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Ausgabe:

1924

Spalte:

21

Autor/Hrsg.:

Pleßner, Helmuth

Titel/Untertitel:

Die Einheit der Sinne 1924

Rezensent:

Titius, Arthur

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P1 e ß n e r, Priv.-Doz. Dr. Helmuth : Die Einheit der Sinne. Grundlinien
einer Asthesiologie des Geistes. Bonn: Friedr. Cohen 1923.
(XVI, 404 S.) gr. 8° Oz- 7-50; geb. 10—

Ein seltenes Buch, in dem philosophischer Geist und
Kraft ästhetischer Schauung sich zu eigenartiger Leistung
und starker Anregung verbinden! Es handelt sich
um Einsicht in die Strukturgesetze der Sinnesempfindungen
, um „echt apriorische Sätze, jedoch materialen
Charakters", um die „Totalrelativität der Empfindungsqualitäten
auf die Einheit der menschlichen Person"
(IX. XIII) und damit um einen Weg zur „absoluten
Wirklichkeit". Überzeugt davon, daß das Weltbild der
Physik in seiner Einförmigkeit nur eine Schwarzweiß-
skizze der Wirklichkeit ist, bahnt sich P. durch eine
„Kritik der Sinne" den Blick auf das Gemälde der vollen
Wirklichkeit. Was aus seiner Art sinnlichen Daseins
herauszuholen ist, muß dem menschlichen Geist längst
in seinen Leistungen bekannt geworden sein; die Schranken
seines Wesens und seiner Mittel zu erkennen, ist
Sache der Philosophie. Man muß sich also an die
großen Kulturleistungen halten, um Eigenart und Tragfähigkeit
jedes einzelnen Sinnes festzustellen. Dann er- j
gibt sich, daß zu jeder Farberscheinung „Ausbreitung" '
gehört (Stumpf), ein Ton aber wesensmäßig voluminös j
gegeben ist. Durch diese Förmigkeit des akustischen |
Stoffs sind die Töne in die körperliche Haltung eingepaßt
, und so liegt das Wesen des musikalischen Ein-
drucks in der unmittelbaren Bewirkung oder der mittelbaren
Erweckung von Gesten, welche Tänzer und Dirigent
ausführen, der Hörer nur im Keimzustande erlebt.
Wesenszug der Sehfunktion ist die Strahligkeit; Griffig-
keit des Gehalts, Gerichtetsein der ihn antreffenden j
Sehfunktion sind die Wesenszüge, auf denen die Akkor- !
danz des Gesichtssinns zur Handlung beruht. Da- [
gegen begründen die seelischen Anmutungen, welche I
mit den Eindrücken der übrigen, der Zustandssinne ver- j
bunden sind, keinen geistigen Gehalt; sie haben an sich
Sinn in dem Bewußtsein, das sie vermitteln. Pure Vergegenwärtigung
der Körper im Erleben ist ihre Funktion
. Dagegen ist das Gehör diejenige Art des Verhältnisses
von Geist (Einheit der Sinngebung) und Körperleib
, in welcher der Geist dem Leibe sich kundgibt; der
optische Modus bezeichnet jene dritte notwendige Art
des Verhältnisses von Geist und Leib, in welcher das
Subjekt des Geistes den Leib als Instrument zielmäßig
gerichteter Bewegungen benutzt. Sind aber so die Sinnesmodalitäten
Verbindungsmodalitäten von Geist und Körper
, so sind sie damit auch Brücken zwischen Geist und
Körper, und die Frage nach der Gegenständlichkeit der
Sinne, welche weder Rationalismus noch Sensualismus
befriedigend aufzuhellen vermögen, ist dahin beantwortet
, „daß die Sinnesqualitäten sowohl nach der Seite
dessen, was formal sinnvoll möglich, als auch nach der
Seite dessen, was material sinnvoll möglich ist, die Arten
der Gegenständlichkeit, die möglichen Weisen stofflicher
Existenz darstellen". Ich muß mich mit der Heraushebung
dieses reizvollen und wichtigen Grundgedankens
begnügen und im übrigen den Leser auf die
schwierige, aber anregende Lektüre selbst verweisen.
Nur sei noch bemerkt, daß zum Schluß eine eingehende,
an neuen Gesichtspunkten reiche Analyse und Kritik der
Kantischen Philosophie geboten wird.

Be'i'jn. T i t i u s.

Weichbrodt, Priv.-Doz. Dr. med. R.: Der Selbstmord. Berlin:
S. Ka'ger '°23- (44 s ) ßr- 8° = Abh. a. d. Neurologie, Psychiatrie,
Psycho'.og'c und inrcn Grenzgebieten Heft 22. Gz. _<)<).

