Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1923 Nr. 12

Spalte:

245-246

Autor/Hrsg.:

Holmberg, Uno

Titel/Untertitel:

Der Baum des Lebens 1923

Rezensent:

Bertholet, Alfred

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

245

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 12.

246

mir des Raumes wegen leider versagen, auf weitere
Einzelheiten einzugehen.

Berlin. Wolf Baudissin.

Holmberg, Uno, Dozent der vgl. Religionsgeschichte a. d. Universität
zu Helsingfors: Der Baum des Lebens. Sonderabdruck aus
Annales Academiae Scientiarum Fennicae BXVI,3 (156 S.). Helsinki
1922.

Über ein Werk, das die Sage vom Lebensbaum
behandelt, hatte ich in dieser Zeitung bereits früher
(1905, 690 ff.) zu berichten. Wünsches Buch, um das
es sich damals handelte, scheint H. unbekannt geblieben
zu sein. Das hindert nicht, daß sein eigenes von weitgehender
Beherrschung des einschlägigen Stoffes zeugt.
Was es m. E. besonders wertvoll macht, ist die ausgiebige
Verwendung mehr oder weniger weit abliegenden
mittel- und nordasiatischen Materiales. Offenbar
kennt der Vf. sibirische Völker auch aus eigener Anschauung
(vgl. S. 116). So kommt er auf die Vorstellungen
turko-tatarischer und finnisch-ugrischer Völker
mit Vorliebe zurück. Dabei tritt das interessante Ergebnis
zu Tage, daß eine starke geistige Beeinflussung
dieser Völker seitens der großen alten Kulturvölker
Asiens stattgefunden haben muß. Z. B. ist es überzeugend
, daß die Vorstellung der Ostjaken von einer
Göttin, in deren Hand sich der genau abgemessene
Lebensfaden eines jeden Menschen befindet, nicht dem
unwirtlichen Hinterlande Sibiriens entstammt (S. 103),
oder daß ihr Gott „Schreibermann" nicht unter einem
Volke entstehen konnte, das selber nicht schreibkundig ist
(S. 130). Andererseits erkennt man in den im Sagenschatz
der Mongolen, Burjaten und Kalmücken vorkommenden
Namen des Weltberges Sumbur, Sumur oder
Sumer den Namen des indischen Zentralberges Sumeru
(S. 40 vgl. 42), und der in mittelasiatischen Erzählungen
vorkommende Adler „Garide" ist kein anderer als der
bekannte Vogel „üaruda" der Inder (S. 67 f.). In der
Betonung der Wanderung der Vorstellungen also im
Gegensatz zur Annahme ihrer autochthonen Entstehung
kommt H. mit Wünsche überein, und das auch inbezug
auf das Motiv des Lebensbaumes (S. 68), und wenn
Wünsche Alles aus Babel hatte ausgehen lassen, so
meint auch H. für eine Reihe von Vorstellungen Babel
als Ursprungsland annehmen zu dürfen (z. B. die 7 Götter
des Schicksals = die babylonischen Planetengötter, S.
123. 128; der schreibkundige Gott = Nabu, S. 131; vgl.
zur „großen Mutter" die Ninharsag der Sumerer, S. 87).

Dem eben Angeführten ist schon zu entnehmen, daß
sich H. nicht auf die Wiedergabe der Vorstellungen vom
Lebensbaum beschränkt; vielmehr erscheinen sie nur als
Glied in einem größern Zusammenhang, den der Leser
des Buches freilich mehr oder weniger selber konstruieren
muß; denn H.'s Darstellung fehlt es an einer
gewissen Architektur, geht sie doch in einem mehr
oder minder losen Nebeneinander von Einzelstudien
auf, die sich nur alle um die Frage bewegen, was für
Vorstellungen sich an das Zentrum des Alls knüpften,
auf das, wie H. meint, das menschliche Interesse schon
früh durch die Beobachtung der regelmäßigen täglichen
Bewegung des Firmaments um das in der Nähe des
Polarsterns liegende Himmelszentrum gelenkt worden
sei (S. 5). Da bespricht er denn zunächst die Vorstellungen
einer Himmelsstütze, sei es ein Weltnagel,
sei es eine Weltsäule, deren Ende sich am Polarstern
befindet (S. 9 ff.). In diesen Zusammenhang gehört
u. a. der interessante russische Zauberspruch: „Auf
dem Berg Zion" (Weltzentrum!) „steht eine Säule
von der Erde bis zum Himmel" (S. 20). Es leuchtet ein,
daß der Ursprung dieser Vorstellungen in ganz frühe,
nomadische Kultur zurückreicht, erscheint der Himmel
dabei doch als Zeltdach, das sich mit Hilfe eines
Pfahles oder Pfeilers über d ie ganze Erde spannt (S.
21 f.). Bemerkenswert ist, daß die heiligen Säulen der
in Sibirien wohnenden ugrischen Völker 7stöckig vorgestellt
werden (S. 25). Man ahnt hier schon, vielleicht

