Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1917

Spalte:

226-227

Autor/Hrsg.:

Niebergall, Friedrich

Titel/Untertitel:

Theologie und Praxis. Hemmungen und Förderungen der Predigt und des Religionsunterrichts durch die moderne Theologie 1917

Rezensent:

Eger, Karl

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

226

mentaren Gefühle, Inftinkte, Triebe, Impulfe, Affekte, wie
fie ohne Regulierung durch die höheren geiftigen Funktionen
aus unterer phyfifchen Konftitution hervorgehen,
und den .intelligiblen Charakter', wobei das Wort ,intel-
ligibel' nicht metaphyfifch, fondern auch empirifch gemeint
ift und die höheren Funktionen umfaßt. K. unterfcheidet
vier Grundelemente des intelligiblen Charakters: die
Willensftärke, die Urteilsklarheit, die. Feinfühligkeit und
die Aufwühlbarkeit und befchreibt ihren Anteil folgendermaßen
: .Stellt die Stärke der lebendigen Aktivität die
angeborene Kraft dar, lo gibt ihr die Urteilsklarheit die
beftimmte Richtung, die Feinfühligkeit die Mannigfaltigkeit
ihrer Betätigung und die Aufwühlbarkeit die Dauer
ihrer Betätigung'. Indem nun K. die vier Elemente genauer
ichildert und auf diefer Grundlage von der Charaktererziehung
überhaupt und von ihr in Familie, Schule und
Selbfterziehung redet, zeigt fich, daß diefe Vierteilung
praktifch fruchtbar, aber auch prinzipiell anfechtbar ift.
Die Aufwühlbarkeit hängt offenbar mit der Willensftärke
eng zufammen; da fie Tiefe und Stärke der feelifchen
Empfindung bedeutet, ift fie eine Quelle der Willensftärke
welch letztere m. E. kein Element, fondern eine Reful-
tante ift. Umgekehrt verbindet K. mit der Feinfühligkeit
die recht verfchiedene Geiftesgegenwart. Das angeführte
Beifpiel Wilhelms des Eroberers, der, nach feiner Landung
zu Boden fallend, mit dem Wort: ,Ich ergreife dich, Erde'
das böfe Omen in fein Gegenteil verkehrt, beweift es
fchlagend. Feinfühlig war diefer Eroberer nicht, aber
geiftesgegenwärtig. Vor allem aber möchte ich ftärker
als K. betonen, wie fehr die Urteilskraft von fittlichen
Bedingungen abhängt, nämlich von der Reinigung der
Seele von trübenden 1 .eidenfchaften (Kriegspfychofel).
So möchte ich für die Erreichung der Charakterftärke
die intellektuellen Vorbedingungen geringer und die
fittlichen höher bewerten.

Ich kehre zur .DeutfchenSchulerziehung' zurück.
Der zweite Vortrag behandelt den ,Weg zum Pflichtbewußtfein
'. Er leuchtete mir weniger ein als der erfte,
da die reichlich getiftelte Unterfcheidung der Hauptformen
des pfychifchen Verhaltens (S. 43 ff.) mich nicht recht überzeugen
wollte. Dagegen habe ich mir aus dem dritten
Vortrag ,Der Weg zur Staatsgefinnung' eine Reihe wertvoller
'Wahrheiten mit Dank gemerkt, fo die Unterfcheidung
der egoiftifchen Nationalgefinnung und der altru-
iftifchen Staatsgefinnung. Ich verzeichne den Programm-
fatz: ,Die Umwandlung der Schule aus einer Stätte
individuellen FTirgeizes in eine Stätte fozialer Hingabe,
aus einer Stätte theoretifcher intellektueller Einfeitigkeit
in eine Statte praktifch humaner Vielfeitigkeit, aus einer
Stätte des rechten Erwerbs von Kenntniffen in eine Stätte
des rechten Gebrauchs, das ift die grundlegende notwendige
unerläßliche Reform alles Schulwefens'. Ebcnfo
ftimme ich den Grundgedanken des vierten Vortrages
,Die Schule als Kulturmacht' herzlich zu: es kommt nicht
auf den möglicher, vollftändigen Erwerb der objektiven
Kulturgüter, fondern auf die Kultivierung der Seele an;
die Seele aber entwickelt fich nur im Tun zum Charakter,
jeder kann nur feinen eigenen Charakter erwerben, der
durch feine angeborene Seelenftruktur beftimmt ift. Das
alte Pindarifche: Werde der du bift! — Doch neigt K.
zu einer gewiffen Überfchätzung des Subjektiven. Ich
fchätze die bildende und erziehende Kraft der willigen
Hingabe an objektive Ideen, auch wenn fie unferer
Individualität fern liegen,dochhoch ein. Der fü nfte Vortrag,
faft die Hälfte des Buches, ift dem Problem der .Einheits-
fchule' gewidmet. K. ift als einer ihrer charaktervollften
Vorkämpfer bekannt. Er zeigt fich auch hier als befonnen
und von großen Gefichtspunkten geleitet. Zweierlei habe
ich aber einzuwenden: 1. Für K. ift Unterricht und Erziehung
Sache des Staates, das Dörpfeld'fche Ideal der
Erziehung durch Familiengemeinfchaften wird nicht berück-
fichtigt (abgefehen von den religiöfen Anfprüchen der
Gewiffensfreiheit). 2. Er veranfchlagt m. E. die .Mutter-

