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Ausgabe:

1917 Nr. 1

Spalte:

17-19

Autor/Hrsg.:

Wendt, Hans Hinrich

Titel/Untertitel:

Die sittliche Pflicht. Eine Erörterung der ethischen Grundprobleme 1917

Rezensent:

Haering, Theodor

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17 Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 1. 18

keit der Vernunft bleibt gegenüber Hegels Vereinheitlichung
der Vernunft in fich felbft näher an der Wirklichkeit
des Lebens. Vor allem aber klaffen die beiden
Syfteme beim Begriff der Freiheit auseinander, obgleich
beide fich als Phüofophie der Freiheit bezeichnen und
in der Tat in diefem Punkte die gemeinfame Wurzel
haben. Aber bei der Kantifchen Trennung von Vernunft
und Sein bleibt der Freiheit der Apriorität und
Spontaneität ihr Charakter urfprünglicher Setzung und
dualiftifcher Kampfftellung; bei Hegels Identifikation
von Sein und Denken wird die Freiheit identifch mit
dem moniftifchen Weltgefetz, wodurch fie nur im Wort,
aber nicht in der Sache aufrecht erhalten bleibt. Auch
hier bleibt Kant näher an der Wirklichkeit. Über all
das gleitet der Vortrag leicht hinweg und redet uns
den ,Fortfehritt' von Kant zu Hegel als einen dialektifch
notwendigen Prozeß auf.

Berlin. Troeltfch.

Wendt, Prof. Dr. Hans Hinrich: Die rittliche Pflicht. Eine
Erörterung der ethifchen Grundprobleme. Mit e.
Sachregifter. (IV, 186 S.) gr. 8°. Göttingen, Vanden-
hoeck & Ruprecht 1916. M. 5.80

Um das Werk voll zu würdigen, muß man den Untertitel
beachten. Es befpricht wirklich alle ethifchen Grundprobleme
, indem es den Begriff der fittlichen Pflicht als
das entfeheidende in den Mittelpunkt rückt. Ihn be-
ftimmen die erften fünf Kapitel; am wichtigften ift das
dritte über den Grundbeftand des fittlichen Pflichtbewußt-
feins, eine felbftändige Weiterbildung des Kantfchen
Pflichtbegriffs, und das fünfte, worin das Recht einer
folchen Pflichtethik gegenüber jeder bloßen Zweckethik
begründet wird. Dann folgen die Kapitel über die Freiheit
als Vermögen zur fittlichen Pflichterfüllung, über die
zur fittlichen Pflicht gehörige Weltanfchauung, endlich
nach diefen vom Standpunkt der philofophifchen Ethik
aus geführten Unterfuchungen die chriftliche Liebespflicht
als Vollendung des fittlichen Bewußtfeins unter dem Einfluß
des Chriftentums.

So unentbehrlich und inhaltreich diefe drei Kapitel
find, fo liegt doch der Schwerpunkt des Ganzen in jenen
fünf erften. Dem Herrn Verfaffer liegt offenbar ein doppeltes
vor allem andern am Herzen: einmal die genaue
Beftimmung des Wefens der fittlichen Pflicht, zum andern
ihr Verhältnis zum ,fittlichen Bewußtfein als Streben nach
Schaffung von Werten', und zwar im Sinne der Überordnung
der Pflicht über diefe andere Grundauffaffuug vom
Sittlichen. In der erften Frage will er, Kants Formalismus
überwindend, die Erfahrung befragen, um die
,unbewußt und unwillkürlich im Geifte des Menfchen
wirkfamen Forderungen bzw. Triebe' zu erkennen (42).
Auf diefem Weg findet er die ,elementaren fittlichen
Pflichten Wahrhaftigkeit, Treue, Ehrlichkeit, Dankbarkeit,
Gerechtigkeit' (43f.). Was ift ihre innerfte Eigenart? Sie
.nehmen alle Bezug auf einen gegebenen Sachverhalt'.
,In diefem liegt das die Verbindlichkeit begründende,
verpflichtende Moment'. ,Das Wollen des Menfchen foll
zu feinem eigenen Wiffen in ein rechtes Folgeverhältnis
gefetzt werden'; ,der dem geiftig normalen Menfchen
angeborene Trieb nach Harmonie feines Wollens mit dem
Wiffen' ift ,die angeborene fittliche Anlage des Menfchen,
und auf der Befonderheit diefer Anlage beruht die Selb-
ftändigkeit der Sittlichkeit' (44. 53)- Allein, und damit
kommen wir zu jenem zweiten Hauptpunkte, ,man muß
anerkennen, daß es zwei voneinander unabhängige Ideen
vom Gutfein des Wollens und Handelns gibt'. Eben
erftens jene bisher befprochene Idee: ,gut ift ein Wollen
und Handeln, welches gemäß der apriorifchen Gewiffensforderung
einem gegebenen und bewußt gewordenen
Sachverhalt als gehörige praktifche Folge entfpricht' (in
Wahrhaftigkeit ufw.). Zweitens aber: ,gut ift ein Handeln
und Wollen, das Werte fchafft' (88). Beide find

.prinzipiell unabhängig, können fich aber wechfelfeitig zur
Kritik und Ergänzung dienen'. Die erfte, fo unentbehrlich
für die zweite {89 ff.), hat zwei Schranken: aus ihr
läßt fich ,kein einheitlicher Plan für die Lebensführung
ableiten', und ,fie fchließt keine Aufforderung zum fpon-

j tanen Anknüpfen mit andern Menfchen in fich' (93 ff).
Andrerfeits entbehrt die Idee des .Wertefchaffens' ohne

, die .fittlichen Elementarpflichten' aller im ftrengen Sinn

i wirklich fittlichen Beftimmtheit.

