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Ausgabe:

1932 Nr. 12

Spalte:

272-274

Autor/Hrsg.:

Schnitzer, Joseph

Titel/Untertitel:

Die Erbsünde im Lichte der Religionsgeschichte 1932

Rezensent:

Koch, Hugo

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Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 12.

272

Zunächst hätte der Verf. gut daran getan, die von
ihm so gepriesene Übernationalität J.s auch selbst zu
betätigen, und zwar auf dem Gebiete der wiss. Literatur!
Schon die englische Literatur ist unvollständig. G. zitiert
: Buttenwieser: The Prophets of Israel; Welch:
Jeremiah; Peake's Ausführungen über J. in der Cent.
Bible; Edgehill: Evid. Value of Prophecy; Skinner:
Prophecy and Religion; G. A. Smith: Jeremiah; Loft-
house: J. and the New Covenant; Gray's: Forms of
Hebrew Poetry. Von deutscher Literatur begegnet nichts
als H. Cornill: Das Buch Jeremia, sowie H. Schmidt:
Die großen Propheten. Die deutsche Wortlaut-Zitierung
ist zudem noch fehlerhaft. Was hätte er über die Frömmigkeit
bei Sellin, über die Dichtkunst bei Duhm und
Budde, über die Politik bei Gunkel, über die Psychologie
bei Hölscher wohl alles lernen können! Zu welcher Vertiefung
bei seinem oft so oberflächenhaftenden Blick, der
den Leser viele Ausrufezeichen und Fragezeichen machen
lassen möchte, hätte ihn Volz erziehen können! Wie
fein und viel richtiger als G. hat Hertzberg das wirklich
Neue in J., den Auftauchen und Ausgleich der Zwiespältigkeit
in J.s Seele, zwischen Gottesbote und Mensch,
begriffen und dargestellt!

Bezüglich der Methode ist zu sagen, daß Heranziehung
weitester Parallelen in Vorträgen gewiß dienlich
sein kann. Aber das darf sich dann nicht zu Abschweifungen
auswachsen, die der Gedankenzucht ermangeln,
es darf sich nicht um schlagwortartige Neuaufmachung
handeln, um ein Suchen nach zeitgemäßen Überschriften
, Namen, Ineinssetzungen. Diesen Eindruck gewinnt
man aber im vorliegenden Buch. Warum sollten, wie es
geschieht, nicht auch Augustin, Franz v. Assisi, Fox,
Milton, Schleiermacher, selbst Hamlet, Napoleon und
Mussolini aufmarschieren dürfen, wenn man mit ihnen
etwas verdeutlichen kann? Aber das darf dann nicht zu
Schematismen und Verzeichnungen führen, indem man
stets Ähnlichkeit, aber keine Unterschiede zeigt. Jeanne
d'Arc und Cromwell waren doch wohl von anderer Seelenkonstruktion
als die Propheten des A.T.! Dieses
stete Verallgemeinern scheint mir aber nun noch tiefer
begründet: Dem Verf. mangelt das tiefere Verständnis
für Wesen, Eigenleben, Eigenreich und Eigenkraft der
Frömmigkeit. So wichtig und ertragreich die moderne
Psychologie gerade für das Verständnis des Propheten-
tums ist, sie kann doch nicht mit einfacher und kritikloser
Übernahme verwandt werden! So versteht der
Verf. auch nicht die Vielgestaltigkeit der Frömmigkeit.
Dies mangelnde religiöse Einfühlungsvermögen und Verständnis
scheint mir das prinzipiell Angrifflichste des
Buches zu sein. Ich möchte es an zwei charakteristischen
Beispielen verdeutlichen: Politik und Mystik.

Ist die vorgenommene Scheidung in Politiker und
Staatsmann wirklich aus den Tatsachen gegeben? Ist
der Staatsmann der gläubige Gottesknecht? Umgekehrt:
Ist der gottbeauftragte Prophet, dessen Gottesgefühl
übernational ist, ein „Staatsmann"? Nein! Nicht „Weltbewußtsein
", sondern weltweite Offenbarung hatte, d. h.
erlebte, J. Stellen wie Jes. 37, 35 oder Arnos 3, 2 als
Beweis für den engeren Horizont von „Politikern" anzuführen
, im Gegensatz eben zu dem weiteren des Staatsmannes
J., ist ganz unberechtigt. Jes. 37 ist falsch verstanden
; eine prinzipielle Uneinnehmbarkeit wird ja da
garnicht verkündigt! Hier lebt Glaubensgewißheit für
den einzelnen Fall.