fchule' und die auf ihrer Verfchiedenheit beruhende
Verfchiedenheit der fchulpflichtigen Kinder zu gerino-.
Kurz ich habe den Eindruck, daß das Urteil des Pädagogen
durch gewiffe dem okratifchepolitifcheVoraus-
fetzungen getrübt ift. So fcheint mir auch die Polemik gegen
den Berliner Philofophen F. I. Schmidt auf völligem Mißver-
ftändnis feiner Gedanken zu beruhen. Daß die Einheits-
fchule eine Forderung des Rechtsftaates fei, vermao- ich
nicht einzufehen; daß es zur Idee des Kulturftaats gehört
alle Kulturfähigen zu kultivieren und den Begabten den
Aufftieg zu ermöglichen, das ift auch mir felbftverftändlich.
Daß dazu die Einheitsfchule nötig fei, davon hat mich
auch K. noch nicht überzeugt, fo viel Kluges und Gutes
er fonft auch in diefem Abfchnitt fagt.

Hannover-Kleefeld. Schuft er.

Niebergall, Friedrich: Theologie und Praxis. Hemmungen
und Fördergn, der Predigt u. des Religions-Unterrichts
durch die moderne Theologie. (Praktifch-theolog. Handbibliothek
, 20. Bd.) (VII, 112 S) 8°. Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht 1916. M. 2.40; geb. M. 3.20

In fcharfer Entgegenfetzung werden zunächft die alte
Theologie mit ihrem Supernaturalismus, Dualismus und
.Materialismus', die das Göttliche naiv und autoritär in etwas
Befonderem und fozufagen Greifbarem findet, nebft der
ihr entfprechenden Praxis in Unterricht (.Katechismus')
und Predigt einerfeits und die alles in Relativitäten auf-
zulöfen fcheinende hiftorifch-kritifche, religionsgefchicht-
liche und religionspfychologifche Methode der modernen
Religionswifienlchaft anderfeits einander gegenübergeftellt.
Dann verfucht ein mit befonderer Liebe gefchriebenes Kapitel
.Aufhebung der Hemmungen' Feftes aus dem Fluß des
religiöfen Lebens in Gefchichte und Gegenwart 1 die großen
Perfönlichkeiten der israelitifch-chriftlichen Gefchichte —
,Gott in Chriftus' —, das Befondere des Chriftentums, die
zentralen Werte und entfprechenden Vorftellungen des
Chriftentums) herauszuarbeiten, worauf (Kap. 3) die hieraus
entfpringenden Förderungen für die Praxis dargelegt werden
. Auch hier ift der Abfchnitt .Religionspfychologie'
am längften und intereffanteften. Aus dem io gewonnenen
Sachgehalt der modernen Religionswiffenfchaft ergibt fich
dann deren Beitrag zur Religionspädagogik, unter welchem
gemeinfamen Namen N. Homiletik und Katechetik, ja alle
Zweige der praktilchen Theologie überhaupt erfaffen will.
Das Kapitel ift reichlich kurz, keine 10 Seiten: das
fachlich Intereffante an ihm fteht fchon im vorhergehenden.
Auch die am Schluß gebotenen Beifpiele moderner Predigt
I (Drews, Baumgarten, Geyer-Rittelmeyer, 1 lackmann) und
j modernen Religionsunterrichts find ftark aphoriftifch gehalten
und bieten deshalb nur befcheidenen Ertrag. — Ich
finde den wunden Punkt der gefamten Stellungnahme N.'s
(er ift damit ja nur einer der Wortführer einer fehr weit
verbreiteten Richtung unferer modernen Theologie und
Religionspädagogik) darin, daß er die Bedeutung des
autoritativ verpflichtenden ,Du follft' als der Dominante
; der fittlichen Religion Chriftentum nicht erkennt (nur von
; hier aus wird Jefus innerlich verftändlich); dadurch wird
! das Individuum viel mehr, als den Tatfachen entpricht, zum
| Finder .Gottes' und der .ewigen Werte'. Was S. 59 von
l der religiöfen Gemeinfchaft gefagt wird als der .objekti-
j ven Macht, die immer (NB!) die fubjektive Religiofi-
i tat neu erzeugt', und von der .Wertfchätzung feft gewor-
; dener Wertfehätzungen', follte im Gefamtaufriß eine ganz
j andere Rolle fpielen und hat fpeziell für die Religionspädagogik
eine viel einfehneidendere Bedeutung, als es
nach N. den Anfchein hat. Gerade wenn man wie er
die Religionspädagogik als .religiöfeErziehung durch die
Gemeinde' (S. 91) beftimmt, muß die dem einzelnen fich
zunächft einmal überordnende Gemeinfchaft auch grund-
I fätzlich, und zwar fachlich wie formal, in viel höherem
Maß als das letzte, auch die Beziehung des einzelnen zu