sagen. H. hat es für richtig gehalten, den
Weg der „Strukturanalyse" in dem Sinne zu gehen,
daß er mehr die formalen Gesetze aufweist, die Kategorien
, in denen das Ethos verläuft. Man kann fragen,
ob es nicht glücklicher gewesen wäre, vom Inhaltlichen
her auch in der Anordnung des Ganzen die bestimmenden
und übergeordneten Gesichtspunkte zu wählen. In
der Tat sind im 2. und 3. Kapitel die übergeordneten
Gesichtspunkte („Kollektivismus", „Individualismus",
„Gemeinschaft") mehr inhaltlich bestimmt, als es im
4. und 5. Abschnitt der Fall ist; daher erscheint die Li-
j nienführung m. E. in diesen beiden Kapiteln mitunter
I etwas künstlich, weil sie allzu formal ist. Fraglich ist auch,
I ob H. mit der Einführung des Begriffes der „Humanisierung
" im Schlußabschnitt dem Wesen des alttesta-
I mentlichen Ethos gerecht wird. Aber es ist bei alledem
zu bedenken, daß mit dem Versuch solcher struk-
! turanalytischen Darstellung wohl eine der schwierigsten
| Aufgaben angegriffen worden ist, die die Wissenschaft
sich setzen kann. Schon daß sie angegriffen wurde,
| ist ein Verdienst; daß sie in so geistvoller und tiefgehen-
I der Weise durchgeführt worden ist, kann nur möglich
| sein bei einem so umfassenden Wissen — mit Stau-
i nen folgt man immer wieder den Einzelauseinandcrsct-