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Ausgabe:

1934 Nr. 26

Spalte:

468-469

Autor/Hrsg.:

Rappaport, Salomo

Titel/Untertitel:

Agada und Exegese bei Flavius Josephus 1934

Rezensent:

Rengstorf, Karl Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. 26.

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die Entdeckung des Kosmos als einer Weltnorm, die das
rationale Denken Anaximanders dem in Auflösung begriffenen
Mythos entgegenstellt, durch die umstürzende
Kühnheit seiner Idee, und das neue Weltbild findet bald
in Xenophanes den Mann, der die Weisheit als neue
Arete dem agonalen Ideal des Adels vorhält. In Theo-
gnis und Pindar lebt der Widerstand des mutterländischen
Adels gegen die vordringende jonische Kultur. Theognis'
Adelsethik ist aber nur noch die eines heruntergekom-
menen Standes, der schon im Begriff steht, sich mit
Plebejern zu mischen. In Pindars Versen wird der
heroische Geist des Epos wiedergeboren; nur wo Areta
im Blute liegt, ist nach ihm Erziehung möglich. Die
Kulturpolitik der Tyrannen beschließt die erste Hälfte
des Bandes. Sie sind nicht eigentlich Erzieher der Bürger
zu politischer Arete wie die großen Oesetzgeber,
aber die Vorläufer der leitenden Staatsmänner in den
späteren Demokratien, und diese haben ihre Kulturpolitik
übernommen.

Das zweite Buch würdigt die Dramatiker, die Sophisten
und Thukydides. Die Tragödie gibt der griechischen
Poesie die Einheit alles Menschlichen zurück, die das
Epos gehabt hat. Nichts kennzeichnet ihre erzieherische
Stellung besser, als daß die öffentliche Meinung sie für !
den Geist im Staat verantwortlich macht. Diese hohe
Auffassung hat sich im Anschluß an Aischylos' Spiel
herausgebildet, dessen Erziehertum in seiner Gebundenheit
an den vom Stolz auf seine Siege erfüllten Staat
beruht. Wirkt Aischylos als Künder religiöser Gedanken
, so Sophokles durch seine Gestalten, die er selbst
als Menschen, wie sie sein sollten, aufgefaßt wissen will.
Damit erleben wir zum ersten Male das Vorhandensein
eines bewußten Bildungsstrebens, das sich aus dem
anthropozentrisch gewordenen Denken der Zeit erklärt.
Aus der Erkenntnis der Seele als des Zentrums des
Menschen erwächst das neue Areteideal der seelischen
Geformtheit. Damit ist der Übergang zu den Sophisten
gegeben, die J. zwischen Sophokles und Euripides schaltet
. Sie sind die Träger der Erziehungsarbeit der Polis,
die die feudale Arete durch bewußte Formung des Geistes
zu beseitigen sucht. Lag die Adelsarete im Blute, so
beherrscht die neue Bildung der optimistische Glaube an
die Erziehbarkeit der menschlichen „Natur". Mit seiner
Unterscheidung zwischen technischem Können und höherer
Menschenbildung, die für ihn zugleich politische Bil-
dang ist, hat Protagoras den ersten Humanismus be- I
gründet. Der bildungsgeschichtliche Gesichtspunkt J.s
erweist sich hier als sehr fruchtbar: als Vermittler eines
allgemeinen Wissensstoffes und als formale Geistesbildner
vertauschen die Sophisten ihren Platz in der Geschichte
der Philosophie mit einem solchen in der Geschichte
der Bildung. Wenn die Sophistik mit Sophokles
in der harmonischen Entfaltung der Seele übereinstimmt, t
so hat sie mit Euripides die Unsicherheit in der Begründung
von Politik und Moral gemein. In ihm reißt noch
einmal die Dichtung die Führung an sich, freilich um den
Kräften Raum zu geben, die sie zerstören sollten. Bürgerlicher
Realismus, Rhetorik und Philosophie, die neuen
Stilmittel, kündigen die kommenden Bildungsmächte an
und ihren Träger, den hellenistischen Menschen. Auch
die Komödie des Aristophanes ist sich ihrer erzieherischen
Aufgabe bewußt. In ihrer Kritik an Staat, Erziehung
und Kunst liegt nicht ein Kampf gegen, sondern !
für den Staat. Das Bild des Thukydides rückt J. zurecht,
indem er in ihm den politischen Denker sieht, in dem
nicht das geschichtliche Denken politisch, sondern das ''
politische geschichtlich wird. Das Suchen der Wahrheit I
überträgt Thukydides von der jonischen Naturphilosophie
auf die politischen Kämpfe der Gegenwart, aus de-
ren objektiver Betrachtung künftige Geschlechter lernen
sollen. Wirkungsvoll läßt J. sein Buch in einer Würdigung
der Leichenrede des Perikles gipfeln, unter dem
Athen zur hohen Schule Griechenlands wurde.