nicht mit Unrecht, einen entfernten Zusammenhang mit
den mehrstufigen Türmen Babels (S. 33 ff.), deren Zweck
H. darin sieht, daß sie den einem Berg nachgeahmten
Sockel für den auf ihrer höchsten Stelle befindlichen
Tempel abgeben sollten (S. 36). Das führt auf den Gedanken
des aus dem Zentrum des Erdkreises aufstrebenden
Weltberges, dessen Gipfel sich gegen das am Polarstern
befindliche Himmelszentrum erhebt (S. 41). Mit
ihm wechselt der Baum des Lebens (S. 51 ff.), der nach
einigen Sagen gleich ihm die verschiedenen Himmelsschichten
durchbohrt, seine Wurzeln gleichzeitig in die
unterirdischen Tiefen streckend (S. 52). Zum Baum gehört
die unter ihm befindliche Quelle mit ihrer geheimnisvollen
Flüssigkeit, dem Lebenswasser („die Paradiesesströme
", S. 70 ff.). Verbunden mit dem Baum oder
Lebensquell erscheint eine Fruchtbarkeitsgöttin, welche
die ganze Schöpfung gebiert und ernährt („die große
Mutter", S. 83 ff.) und also gleichzeitig als Erdnabel
und Weltberg, als Paradiesesquelle und Lebensbaum gedacht
ist (S. 98). Als Schicksalsbestimmerin ist sie Spinnerin
oder Weberin, und das leitet über zu den Vorstellungen
vom Lebensfaden (S. 98 ff.), dessen Spinnen
wieder in Beziehung zur Bewegung des Sternenhimmels
steht (vgl. die rotierende Weltachse als Spindel, S. 107).
Der Fatalismus, der darin zum Ausdruck kommt, weist
auf die „Götter des Schicksals" (S. 113 ff.) hin, deren
Sieben- (ev. Neun-)zahl der Sieben- (ev. Neun-)zahl der
Himmelsschichten entspricht. Dieselbe Sieben- (bezw.
spätere Neun-)zahl der Himmel kehrt in den Vorstellungen
von der „Auffahrt zum Himmel" wieder, denen
FL in einem letzten Abschnitt (S. 133 ff.) nachgeht.

Alles in allem ein Buch, das dem, der aus seinen
Einzelposten die Summe zu ziehen versteht, mancherlei
Anregung bietet inbezug auf die Erkenntnis der größern
Zusammenhänge religionsgeschichtlich bedeutsamer Vorstellungen
.

Göttingen. Alfred Bertholet.

Köhler, Ludwig: Religion und Menschheit. Zürich: Schultheß
& Co. 1922. (107 S.) gr. 8°.

K. schildert in seinem sehr ansprechend geschriebenen
Buche, das aus Vorlesungen an der Volkshochschule
Zürich entstanden ist, zunächst in großen Zügen
den Werdegang der Religion, um schließlich auf Grund
der dieser Entwicklung immanenten Kritik und einer
daran anschließenden Vergleichung der höchsten erreichten
Gipfel als die Religion der Zukunft ein Christentum
im Sinne der echten und ursprünglichen Verkündigung
Jesu — aufgefaßt etwa wie bei Ragaz und anderen
Religiös-Sozialen — zu proklamieren. Einzelne Kapitel
wie das erste über die Menschheitsentwicklung oder
das zweite und dritte über die primitive und Volksreligion
, auch die Abschnitte über Buddha und Mohamed
liest man mit fast ungeteilter Freude, während die Schilderung
von Jesu Person und Evangelium allzu dürftig
und augenscheinlich von vorgefaßter Meinung beherrscht
ist. Der Hauptmangel des Buches scheint mir zu sein,
daß der Verf. sich nicht, ehe er über Religion sprach und
schrieb, ernstlich in die Frage nach dem Wesen derselben
vertieft hat und infolgedessen mit einem durchaus oberflächlichen
und ungeklärten Begriff von ihr arbeitet. Da
hätte er von R. Otto einerseits, K. Barth andrerseits viel
lernen können. Sein Religionsideal ist unfraglich allzusehr
am Menschen statt an Gott orientiert („das ist die
Religion der Zukunft, die den Menschen am tiefsten begriffen
hat", S. 93), an Zeit und Fortschritt, statt an der
Ewigkeit (wie ist es möglich, unmittelbar aufeinander
diese beiden Sätze folgen zu lassen: „Er — sc. der Christ
— lebt in der morgigen Welt der Gerechtigkeit und der
Reinheit, deshalb tut ihm die heutige Welt der Ungerechtigkeit
und der Unreinheit weh", und: „Christ sein
heißt, um der Ewigkeit willen in schroffem Widerstand
stehen mit der Zeit").

Iburg. W. Thimme.