Vor allem wird jeder Mitarbeiter in der Ethik aufs
dankbarfte den eindringenden Nachweis begrüßen, daß
es der reinen Zweckethik: nie gelingen kann, das innerfte
Wefen des Sittlichen, das ,Du follft', verftändlich zu
machen. Aber auch den originellen Verfuch des Herrn

j Verfaffers, das Wefen der Pflicht durch jenen Gedanken
,der Beziehung auf einen gegebenen Sachverhalt' aufzuhellen
, der namentlich für die Wahrhaftigkeitspflicht etwas

| unmittelbar Einleuchtendes hat. Nur werden aus diefer
bereitwilligen Anerkennung weitere Fragen fich erheben.
Ift mit diefer wichtigen Beobachtung die ganze Tiefe
des fittlichen Erlebens erfchöpft, ift das Gefühl der .Verbindlichkeit
' in diefer .Übereinftimmung des Wollens mit
dem Wiffen' zureichend begründet; läßt fich nicht das

' .Streben nach innerer Harmonie', das fo treffend betont
wird, noch genauer faffen, gerade wenn fo rückhaltlos

I wie hier die Eigenart des Willens anerkannt wird ? Und

! weiter, erfchöpft fich der Gedanke ,der Beziehung auf

' einen gegebenen Sachverhalt' in den fünf .elementaren'

l Pflichten'? Findet er nicht auch Anwendung auf ,die
Herftellung von Gemeinfchaftsbeziehungen', gehen nicht
auch fie auf einen .Sachverhalt'? Solche Fragen führen
dann von felbft auf jenen andern Leitgedanken des
Buches, die Nebeneinanderftellung der ,zwei Ideen des
Guten', Pflichthandeln und Wertefchaffen. Man kann die
Überordnung des Pflichtgedankens rückhaltlos als das
große Verdienft unffes Werkes anfehen und doch zweifeln
, ob nicht feine Selbftändigkeit überfpannt ift. An
manchen Stellen kann die Trennungsfehranke kaum aufrecht
erhalten werden, z. B. bei den fchönen Ausführungen
über die .Achtung', die fich aus den .Elementarpflichten
' ergibt (90f.), oder wenn gefagt wird, der reiche
Junggefelle, der zu berufsmäßigem Liebesdienft fich ent-
fchließt, handle nicht .pflichtmäßig' ( in jenem eng umgrenzten
Sinn), fondern .edelmütig' (96). Ift es nicht viel
einfacher, wie oben vorgefchlagen, den altruiftifchen Trieb
von vornherein als auch einem .Sachverhalt' entfprechen-
den in die .elementaren Pflichten' aufzunehmen? Dann
würde auch ganz von felbft die Beftimmung des Ver-
hältniffes von .natürlicher' und .chriftlicher Ethik' im
letzten Kapitel wohl noch überzeugender, nämlich, ohne
die Superiorität der letzteren irgend zu gefährden, ihr
Zufammenhang mit jener deutlicher.

Ein Blick auf diefe letzten Kapitel überhaupt könnte
zu Fragen locken über den Begriff der innern Offenbarung
Gottes, über den Inhalt des chriftlichen Gottesgedankens
u. a. Aber in der hier gebotenen Kürze ift
es viel nötiger, noch einmal aufs lebhaftefte den Gewinn
zu betonen, den jeder fich in das Werk vertiefende Lefer
für die erneute Durchprüfung und Bereicherung feiner
ethifchen Grundbegriffe haben muß. Im einzelnen wird
er überall feine Beobachtungen finden, z. B. über ,eudä-
moniftifch' und .utilariftifch' (32ff), elementar-fittliche
Regungen in den Tieren (57f.); von den Hauptfachen
fei wenigftens noch die tapfere und befonnene Behandlung
des Freiheitsproblems hervorgehoben. Doch bleiben
wir bei dem oberften Leitgedanken des Buches. Es ift
kein .Kriegsbuch' und doch eines im höchften Sinn des
Wortes. Nicht nur wegen der befonders forgfamen Erörterung
der Pflichten gegen die Feinde (65 ff., 172 ff.),
fondern überhaupt als eindringlichfter Ruf: zurück zur
Pflicht, ,der fchlichten, eifernen', die manchen ,zu ftreng,
zu gefetzlich' erfchienen war.

Auf die erkeuntuiskritifche Frage, die Fortbildung des Kantfcheu