Die Ausführungen des Verfassers sind die Frucht
seiner gelehrten Vorarbeiten, die man sich gewissermaßen

als Anhänge des Buches zu denken hat. Die Beschränkung
der Anmerkungen zuallermeist auf Stellen- und
Literaturnachweise empfindet man angenehm; ebenso
wird der des Griechischen Unkundige den Verzicht auf
Wiedergabe von Zitaten in der griechischen Sprache begrüßen
. Wirkt die Darstellung schon durch die gedankliche
Durchdringung und sprachliche Gestaltung, so
vollendet sie sich in der Ausgeglichenheit zwischen der
die Forschung fördernden Einzelarbeit und der zum Ganzen
strebenden Zusammenfassung. Dazu kommt auch
die schlichte Vornehmheit der äußeren Ausstattung, die
der Verlag dem Werk hat angedeihen lassen.
Northeim._O. Breith aupt.

Rappaport, Dr. phil. Salomo: Agada und Exegese bei Flavius
Josephus. Wien: Verlag der Alexander Kohut Memorial Foundation
1930. (XXXVI, 140 S.) gr. 8°. = Veröffentlichungen der Oberrabiner
Dr. H. P. Chajes-Preisstiftung an der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt
in Wien. Band III.

Eine Sammlung der agadischen und exegetischen
Zusätze zur Bibel bei Josephus und der Vergleich des
so gesammelten Stoffes mit den agadischen und exegetischen
Zusätzen zur Bibel in der übrigen jüdischen Literatur
, besonders der rabbinischen, aber auch mit der
vom Judentum abhängigen oder beeinflußten, darunter
auch dem Neuen Testament, ist in doppelter Hinsicht
von Bedeutung. Einmal stellt sie einen entscheidenden
Beitrag zur Erfassung der Persönlichkeit des Josephus
dar, da sie uns die Möglichkeit gibt, seine Stellung innerhalb
der jüdischen Bildung seiner Zeit klarer zu bestimmen
. Daneben aber bietet dieser seinerseits in seinen exegetischen
und agadischen Überlieferungen die Möglichkeit,
Feststellungen über das Alter entsprechender rabbinischer
Überlieferungen zu machen, und das ist umso wichtiger,
als diese zum großen Teile in verhältnismäßig jungen
Teilen der spätjüdischen Literatur erscheinen. Diesem
Tatbestande gegenüber ist es erstaunlich genug, daß die
Arbeit von Rappaport der wichtigen Aufgabe zum ersten
Male in grundsätzlicher Weise nachgeht; es lagen ihm
wohl schon Vorarbeiten vor, besonders von J. Weill
in der französischen ' Josephus-Übersetzung, soweit sie
schon erschienen ist, im wesentlichen hat er sich den
Weg zu seinem Ziel aber selbst bahnen müssen.

Das Ergebnis ist in erster Linie eine umfassende
Stoffsammlung. Ihre Benutzung ist dadurch erleichtert,
daß der Vf. sie sehr übersichtlich angelegt hat. Zunächst
gibt er die aus den Antiquitates gesammelten
Stücke, und zwar unter Zugrundelegung der Anordnung
des biblischen Stoffs (S. 1—69), dann die Stücke aus
dem Bellum und der Schrift Contra Apionem (S. 69-71).
Die einzelnen Traditionen sind außerdem von 1—299
durchgezählt. Die Verweise auf die Parallelen folgen
S. 72—136 am Schluß des Bandes. Sie berücksichtigen
neben der rabbinischen Literatur auch Philo und den
jüdischen Hellenismus, die Apokryphen und Pseudepi-
graphen und sogar noch die christliche Literatur bis hin
zu den Kirchenvätern, sowie auch die arabische Literatur,
soweit sie verwandte Überlieferungen enthalten. Die
einschlägigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind
in erheblichem Umfange eingearbeitet oder doch notiert.
Das so entstehende Bild zeigt Josephus mitten im Strome
einer kräftigen agadisch-exegetischen Tradition, und
zwar vorwiegend als ihren Nutznießer, der es nicht selten
auch an der notwendigen Sorgsamkeit bei ihrer Benutzung
hat fehlen lassen, nur selten als einen, der an
ihrer Vermehrung mitgearbeitet hat. Rappaport vermutet
dabei, im wesentlichen sogar Abhängigkeit von schriftlichen
Vorlagen (S. XVII ff.); doch kommen wir hier
zunächst noch nicht über einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad
hinaus und bedürfen weiterer Einzeluntersuchungen
. Andererseits lassen erst die Sammlungen
Rappaports die Bedeutung erkennen, die Josephus für
die alte Kirche und ihre biblische Erzählung besessen
hat. Aber ganz abgesehen von diesen Ergebnissen bietet
das Buch eine Fülle von Material für die Beschäftigung
mit den verschiedenen Fragen, die sich beim Studium