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Ausgabe:

1914

Spalte:

49-52

Autor/Hrsg.:

Robertson, I. G.

Titel/Untertitel:

Goethe and the Twentieth Century 1914

Rezensent:

Sell, Karl

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 2.

kannt gewefenen und deswegen auch von den Biographen 1 Italienifche Reife, Zufammenwirken mit Schiller, Goethes
Auguft Hermann Franckes nicht benutzten Quellen zu j Klaffizismus, die letzten zwanzig Jahre. Daran fchließt
feiner Gefchichte aufmerkfam gemacht. In vorliegendem '. fich eine befondere Befprechung des Fault, von Goethes
Buche veröffentlicht er diefe Quellen. Es find 1) die ! Philofophie, Ethik, Politik und Religion, feiner naturwiffen-
Lebensbefchreibung der Großmutter Franckes, die der j fchaftlichen und kunftkritifchen Werke und eine Gefamt-
Lübecker Schulrektor M. Heinr. Bangert unter dem Titel ! fchilderung feiner Perfönlichkeit.

'Extxaq>ioq memoriae &: honori matronae honestissimae [ Es ift ein Vorzug der Darftellung, daß fie fich durch-
Elsabae viri integerrimi Hans Francken Civis Lubecensis I aus an die Hauptwerke Goethes hält, wenngleich man wahr-
& Pistoris industrii viduae 1664 veröffentlicht hat. Diefe 1 nimmt, daß der Verfaffer auch die unbedeutenderen Sachen
Schrift wird zunächft S. 7—66 in deutfcher Überfetzung J genau kennt. Er fußt durchaus auf der deutfchen Goethe-
des Herausgebers mit erläuternden Bemerkungen und i Forfchung und nennt als feine Gewährsmänner Chriftoph
dann S.67—104 in ihrer urfprünglichen lateinifchen Faffung : Schrempf und Otto Harnack. Bei feiner völlig felb-
dargeboten. Beigegeben ift eine Stammtafel der Ahnen I Händigen Urteilsweife fallen vielfach auch Schlaglichter

auf Einzelheiten der Goetheforfchung, die den Kundigen
intereffieren.

Der Standpunkt, von dem aus der Verfaffer die Ge-
famterfcheinung Goethes auffaßt und der die Auswahl

A. H. Franckes S. 66. 2) Die Stiftungsurkunde des
Schabbelfchen Stipendiums vom 20. Dezember 1637 mit
Nachträgen von 1641 und 1650 S. 104—129. Dasfelbe
wurde u. a. auch A. H. Francke verliehen. 3) Einige

bisher nicht gedruckte Arbeiten von Francke, die er als I deffen bedingtf/was er befpricht, ift eine rein hiftorifche,

Stipendiat des genannten Familienftipendiums eingeliefert
hat 4) Eine an die Theologieftudierenden zu Königsberg
von dem Profeffor Rogall 1727 zum Andenken an Francke
gehaltene, als Paraenesis publica bezeichnete Gedächtnisrede
. — Wir find dem Herausgeber diefer Schriften zu
Dank verpflichtet. Namentlich verdient die erfte unter
ihnen die Beachtung der Hiftoriker, weil diefe Urkunde
ein anziehendes Bild einer einfachen Bürgerfrau Lübecks
aus der erften Hälfte des 17. Jahrhunderts bietet, durch
welches uns in unmittelbar lebendiger Weife das Leben
in einer gläubigen und frommen Familie der alten Reichs-
ftadt zur Zeit der herrfchenden Orthodoxie veranfchau-
licht wird. Vorangeftellt ift dem Buche die Reproduktion
eines Wolffgangfchen Stiches von einem Franckefchen
Porträt aus dem Jahre 1730. Die zahlreiche Nachkommen-
fchaft des großen Hallefchen Pietiften und die noch größere
Zahl feiner Verehrer wird das Erfcheinen des Buches
dankbar begrüßen. Wir machen deswegen gern auf dasfelbe
aufmerkfam.

Göttingen. K. Knoke.

Robertson, Prof. Dr. I. G., M. A.: Goethe and the Twentieth

Century. (The Cambridge manuals of science and lite-
rature. Vol. 37.) (IX, 155 S.) kl. 8°. Cambridge, Uni-
versity Press 1912. s. 1 —

