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Ausgabe:

1914 Nr. 2

Spalte:

594-598

Autor/Hrsg.:

Ernst , Otto

Titel/Untertitel:

Nietzsche der falsche Prophet 1914

Rezensent:

Schwartzkopff, Paul

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593

Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 20/21.

594

Hermfen, Hugo: Die Wiedertäufer zuMünlter in der deutfchen
Dichtung. (Breslauer Beiträge zur Literaturgefchichte.
N. F. 33. Heft.) (VIII, 164 S.) gr. 8°. Stuttgart, J. B.
Metzler 1913. M. 4.80

Über die vorliegende Arbeit läßt fich nicht viel Rühmliches
fagen. Ihre Mängel find freilich nicht ausfchließlich
auf das perfönliche Konto des Verfaffers zu fetzen, fondern
Rheinen mir mit gewiffen Eigentümlichkeiten zufammen-
z.uhängen, denen man im methodifchen Betriebe der neueren
Literaturgefchichtsforfchung überhaupt des öfteren begegnet
. Der äfthetifche Standpunkt, von dem aus vielfach
an das Objekt literarifcher Forfchung herangegangen wird,
mag teilweife berechtigt fein, wo es fich um die ifolierte
Betrachtung eines einzelnen Kunftwerks und allenfalls, wo
es fich um die künftlerifche Würdigung einer Einzelper-
fönlichkeit handelt. Er verfagt aber, wo die Natur des
Gegenftandes auf eine hiftorifch-genetifche Betrachtungsweife
hindrängt. Uiefe erheifcht als Vorausfetzung ein
Vertrautfein mit den in Betracht kommenden großen ge-
fchichtlichen Zeitftrömungen.

In unferem Falle hätte der Zufammenhang des Charakters
der Dichtungen über die Münfterer Wiedertäufer mit
den herrfchenden geiftigen Mächten der verfchiedenen
Zeitalter, auf die fie fich verteilen, aufgedeckt werden
müffen. Ein folches Unternehmen hätte durchaus Erfolg
verfprochen. Denn fchon aus den mitgeteilten Inhaltsangaben
läßt fich erkennen, daß derartige Wechfelbezie-
hungen da find. In den Dichtungen des 16. Jahrhunderts
über die Vorgänge in Münfter fpiegelt fich der zeit-
genöffifche Konfeffionalismus wider, in C. B. Schückings
Drama ,Elifabeth'Sturm und Drang, in Neffelrodes Trauer-
fpiel Jan von Leiden' der Geift des aufgeklärten Abfolutis-
mus; Vulpius' Reimereien illuftrieren die Zerfetzung des
Sturm- und Dranggeiftes, van der Veldes Roman ,die
Wiedertäufer' verrät den Einfchlag romantifcher Empfindungsweife
, in Carl Spindlers ,König von Zion' und Mützeiburgs
,Der Prophet' liegt ein Übergang zum realiftifchen
Roman vor, Eugen Scribes Textbuch zu Meyerbeers
.Prophet' geht auf eine äußerliche Effekthafcherei aus, die
als Entartungserfcheinung des fpäteren Realismus auch
fonft zu beobachten ift. Hamerlings .König von Sion',
die bedeutendfle der hierher gehörigen Dichtungen, läßt
Blicke tun in die zwiefpältige Empfindungswelt einer an
der Schwelle des Subjektivismus der jüngften Zeit flehenden
Dichterperfönlichkeit; in Meverts .König von Münfter'
hallt noch vom Jahre 1848 her die Begeifterung für die
Menfchenrechte nach; Geibelfche Schönrednerei klingt aus
Schneegans'Jan Bockhold' heraus. Der anmaßliche Cynis-
mus in Hardungs Trauerfpiel ,die Wiedertäufer in Münfter'
macht das Stück als das Erzeugnis eines dekadenten
Naturalismus mit Nietzfchefchem Einfchlag kenntlich; in
Wilhelm Pollacks und Fritz Werthoffs .Operette' ,Der Prophetjohann
von Leyden' fcheint Wedekindfcher Snobbismus
nachgeahmt zu fein.

Im einzelnen die angedeuteten Zufammenhänge klarzulegen
und damit das ganze der Unterfuchung auf kultur-
gefchichtliche Bafis zu ftellen, wäre freilich keine ganz
einfache Aufgabe gewefen. Der Verfaffer macht nicht
einmal den Vernich, fie methodifch in Angriff zu nehmen.
Inhaltsangabe reiht fich bei ihm an Inhaltsangabe, was
bei dem künftlerifchen Tiefftand faft aller in Betracht
kommenden Dichtungen aufs äußerfte ermüdend wirkt.
Die eingefügten perfönlichen Werturteile ändern an diefem
Eindruck nichts, man empfindet fie faft durchgehends als
überflüffig. S. 40 urteilt der Verfaffer über Schückings
Dichtung: ,Wir dürfen annehmen, daß das Trauerfpiel bei
feiner Aufführung wohl einen Marken Eindruck hinter-
1 äffen hat'. Dabei hat offenbar gar keine Aufführung
ftattgefunden, denn der Verfaffer erwähnt davon nirgends
etwas.