Weicn.brodt's inhaltsreiche Studie orientiert zunächst geschichtlich
Jber die Beurteilung des Selbstmords, danii über die statistischen
rinterlagen (Häufigkeit in verschiedenen Staaten, bei den
verschiedenen Schichten und Ständen (Soldaten!) der Bevölkerung,
Familienverhältnisse, Alter (Kinder!), Oeschlecht, Religion und dergl.,
endlich über die Beweggründe, insbesondere auch die pathologischen.
Hervorgehoben sei, dal! den religiösen Hemmungen ein bedeutender Einfluß
beigemessen wird. Die von A. Wagner, Kracpelin u. a. begründete
Annahme, daß ungefähr ein Drittel aller Selbstmörder geisteskrank

sei, wird auf Grund beachtenswerten eigenen Materials stark erschüttert
(S. 35 ff.). Die Annahme, daß es in bestimmter Konstellation durch
die Summierung verschiedener Momente zu einer Explosion kommt,
wobei vielfach eine ausnehmende Einengung aller psychischen Fähigkeiten
mitwirken mag (38, 41), dürfte in der Tat in sehr vielen
Fällen ausreichend sein. Daß weit öfters als ausgesprochene Geisteskrankheit
psychopatische Anlagen in Betracht zu ziehen sind, ist
selbstverständlich. Für erwünscht hält W. die Einrichtung einer
psychiatrisch geschulten Selbstmörderfürsorge (Sprechstunden) und die
rechtzeitige Überführung von Kranken mit Depressionszuständen in geschlossene
Heilanstalten.

Berlin. Titius.

Harnack, Adolf v.: Erforschtes und Erlebtes. Gießen: Alfred
Töpelmann 1923. (VIII, 418 S.) gr. 8° Oz. 6—; geb. 8—.

Bisher erschienen 5 Bände gesammelter Reden und
Aufsätze v. H.s. Dieser sechste bringt Arbeiten aus dein
letzten Jahrzehnt; wenige Stücke sind in ihren Grundlagen
älter. Die ungemeine Weite des H.schen Geistes
zeigt sich auch in diesem Band: Abt. I bringt Arbeiten
zur Geschichte, insbesondere zur Religionsgeschichte
; Abt. II solche zur Wissenschaftsgeschichte;
Abt. III führt den Titel „Aus dem Weltkrieg"; Abt. IV
enthält Gedächtnisreden, Abt. V Predigten aus dem akademischen
Gottesdienst. Die meisten Stücke sind bereits
gedruckt: in Zeitschriften, Zeitungen, Festschriften usw.
Doch findet sich auch bisher Ungedrucktes; so namentlich
zwei an den Reichskanzler von Bethtnann-Hollweg
gerichtete Denkschriften: „Friedensaufgaben und Friedensarbeit
" (1916) und „Das Gebot der Stunde" (1917).
Neben längeren Aufsätzen (Über die Sicherheit und die
Grenzen geschichtlicher Erkenntnis; Die Reformation
und ihre Voraussetzung; Die Religion Goethes in der
Epoche seiner Vollendung u. a.) stehen kürzere und
ganz kurze Stücke von wenigen Seiten. Natürlich wird der
Leser je nach seinem Sonderinteresse diese oder jene Abteilung
besonders schätzen; aber der Hauptreiz der
Sammlung liegt in ihrer Mannigfaltigkeit und in der
Tatsache, daß alle diese Stücke einen Verfasser haben
— und zwar einen Theologen. Er spricht mit ebenso eindringender
Sachkunde über die apokalyptischen Reiter
der Offenbarung wie über Dante, über die Bedeutung
der theologischen Fakultäten wie über die Professur für
Bibliothekswissenschaften in Preußen, über „Die Religion
im Weltkriege" wie über „Politische Maximen für
das neue Deutschland". Er würdigt ebenso verständnisvoll
den Theologen A. Ritsehl, den Theologen-Philosophen
Troeltsch wie den Staatswissenschaftler Otto
von Gierke und den Chemiker Emil Fischer. Haben
andere Arbeiten größeren Dauerwert, das Kapitel „Aus
dem Weltkrieg" besitzt den größten aktuellen Wert. Die
schon erwähnten Denkschriften, deren wesentlichen In-
I halt v. H. heut noch zu vertreten erklärt, während er
einiges jetzt anders beurteile, konnten wegen der Zensur
seinerzeit nicht veröffentlicht werden; v. H. erwähnt, er
habe unter diesem Umstand schwer gelitten. Sie fordern
u. a. freiheitliche Reform des preußischen Wahlrechts,
Gewährung voller religiöser Freiheit, volle Freiheit und
aufrichtige Anerkennung des Koalitionsrechts und der
Gewerkschaften (S. 288 ff.). Unter den der akademischen
Jugend gewidmeten politischen Maximen stehen auch
diese: „Ohne Macht kein Staat. Ohne Selbstlosigkeit und
Gottesfurcht keine Zukunft." Daß die Predigten in diesen
Band aufgenommen sind, freut mich besonders; darin
liegt allen Lesern gegenüber — und es werden deren ja
viele nichttheologische sein — die Betonung der vollen
Gleichberechtigung der gottesdienstlichen Rede mit
allem, auch den gewichtigsten Erzeugnissen geistiger
Arbeit. Solches Zeugnis kann die Predigt auch heut noch
brauchen. Auf die einzelnen Stücke, die der theologischen
Wissenschaft dienen, näher einzugehen, verbietet
der Raum. Aber es muß erwähnt werden, daß die Abhandlung
„Der ursprüngliche Text des Vaterunsers und
seine älteste Geschichte", die auf zwei Vorlesungen in
der Berliner Akademie (1904 und 1911) beruht, hier
I in neuer Bearbeitung unter Fortlassung' des gelehrten