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Ausgabe:

1938 Nr. 7

Spalte:

131-133

Autor/Hrsg.:

Matthes, Heinrich

Titel/Untertitel:

Kirche mit lebendigen Gemeinden oder nur "Hause unter dem Wort"? 1938

Rezensent:

Wehrung, Georg

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131

Theologische Literaturzeitung 1938 Nr. 7.

132

Matth es, Heinrich: Kirche mit lebendigen Gemeinden oder
nur „Haufe unter dem Wort"? Untersuchungen über Wesen und
Wirken der „rechten Kirche" auf Grund des Neuen Testaments und
der reformatorischen Bekenntnisse. Darmstadt: in Komm. b. Joh. Waitz
1935. (IV, 93 S.) 8°. RM 1.75.

Ders.: Kommunismus, Reich Gottes, Kirche mit lebendigen
Gemeinden. Leipzig: J. C HInrichs 1938. (43 S.) 8°. RM 1.20.
Anlaß zu dieser Besprechung ist die zweite Schrift;
da aber die zuerst genannte, die der Verf. selbst als die
Grundlage der zweiten bezeichnet, in diesen Blättern
bis jetzt unberücksichtigt zu sein scheint, ist es angebracht
, auf sie zuvor einzugehen. — Die von F. Katten-
busch mit einem Geleitwort gewürdigte erste der zwei
Schriften ist die umfassendere, in gewissem Sinn auch bedeutendere
; sie untersucht in der Tat Wesen und Wirken
der Kirche auf Grund des NT.s und der reformatorischen
Bekenntnisse, zugleich wichtiger Äußerungen Luthers
. Der Titel läßt uns sofort die Gegenwartsbedeutung
der Studie erkennen. Der einst im orthodoxen
Luthertum verbreiteten, in der heutigen Repristinations-
theologie aufgenommenen Ansicht von der Kirche als
dem Haufen unter dem Wort, d. h. als einer bloß
hörenden, so passiven, die Predigt und mit ihr theologische
Begriffe vergangener Jahrhunderte stumm über
sich ergehen lassenden Gemeinde stellt der Verf. das
wahre neutestamentliche und ursprüngliche reformatorische
Bild von der Kirche als dem Inbegriff lebendiger,
vom wirksamen Gottesgeist durchwalteter Genieinden gegenüber
. Er gründet sich dabei auf die Erkenntnis, daß
das Evangelium eine Quelle der Kraft, daß heiliger
Geist Kraft, Ausrüstung mit dem heiligen Geist Begabung
mit Kraft bedeuten, daß das heilsgeschichtliche
Handeln Gottes die Gemeinde nicht in Untätigkeit hin-
einbannt, sondern zu lebendiger Wirksamkeit und Selbsttätigkeit
beruft. Allzulange habe der Protestantismus die
Wichtigkeit von 1. Cor. 12 für das Verständnis der
Kirche verkannt, mit Charis sei nicht bloß Begnadigung,
sondern auch Begnadung im völligen Sinn gemeint; die
reformatorische Aussage über die Kirche liege Aug. VII
nicht allein im Nebensatz, sie sei zunächst im Grundwort
congregatio-communio der Gläubigen zu suchen; Kirche
sei für die Reformatoren zuerst Gemeinschaft, in der
Christus mit seinem reichen Leben gegenwärtig wird;
Luther kenne keine reine Pastorenkirche, er wolle die
Mitarbeit der üemeindeglieder, für ihn sei die Kirche
ebenso sichtbar als unsichtbar (hier hätte außer auf
F. Kattenbusch auf die wichtigen Arbeiten von E. Riet-
schel hingewiesen werden sollen). Ebenso könne die
Verwirklichung der Lebensbeziehungen der Kirche nicht
bloß den weltlichen Zusammenhängen überlassen werden
: die neutestamentlichen Gemeindeordnungen seien
nicht das Erzeugnis der Natur, sie seien von der Gnade
herzuleiten, speziell von der Gnadenkraft der Regierung
und Leitung des in verantwortungsbewußten Persönlichkeiten
wirkenden Christusgeistes. Luther sei der Meinung
gewesen, daß die Ordnungen der Kirche aus Gottes Geist
und Wort erfolgen müßten und daß die Obrigkeit ihren
Dienst an der Kirche als Glied am Leibe Christi zu tun
habe. Auch Calvin wird hier wie billig gewürdigt. Unter
den Handlungen der Kirche werden stark und mit Fug
die gemeinsame Liebesübung und die Übung der vergebenden
und züchtigenden Liebe Christi untereinander
betont. H. Matthes fordert die Herausgestalrung evangelischer
Lebensformen gegenüber denen der nichtchrist-
lichen Kreise. Zweifellos hängt die Erhaltung der ev.
Kirche als Volkskirche davon ab, in welchem Maße sie
die Kraft hat, ev.-christliche Lebensordnumgen und Volks-
sitter. durchzuführen und damit zur Stärkung des Volkstums
selbst beizutragen. So wird in einem wertvollen
Stück die ev. Erziehung als die Einführung in die Lebensformen
der kirchlichen Gemeinschaft beleuchtet. Den
Höhepunkt des Ganzen bildet wohl der Abschnitt „die
lebendige Gemeinde als Trägerin der kirchlichen Handlungen
", — die Gemeinde in ihrem Kern nicht allein
Objekt, sondern auch Subjekt des kirchlichen Handelns,
wofür der Verf. die reformatorischen Zeugnisse insgesamt
auf seiner Seite sieht. Fast wundert man sich, daß