Die Einleitung, die einen Überblick über die gefchicht-
lichen Ereigniffe in Münfter gibt, befriedigt gleichfalls nicht.

Zu einer felbftändigen und klaren Auffaffung über das
Wefen der Wiedertäufer ift der Verfaffer nicht gelangt.
Mit Allgemeinheiten wie der folgenden ift niemanden!
etwas gedient: ,In der Tat läßt fich nicht leugnen, daß
die Wiedertäufer in manchen Stücken nur weitergingen,
wo die Reformatoren flehen blieben' (S. 13). Auch der
Abfchnitt über die gefchichtlichen Darftellungen der Ereigniffe
in Münfter ift unzulänglich. Kerffenbroik wird nach
der (vom Verfaffer felbft S. 17 Anm. 45 als mangelhaft
bezeichneten) deutfchen Überfetzung aus dem J. 1771
zitiert. Dem Verfaffer fcheint es unbekannt zu fein, daß
das lateinifche Original inzwifchen von Heinrich Detmer
im 5. und 6. Bande der Gefchichtsquellen des Bistums
Münfter (1899 und 1900) neu publiziert worden ift.

Leipzig. Hermann Barge.

Ernlt, Otto: Nietzfche der falfche Prophet. 1. bis 5.Taufend.
(IV, 137 S.) gr. 8°. Leipzig, L. Staackmann 1914.

M. 1.50; geb. M. 2 —
Spindler, Dr. jur. Jofef: Nietzfches Perfö'nlichkeit u. Lehre
im Lichte feines ,Ecce homo'. (ioi S.) S°. Stuttgart,
J. G. Cotta Nachf. 1913. M. 2 —

Hocks, Erich: Das Verhältnis der Erkenntnis zur Unendlichkeit
der Welt bei Nietzfche. Eine Darftellg. feiner Erkenntnislehre
. (VII, 71 S.) gr. 8°. Leipzig, J. A. Barth
1914- M. 3.50

Schaffganz, Hans: Nietzfches Gefühlslehre. (VIII, 133 S.)

8°. Leipzig, F. Meiner 1913. M. 3.50

Frehn, Julius: Nietzfche und das Problem der Moral. (V,8oS.)
gr. 8°. Neubabelsberg-Berlin, Akadem. Verlagsgefell-
fchaft (1912). M. 2.50

Röfener, Karl: Der Kampf ums Ich. Eine Auseinander-

fetzg. zwifchen chriftlichem u. Nietzfchefchem Individualismus
. (64 S.) 8°. Gießen, A. Töpelmann 1914.

M. 1.20

Sodeur, Pfr. Dr.: Kierkegaard und Nietzlche. Verfuch einer
vergleichenden Würdigung. 1—5. Taufend. (Religions-
gefchichtliche Volksbücher, V, 14.) (48 S.) 8°. Tübingen
, J. C. B. Mohr. 1914. M. —50; geb. M. —80

Wir vernehmen in Ernfts Abhandlung die furcht-
lofe Stimme eines ehrlichen Deutfchen, der zwar für N.s
Eigenart nicht die geringfte Sympathie befitzt, fich jedoch
nach Kräften bemüht, den Verdienften deffelben gerecht
zu werden. Trotzdem dürfte er dies Ziel nicht ganz erreicht
haben. Der Hauptgrund liegt darin, daß er von
den Übertreibungen und Ünwahrheiten feiner Lehre eine
Zerftörung ewiger Werte, eine zunehmende Vergiftung
der Volksfeele, zumal der deutfchen Jugend, befürchtet
(S. 134 f.). Daß dies nicht ohne Grund gefchieht, weiß
jeder, der mit unferer Jugend, zumal aus den gebildeten
Ständen, zu tun hat. Auch ift wohl die Zahl derer nicht
groß, die gegen folche Gifte gefeit find, ja die felbft
Honig daraus zu ziehen verftenen. Ich bekenne, von
vielen flammenden Lichtern des trunkenen Propheten, in
Abgründe des Seelenlebens, nicht bloß geblendet, fondern
dauernd erleuchtet worden zu fein. Sucht er doch an
Fülle des Geiftes und an Mficht immer noch feinesgleichen.
Auch erweckt die Tatfache, daß N.s Schriften aus innerfter
Überzeugung und mit feinem Herzblut gefchrieben find,
in mir dasjenige, was er felbft am meiften verpönt, nämlich
tiefes Mitleid. Anderfeits verteidigt E. mit gefundem
Menfchenverftand das Dafein wirklicher Dinge gegen den
heutigen Skeptizismus und unverwüftl icher fittlich er Werte
gegen die Zerbröckelung durch fubjektiviftifche Willkür,
als deren gewaltigfter Vertreter in neuerer Zeit N. da-
fteht. Das Büchlein dürfte daher, als heilfames Gegen-