Es ist ja gewiß richtig und auch vielfach betont,
daß der Gebrauch des Wortes „Mystik" nicht einheitlich
ist. Aber den weitesten Umrissen nach wird doch
wenigstens Übereinstimmung vorausgesetzt werden dürfen
. Für das alles aber, was der Verf. im Leben des
J. „Mystik" nennt, ist diese Bezeichnung mit Entschiedenheit
abzulehnen. Oder die Tatsachen, die sie begründen
sollen, sind als falsch gedeutet zu bezeichnen.
Im Beginn des Buches ist Ekstatik ein Zeichen für untergeordnete
Prophetie, hier auf einmal für — Mystik!
„Männer der Welt" sind die Mystiker ja wohl gerade

j nicht zu nennen! Sie wollen auch nicht kurze Begegnungen
mit der Gottheit, sondern langen Genuß. Sie
werden nicht erdrückt, sondern gerade befreit von ihrem
Erleben! Gerade die mittelalterliche M. hat der Verf.
garnicht verstanden. Daß man nicht heiratet, ist ja wohl
auch kein Zeichen für Mystik! Mystik gibt es eben erst
im nachbibl. Judentum. Was der Verf. „myst." Frömmigkeit
nennt, wird üblicherweise gerade als das Gegenteil
, eben als „prophetische", angesehen! Nicht Naturerlebnisse
als solche werden dem J. zum „tremendum",
sondern was er visionär an ihnen erlebt, das ist ihm
Gottesoffenbarung und Gottesauftrag! Der Mandelzweig
etwa an sich war doch bei dem bekannten Erlebnis absolut
unwichtig. Metapher und Symbol an sich sind ja
| gewiß auch keine Beweise für Mystik. Hegel soll ja
nach dem Verf. auch „mystisch" sein.

Anzugreifen wäre gewiß schon der Titel des Buches;
j das „Rebell"-Sein ist doch ganz gewiß unter den Pro-
j pheten nicht das Monopol Jeremias! J.s Verhältnis zum
| Deuteronomium wird nicht richtig gezeichnet. Die Cha-
j rakteristik der „niederen" Prophetie ist viel zu ober-
I flächlich und schematisch. Der Verf. hätte gerade
i dazu eben Hölscher studieren müssen! Der Abschnitt
( über die hebr. und zumal jeremianische Dichtkunst ist
i merkwürdig ungelehrt und „dünn"! Verf. kennt anschei-
| nend nur Gray. Poetische Bilder haben andere alttesta-
I mentliche Schriften ja wohl auch, nicht nur prophetische!
Weder Sievers noch Rothstein kennt der Verf.

Das beste Kapitel scheint mir das über J. und Jesus
zu sein. Aber es ist doch gewiß nicht das wichtigste.
Hier ist der größte Teil der angestellten Vergleiche
| richtig.

Daß der Gottesname als „Jehovah" begegnet, sei
eben nur erwähnt.

Auch auf außerreligiösem Gebiete begegnet man
recht merkwürdigen Vorstellungen. Wollen die Dichter
wirklich „beruhigen"? Man könnte ebenso das Gegenteil
behaupten. „Die" Dichter wollen die Menschen aufrütteln
und wach machen! Gerade an dem eben Genannten
läßt sich anknüpfen, um zu zeigen, daß hinter
dem Buche eine Weltanschauung steht, die mit der
Nation des Verf.s eigentümlich verbunden ist, bzw. von
vielen als verbunden vorgestellt wird, die auch bei
diesem Buch die Feder geführt haben mag: Eine gewisse
eudämonistische und diesseitsfrohe Einstellung: das dies-
i seitige Menschenleben als Entfaltungsort der Höchstwerte
; der Glaube an den steten Aufstieg des Menschengeschlechtes
, den „Fortschritt in der Geschichte". Ist
es doch auch der Empirismus, der den Verf. bei den niederen
Proph. gleich von „Selbsthypnose" sprechen läßt.
| Es wird positivistisch allzuviel begriffen und gedeutet
' „von unten aus", vom Greifbaren und Sichtbaren
her, mit Unterscheidungsmaßstäben aus dem profanen
Denken.

Ober-Breidenbach i. Hessen. Adolf Wendel.

Schnitzer, Josef: Die Erbsünde im Lichte der Religionsgeschichte
. Eine religions- und dogmengeschichtliche Abhandlung.
(Sonderdruck aus: Studi e Materiali di Storia delle Religioni Bd. VII,
1931). Bologna: Nicola Zanichelli 1931. (68 S.) gr. 8°.
Naturmenschliches Denken betrachtet die Sünde,
namentlich die geschlechtliche Sünde, als einen Krankheitsstoff
, der sich auf die Nachkommen fortverpflanzt.
Ist dabei auch im Grunde nur an die Folgen, an ein
Erbübel oder Erbverderben gedacht, so wird dieser doch
häufig selbst als Sünde bezeichnet. Im Gebiet der höheren
Religionen läuft dieser magische Sündenbegriff als
Unterströmung weiter, und so finden sich seine Spuren
auch im AT. Auch die Erzählung vom Sündenfall der
1 Stammeltern läßt diesen Sündenbegriff durchblicken, aber
i von einer Ausdehnung des Fluches, und gar der Sünden-
! schuld, auf die Nachkommen ist eigentlich doch nicht
J die Rede. Gründlich aufgeräumt haben mit allen Resten
einer naturhaften Sündenauffassung die Propheten. Aber
■ das nachexilische Judentum vermochte sich nicht auf
I der Höhe der prophetischen Verkündigung zu behaupten,