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Ausgabe:

1937 Nr. 7

Spalte:

128-136

Titel/Untertitel:

Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums 1937

Rezensent:

Tilemann, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1937 Nr. 7.

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kannt. Nun faßt W. alles Neuerarbeitete zusammen in
seinem Buch und wird damit der Gesamtkirchengeschichte
viel Anregung geben. Eine einheitliche Darstellung
war deshalb erschwert, weil das heutige
Württemberg viele Ausschnitte aus früheren schwäbischen
und fränkischen Herrschaftsgebieten und aus fünf
Bistümern zusammenfaßt. Aber die universalen Gedanken
der Kirche und des Imperiums geben eine kräftige
Klammer. Im engen Rahmen einer Landeskirchengeschichte
spiegelt sich das Leben des Mittelalters. Zudem
sind in Württemberg die Bodenfunde und die Urkunden
in einzigartiger Weise gesammelt und erforscht. Deutlich
zeigt sich auch hier für die Kirchengeschichte, daß die
Bodenfunde uns noch weiter zurückführen als die ältesten
schriftlichen Zeugnisse und immer neue Probleme
stellen.

Großes Interesse beansprucht die Einführung des
Christentums in Alamannien unter fränkischem Einfluß.
W. zeigt, wie der Herzog und der Adel hier vorangingen
und das Volk sich anschloß. Die alten Götter hatten
im italienischen Kriegszug 553 versagt. Ohne Kampf
setzte sich das Christentum durch. Märtyrer gab es
keine. Doch wissen wir noch zu wenig über die Erziehungsarbeit
der Kirche; das Fortwirken des Volksaberglaubens
ist noch nicht genügend bekannt und wie die
ganze Volksfrömmigkeit nur schwer zu fassen. Doch ist
W. auch hier gründlich zu Werk gegangen und hat aus
Chroniken und Heiligenlegenden Nachrichten aller Art
herauszuschälen gesucht und auch bei Urkundenfälschungen
durch die Frage nach dem Zweck Echtes und
Unechtes gesondert. Überall ist die geschulte Hand des
Historikers zu spüren. Die Gründung der ersten Pfarreien
und der vielen Klöster wird in ein neues Licht
gestellt durch die Frage nach den Hochadelssitzen
und Thingstätten der Hundertschaften. Die Entstehung
der ältesten Pfarreien ist noch wichtiger als die der
Klöster, unter denen Ellwangen und Hirsau als Gründungen
schon des 8. Jh.s hervorragen, wie sich nicht
bloß aus der schriftlichen Überlieferung, sondern aus den
Bodenfunden erschließen läßt.

Die Einzelforschung wird hier noch viel zu tun
haben. Die Frage nach der Größe der Hundertschaftsbezirke
und die nach der Entstehung der ältesten Pfarreien
gehen Hand in Hand. Auch die Frage der Entstehung
einzelner Bistümer z. B. von Konstanz und der
Landkapitel ist trotz der trefflichen Arbeit von Ahlhaus
noch nicht völlig gelöst. Beachtenswert ist hier
das Auftauchen des Ortsheiligen von Windisch S. Pela-
gius in Rottweil. Das muß um die Wende des sechsten
zum siebten Jh. gewesen sein und ist ein Anhaltspunkt
für die Entstehung des Konstanzer Bischofssitzes. Auch
verdient Bischof Gebhard III von Konstanz noch eine
genauere Untersuchung, ob er nicht der Schöpfer der
Landkapitelverfassung im Konstanzer Bistum ist und
diese nicht eine Frucht der kluniazensischen Bewegung.
Das Wort Dekan ist doch klösterlichen Ursprungs.

Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung zwischen
Kirche und Königtum. Beiden Seiten sucht der
Vf. gerecht zu werden. Abt Wilhelm von Hirsau findet
eine vorteilhafte Beleuchtung, obwohl seine Klosterordnung
und seine Gegnerschaft gegen Heinrich IV sehr
hart waren. Daß W. sehr viele Einzelheiten bietet, mag
dem Außenstehenden überflüssig erscheinen, ist aber
der Orts- und der Landesgeschichte sehr willkommen
und ermuntert sehr zu eigenen Studien. Und das ist vor
allem der Zweck einer solchen Territorialkirchengeschichte
. Jede einzelne Pfarrei sollte auf ihre Entstehung
genau untersucht werden. Für die durch Städtegründung
und Kirchenbau hellglänzende Stauferzeit ist
die von W. betonte Säkularisierung vielen Kirchenguts
durch Barbarossa beachtenswert.

Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit anderen
Meinungen unterläßt W., Zitate in lateinischer und griechischer
Sprache in den Anmerkungen sind ebenso zu
begrüßen wie das sehr eingehende Register, in dem man

nur einzelne Hinweise wie auf Doppelklöster, Fälschungen
, Frauenklöster, Inclusorien, Städtegründung und Vornamen
vermißt.

Das Buch ist nicht zum flüchtigen Lesen, sondern
zum eingehenden Studieren für jeden Freund der Ortsgeschichte
wie zum Nachschlagen für den Gelehrten
bestimmt und reizt zu weiteren Untersuchungen in jeder
Pfarrei, z. B. in der Frage des Bilderscbmucks aus romanischer
Zeit, wie er sich nicht bloß in Alpirsbach und
Belsen, sondern auch in Plieningen, Gemmrigheim und
Rietheim u. a. oft an wenig beobachtetem Ort findet.
Aber das schöne Buch zeigt auch wieder deutlich, wie
eingehende lokale Studien die Kenntnis der Geschichte
im Großen fördern, was Dietrich Schäfer und Karl
Müller den Württembergern unermüdlich eingeprägt
haben.

Stuttgart-Berg. O. Bossert.

Eiert, Werner: Morphologie des Luthertums. 2. Band: Soziallehren
und Sozialwirkungen des Luthertums. München: C. H. Beck
1932. (XV, 520 S.) gr. 8". RM 15-, geb. 18—.

E, hat sich als erster die Aufgabe gestellt, in geschichtlicher
Darstellung das Luthertum als ein Ganzes
sichtbar zu machen. Der 1. Bd. umfaßte die Theologie
und Weltanschauung des Luthertums hauptsächlich
im 16. und 17. Jhdt., der zweite behandelt die Soziallehren
und Sozialwirkungen. Ist es dem Verfasser im 1. Bd.
darum zu tun gewesen, als den evangelischen Ansatz
die Entstehung des Glaubens aus dem Evangelium
herauszuarbeiten, die ausschlaggebende Dynamis
für die Gestaltwerdung des Luthertums, so wird im 2.
Bd. zunächst den pragmatischen und ethischen Ansätzen
der Soziallehren und Sozialwirkungen ein ausführliches
Kapitel gewidmet.

Der Teil der menschlichen Gesellschaft, in dem das
Luthertum wirksam wurde, weist gemeinsame Züge auf,
die auf eine einheitliche Dominante schließen lassen.
Wie im 1. Bd. geht der Vf. von den Motiven aus
und versucht, die in der Geschichte erkennbaren Bewegungen
und Veränderungen auf sie zu beziehen. Er verkennt
die Schwierigkeiten dieser Methode nicht, die insbesondere
darin zu suchen sind, daß das Luthertum bei
seinem Eintritt in die Geschichte eine bereits gestaltete
Gesellschaft vorfand und sich also nur im Wettbewerb
mit anderen Antrieben durchsetzen konnte. Der von
E. eingeschlagene Weg bietet den Vorteil, daß die inhaltliche
Bestimmtheit der Motive deutliche Wegweiser für
die Richtung gibt, in der die Wirkungen zu suchen sind.
Es zeugt aber für eben die Sorgfalt in der methodologischen
Grundlegung, die dem 1. Bd. eigen ist, daß E.
seine Darstellung auch in Beziehung zu den vorherrschenden
Auffassungen der Soziologie setzt, die grund'-
sätzlich die Ordnung der »menschlichen Gesellschaft ebenfalls
als eine ethische Angelegenheit ansehen, in der
Ausführung aber den ethischen Begriffen den Vorrang
nicht lassen. Indessen handelt es sich für E. nicht um
eine Sozialphilosophie, die aus ethischen Begriffen deduziert
werden könnte, sondern — dies ist eine der beherrschenden
Gesichtspunkte der ganzen Untersuchungen —
für die Ermittelung der soziologischen Bedeutung des
Luthertums sind die historischen Gegebenheiten ausgiebig
zu berücksichtigen. Deshalb würdigt der Vf. auch
| das reine Pragma der Geschichte, und die ethisch neu-
i trale Begriffsbildung der Oekonomik und der Biologie
kann nicht entbehrt werden.

Um die pragmatischen Folgen der Reformation
für die gesellschaftliche Stellung der Kirche abzumessen
, ist zu beachten, daß die Degradierung des Papsttums
und der von ihm geleiteten Kirche längst begonnen
hatte. Aber der Kampf L's. hat die Herrschaft des
Papsttums für einen erheblichen Teil Europas wirklich
! zerbrochen, doch so, daß die Kirche und ihr bestimmender
Einfluß auf die der Reformation erschlossenen Völker
gerettet wurden, und der Ansatz zu einer befriedigenden
Einordnung der Kirche in das Zusammenwirken