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Ausgabe:

1936 Nr. 17

Spalte:

315-318

Autor/Hrsg.:

Bettermann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Theologie und Sprache bei Zinzendorf 1936

Rezensent:

Völker, Walther

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315

Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 17.

316

Bettermann, Wilhelm: Theologie und Sprache bei Zinzen-
dorf. Gotha: Leopold Klotz 1935. (IX, 249 S.) S° RM 7-.

B. will mit diesem Buche Verständnis für die Sichtungszeit
erwecken, die von Freund und Feind so verschieden
beurteilt worden ist, und er will diese so wich- I
tige Epoche mit Zinzendorfs Theologie in Zusammen- 1
hang bringen, anstatt sie als Kuriosum zu werten,
oder sie ganz unberücksichtigt zu lassen. Kolbing und
Reichel haben hierbei zwar gewisse Vorarbeiten ge- |
leistet, aber B. gebührt das Verdienst, diese ganze
Frage in systematischem Zusammenhange gründlich er- .
örtert zu haben.

Vergleicht man sein Buch mit dem Plitts, so be- i
merkt man schon in. der grundsätzlichen Fassung von ,
dem, was Zinzendorf unter Theologie verstanden hat, j
einen bedeutsamen Fortschritt. Legte Plitt seiner Dar- |
Stellung ein bestimmtes dogmatisches Schema zu Grunde, j
in das er Zinzendorfs jeweilige Ansichten einfügte, !
so bemüht sich B. zunächst um eine Wesensbestimmung
von Zinzendorfs Theologie selbst und deutet !
von hier aus alle Einzelerscheinungen, versteht alle j
Gewagtheiten und Entgleisungen, gewinnt sogar eine 1
Erklärung für die Eigenart der Sprache. Dieses Wesen
von Zinzendorfs Theologie sieht B. in ihrem antirationalistischen
und dynamischen Charakter (S.lOff.), „sie
ist ein Organismus, ein Gebilde voller Leben und Be- j
wegung" (S. 105), sie besitzt „einen leitenden Gedan- !
ken", der alles „bis in alle nur möglichen Verästelungen j
hin" (S. 106) durchdringt. Dieser Grunderkenntnis paßt [
sich B.s ganze Darstellung vorzüglich an. Sie ist un- i
gemein beweglich, geht nie von einer vorgefaßten Meinung
aus, sondern umkreist das Problem, dabei immer
engere Kreise ziehend und vom Allgemeinen ins Besondere
vorstoßend. Eine Skizze der „Grundlinien der
Theologie Zinzendorfs" (S. 8—24) bildet den Ausgangspunkt
, Zinzendorfs „Stellung zur Mystik" (S. 25—37),
zum „Hohen Lied" (S. 38—46) leiten weiter, bis mit
dem 4. Kapitel eine Behandlung der theologia crucis einsetzen
kann (S. 47 ff.), deren Wesen und Bedeutung
nach vielen Seiten hin entfaltet wird: B. deckt ihren
„lutherischen Sinn" auf (S. 55—64), weist auf den
„biblischen Realismus" hin (S. 65—75) und auf dessen
„geistige Art" (S. 76—94). Untersuchungen über
„die eschatologische Bestimmtheit von Zinzendorfs
Theologie und Sprache" (S. 122—146), über „Glauben
und Sehen" (S. 147—169), über „Die Gottesfrage
" (S. 170—183) und die „Wahrheitsfrage" (S.
184—207), beschließen das Interessante Werk, dessen
Mittelteil Zinzendorfs Bildersprache eingehend behandelt
(S. 95 ff.).

Es ist in diesem Zusammenhange leider nicht möglich
, auf die vielen feinsinnigen Beobachtungen B.s
einzugehen, auf die Rolle, welche die Empfindung als
Erkenntnisorgan spielt (S. 16), wie die Bilder an Stelle
der dicta probantia der Orthodoxie treten (S. 73), wie
sie erkenntnisbildend sind (S. 142) und die Funktion
von Begriffen einnehmen (S. 20, cf. auch S. 81,
97, 100, 103, 142), wie sie in engem Zusammenhang
mit der Schrift stehen (S. 67, 69, 75), ein tietov in
sich enthalten (S. 193), so daß der Geist in ihnen
Fleisch wird (S. 142), bzw. die Wahrheit: Wirklichkeit
(S. 193). Es zählt mit zu den reizvollsten Partien
des Buches, wie B. zeigt, daß das Konkrete bildhaft
wird, um dann zum Allgemeinen zu streben (S. 151),
oder wie die Seitenwunde, deren große theologische j
Bedeutung eingehend dargelegt wird (S. 102), fast I
„ein Begriff, ein Dogma" (S. 102) wird, um dann i
plötzlich wieder persönlich gefaßt zu werden (S. 103).
Ein besonderes Verdienst hat sich Verf. dadurch er- J
worben, daß er zum Verständnis von Zinzendorfs Theo- j
logie ständig auf das Kirchenlied hinweist (S, 139 |
u. ö.), daß er sorgsam auf das achtet, was Zinzendorf
vom Pietismus trennt (cf. z. B. seine Ausführungen
über das Gefühl als Symptom des Glaubens
, S. 156 f.) und was ihn mit diesem verbindet, ;

daß er die Verbindungslinien zum Luthertum erkennt
und zugleich das aufspürt, was den Grafen mit seiner
Zeit verbindet (z. B. S. 116).