Der deutfche Lefer, der unter dem Titel »Goethe und
das zwanzigfte Jahrhundert' eine kritifche Betrachtung darüber
zu lefen erwartet, was Goethe, der Mann des i8.Jahr-
hunderts, der noch ein Drittel des 19. erlebt hat, uns heutigen
etwa noch zu fagen haben kann, wird angenehm
überrafcht fein. Denn zunächft findet er hier eine auf
genauer Sachkenntnis und liebevollem Verftändnis ruhende
Gefamtfchilderung von Goethes Leben, Werken und Perfönlichkeit
, wie fie fich abhebt vom Hintergrund feiner
Zeitgefchichte und der deutfchen Geiftesentwickelung überhaupt
. Aus der Vorrede aber erfährt er, daß unter den
Menfchen des 20. Jahrhunderts die Engländer von heute
gemeint find, denen der Verfaffer Goethe nahe bringen will
von ihrem Standpunkt aus. Den Deutfchen erfcheint
er ja nicht mit Unrecht als eine Art von Inkarnation ihres
heimifchen Geiftes. Diefe Abficht ift aber in einer für
Goethe f0 ehrenvollen umfichtigen Weife ausgeführt, fie
trifft fo fehr mit dem Beften, was von deutfcher Seite
auch in kntifcher Beziehung über Goethe und feine Werke
getagt worden ift, zufammen, daß man dem Verfaffer nur
dankbar fein kann.

Entfprechend der Anlage diefer Cambridge-Handbucher
mußte der Verfaffer, was er über den großen Stoff

entwicklungsgefchichtliche Betrachtung alles menfchlichen
Lebens und Wirkens, die ein Abfolutes darin nicht anerkennt
, ift der nationalpolitifche und foziale Horizont einer
Gegenwart, die fo weit wie möglich entfernt ift von der opti-
miftifchen, individualiftifchen antiromantifchen Stimmung
eines kulturfeligen humanen Klaffizismus. Er fordert in
der Naturwiffenfchaft ftatt der äfthetifch-intuitiven Betrachtung
ftreng exakte experimentelle Methoden; seine
moralifche Stimmung verlangt die Unterordnung des Individuums
unter die großen objektiven Mächte der Nation
und der Gefellfchaft. Alles in Allem: es gilt, bei Goethe
die durchgängige Bedingtheit auch des größten Genius
durch Zeit und Umgebung einzufehen.

Das führt dazu, Goethes Leben und Werk im Zu-
fammenhangmitdenZuftändendes 18. und 19. Jahrhunderts
zu betrachten undmitdenPerfönlichkeiten undVerhältniffen,
die auf ihn einwirkten: Das sind: Herder in Straßburg,
der feinen Genius erft erweckte, der frankfurt-darmftädtifche
Kreis, in dem er die gewaltigften fchöpferifchen Entwürfe
feines Lebens zu gefüllten begann; der Weimarer Hof,
der ihn, trotzdem er redlich und reichlich feine Schuldigkeit
tat als Minifter eines im Sinne des aufgeklärten
Abfolutismus regierten kleinen Ländchens, doch in einen
feiner großen ImnftlerifchenBeftimmungabgünftigen Dilettantismus
verftrickte, dann das Land feiner Wiedergeburt
zum Künftler, Italien, von dem er doch nur das fah und
aneignete was feit Winkelmann der Deutfche dort fuchte,
mit gefchloffenen Augen gegen die mittelalterliche Kunft
und einem nur wahlweilen Verftändnis der Renaiffance
ufw. Mit der genetifchen Erklärung aller größeren Werke
Goethes fozufagen aus ihren irdifchen Wurzeln verbindet
fich eine äfthetifche, ethifche, philofophifche und natur-
wiffenfchaftliche Kritik, die, gegen Mängel, Fehler und
Schwächen nicht blind, fie doch aus den Schranken von
Goethes Natur zu begreifen weiß. Diefe Betrachtungsweife
kulminiert in dem kurzen aber um fo inhaltreichern Effay
über den Fauft, diefes Lebenswerk, in deffen drei Geftalten:
der jugendliche Goethe, der Goethe der klaffifchen Zeit
und der alte Goethe je ihr tiefftes Seelenleben verkörpert
haben. Und zwar fo, daß ein feierliches Glaubensbekenntnis
des Alten zu einer dem perfönlichen Glück ent-
fagenden gemeinnützigen Tätigkeit den Schluß macht,
worauf die Erlöfung des immer Strebenden von Oben
folgt.

Vortrefflich find die anerkennenden und kritifchen Betrachtungen
über Goethes naturwiffenfchaftliche Studien
und Entdeckungen, über die praktifche tieffittliche Lebensweisheit
feines Alters, die doch fchon in der frühgeübten
Selbftbeherrfchung und Entfagung ihren Anfang nimmt,

zu fagen hatte, auf gegen 150 Seiten klein Octav zufammen- I fo daß Goethe niemals ein Werther und ein Taffo, ein
drangen. Es ift gelungen, ohne daß die durchweg geift- l Überflieger wie der Fauft und eine der Figuren in den
volle und^beziebungsreiche Darftellung einen irgendwie ! Wahlverwandtfchaften werden konnte. Angeführt feien
aphoriftifchen Eindruck machte. Die Gruppierung des hier die Sätze über Goethes Religion:
Ganzen folgt hiftorifchen Gefichtspunkten: Goethes Jugend, ,Den Herzfchlag von Goethes religiofem Gefühl darf

die Sturm- und Drang-Zeit, die Weimarer Zeit bis 1786, man nicht in der Anhänglichkeit an irgend ein Dogma