i diese wahren und wichtigen Gedanken heute noch so

: umsichtig verfochten werden müssen. Sulzes unvergeßliche
Losung hat einst zwar mannigfach anregend gewirkt
, kann sich aber offenbar unter dem Einfluß einer
eng gewordenen Theologie, von der gelegentlich Proben

i gegeben werden, nicht recht auswirken. Daß die Kirche
der Freiheit zur Gestaltung ihrer Lebensformen auch

i in unserer Zeit bedarf, daß sie ihre großen Vereine
bei ihrer Arbeit nicht entbehren kann, daß sie andererseits
in den Fußstapfen der Reformation im Staat nicht
zuerst eine Sündenordnung zu erblicken vermag, daß
lebendige Gemeinden eine Kraftquelle auch für den Staat
sind, lassen wir uns aus den letzten Abschnitten ebenfalls
gerne sagen. — Diese Schrift gehört zum Besten

| und Schönsten, was in unseren Tagen über das Wesen
der Kirche geboten ist; ich habe sie auch (nebst anderen
Quellen stücken) einer Seminaraussprache mit Nutzen zu

| Grunde gelegt. Wo mit ihren Gedanken Ernst gemacht
wird, werden sie sich jedenfalls bewähren. Es ist die
Pflicht der theologischen Wissenschaft, sie zu beachten
und sich mit ihnen gewissenhaft auseinanderzusetzen. —
Die zweite Schrift hat zunächst die Aufgabe, auf die
grundlegende erste hinzuweisen; sie will zugleich die
Fruchtbarkeit des Gedankens der lebendigen Gemeinden
in einer bestimmten Hinsicht dartun: hier in den lebendigen
Gemeinden erbaut sich ein Bollwerk, das dem
Kommunismus und seinen zerstörenden Kräften gegenübergesetzt
werden kann. Nicht aus dem Christentuni,
wie von deutschgläubiger Seite behauptet worden, ist
der Kommunismus hervorgewachsen, vielmehr aus antiken
Geistesströmungen, nicht zuletzt aus dein Platonis-
mus, eine These, für die sich Verf. auf die Forschungen
des Historikers Pöhlmann stützen kann. Diese antiken
Denkantriebe sind wie in manchen Erscheinungen des
alten Katholizismus, so dann von der Renaissance und
der Aufklärung her bei uns in den letzten hundert Jahren
wirksam geworden. Das ist richtig, doch wäre eine Auseinandersetzung
mit den paar neutestamentlichen Worten
oder Stellen, die in der Kirchengeschichte in dieser
Frage eine Rolle spielten, überhaupt eine kurze Besinnung
auf eine evangelische Schriftbenützung erwünscht
gewesen. Das Reich Gottes wieder stellt keine Utopie,
keine irdische Zukunftsgestalt dar, es hat theologische
Bedeutung, — wird aber vom Verf. nicht zu einseitig
sein Gegenwartscharakter hervorgehoben, umschließt es
nicht Gegenwart und Zukunft zumal, bekommt es seine
die Gegenwart erneuernde Kraft nicht gerade aus seinem

! Hingewandtsein zum endgültig hei einbrechenden Herrschafts
- und Machterweis Gottes? Ganz auf der Höhe

j ist dann die Ausführung über den Sinn der Kirche. Es

i kehren nicht nur die alten Einsichten wieder, sie finden

i auch eine neue Anwendung. Aus 1. Cor. 14 ergibt sich
die Forderung einer neben den Predigtgottesdienst tretenden
zweiten Versammlung, in der die Geineindeglieder
selbst mit den ihnen verliehenen Geistesgaben zur Erbauung
des Ganzen tätig werden; die Gruippenbewe-

j gung wird als Beispiel, nicht als Norm dafür genannt.

1 Überhaupt sollte die Kirchengeschichte als Geschichte

j der Gemeinde und des Gemeinschaftslebens dargestellt
werden (wofür Verf. auf eine eigene Ausführung verweisen
kann). In ein neues Licht tritt in Aug. VII der
Ausdruck congregatio statt oommunio, wenn wir an die

i kommunistischen Neigungen der Bauernschaft denken;

j so werden Apol.-Aug. XVI und XXVII mit wichtigen antikommunistischen
Sätzen gewürdigt. Dann nehmen wir

{ am Ringen um ein kirchliches Gemeindeleben gegenüber
der marxistischen Zersetzung teil, Wiehern und

1 Sülze kommen zu Ehren. Verf. beklagt es (unter Be-

i rufung auf letzteren), daß die freien kirchlichen Vereinstätigkeiten
nur lose mit der konsistorial geleiteten offi-

1 ziellen Kirche verbunden waren; mir scheint es zum
Wesen ev. Kirchlichkeit zu gehören, daß eine Sache von

I christlichen Personen und Gemeinden getragen sein kann,
ohne vom Konsistorium aus unmittelbar geleitet zu sein;
die Allgewalt konsistorialer und bischöflicher Organisa-