So stellt B.s Buch eine bedeutsame Förderung der
Zinzendorf-Forsehung dar, und wenn der Rezensent
zum Schluß noch einige Bedenken zur Sprache bringt,
so ändert das nichts an diesem Urteil. Was die Darstellung
von Zinzendorfs Theologie selbst anbetrifft,
so wird man zugeben, daß das Kapitel über „Die eschatologische
Bestimmtheit von Zinzendorfs Theologie und
Sprache" (S. 122 ff.) reich an feinen Beobachtungen
ist, aber gleichwohl ist mir nicht klar geworden, was
B. eigentlich unter Eschatologie versteht. Plitt überschreibt
das betr. Kapitel richtig mit „Letzte Dinge"
und weiß dann wenig hierüber auszuführen, B. will
den Nachweis erbringen, „daß die wichtigsten Stücke
seiner Theologie: Christologie, Rechtfertigung, Heiligung
und andere eschatologisch ausgerichtet sind" (S.
124). Aber ist das Eschatologie, wenn B. nachweist,
daß für Zinzendorf die Gemeinde beim Gottesdienst den
Kontakt mit den Vollendeten spürt (S. 128), daß sie
beim Abendmahl eine neilige Handlung erlebt, die man
sich auch „im Vollendungssaale" nicht „vollkommener"
vorstellen kann (S. 129), daß die Brüder freudig sterben
, um der oberen Gemeinde zugezählt zu werden
(S. 133 ff.)? Warum spürt man beim Abendmahl die
Nähe des „eschatologischen Christus" (S. 129), warum
nicht die des erhöhten Herrn, und was soll es bedeuten,
wenn B. den Abstand von Sichtbarem und Unsichtbarein
als eine „eschatologische Kluft" (S. 144) bezeichnet,
die gerade durch die anstößigen Bilder offenbart wird?

Erheblicher sind meine Bedenken gegenüber B.s Versuchen
, Zinzendorfs Theologie richtig in den üesamt-
verlauf der protestantischen Theologie und Frömmigkeit
einzuordnen. Seine ürundthese lautet, daß Zinzendorf
eine Mittelstellung zwischen Luthertum und Pietismus
eingenommen habe (S. 158, 166 u. ö.), daß er
ein Luthertum in Barockform vertreten habe (S. 106),
daß gerade die Blut- und Wumdentheologie ein Zurückgewinnen
lutherischer Positionen bedeute (S. 61),
daß die Lieder Ähnlichkeit mit denen der Reformation
haben (S. 60, 80. 108). Aber mir ist es nicht klar geworden
, ob B. mit dem allen nur eine rückläufige Bewegung
zum älteren Luthertum, oder zu Luther selbst
annimmt. Er drückt sich bald in diesem, bald in jenem
Sinne aus. Er weiß natürlich auch um den Abstand
Zinzendorfs von Luther, aber gleichwohl unternimmt
er energisch den Versuch einer Anglekhung, der in
manchen Punkten zum Widerspruch herausfordert. Mit
Vorliebe spricht B. von der theologia crucis bei Zinzendorf
, aber sie ist doch nur „das niedrige menschliche
Leben und das Leiden und Sterben Jesu" (S. 53),
es fehlen ihr also gerade die paradoxen Spannungen
Luthers; wenn Zinzendorf in seinen Liedern abstoßende
Ausdrücke wählt, um gerade dadurch das Hohe und
Erhabene auszudrücken, so ist das nur vom Barock
her zu verstehen (cf. S. 54) und hat nichts mit Luther zu
tun, und B.s Satz: „Es ist paradoxe Theologie, theolo ;ia
crucis. Das Kreuz, das Leiden Jesu, tritt in den Vordergrund
" (S. 87) könnte in dieser allgemeinen Forin
auch auf Bernhard von Clairvaux zutreffen (cf. S. 44).—
Wie groß ist der Abstand Zinzendorfs von Luther, wenn
Zinzendorf meint, daß „das Blut Christi wirklich die
Welt tingiert und gesalbt hat. Es ist nicht nur moralisch
, sondern sozusagen physikalisch" (S. 57)!
Das klingt mehr nach Oetinger als nach Luther, und
wenn B. auch hier eine Parallelisierung von Zinzendorf
und Luther versucht durch den Hinweis, daß auch
Luther im Kampfe gegen die Schwärmer die Realität
des Blutes im Abendmahl betont habe (S. 58), so
liegt dies fraglos doch auf einer ganz anderen Ebene.
Wie weit Zinzendorf in Wirklichkeit von Luthers Abendmahlslehre
entfernt war, zeigt allein die Tatsache, daß
Christus „als in Menschengestalt zum Himmel Gefahrener
. . . nicht allgegenwärtig" sei (S. 162). — B.