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Ausgabe:

1913 Nr. 12

Spalte:

368-369

Autor/Hrsg.:

Schwenke, Paul (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Calixtus III, Pabst: Die Türkenbulle 1913

Rezensent:

Ficker, Gerhard

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 12.

368

die Tatfächlichkeit der Willensfreiheit vorausfetzen und
nur mit den begriftlich-dialektifchen Einwänden gegen
die Willensfreiheit fich befaffen und infonderheit den
theologifchen und foteriologifchen Fragen fich zuwenden,
den Satz aufnehmen, daß die Neigung zur Rechtfchaffenheit
dem Willen durch den Sündenfall verloren gegangen ift.
Der Wille kann fich nicht mehr zum Wollen der Rechtfchaffenheit
beftimmen. Darum ift er hier nicht mehr frei,
vielmehr Knecht der Ungerechtigkeit. Er kann die Rechtfchaffenheit
weder aus eigener Kraft aufnehmen, noch
bewahren, noch wieder erlangen. Dazu bedarf es der
Gnade, die dem Willen dazu hilft. Da aber die augu-
ftinifche Juftifikationslehre (die Infpirationstheorie, inspiratio
gratiae oder fpiritus) gehegt hatte — allerdings losgelöft
von der Prädeftinationslehre Auguftins —, fo konnte Anfelm,
wollte er nicht über die kirchlich gewordene Tradition
fich hinwegfetzen, die gratia praeveniens, operans und
cooperans nicht ignorieren. Daß er, wie Baumker hervorhebt
, der göttlichen Gnade den ,Primat' wahrt, ift richtig,
aber nichts befonderes. Das forderte die Rechtfertigungstheorie
, wie he gegen den Pelagianismus fich durchgefetzt
hatte, beweift alfo keine befondere Abhängigkeit von
Auguftin. Es zu unterftreichen hat man darum keinen
Anlaß. Bäumker will ja auch die Bemerkung Dornet de
Vorges' und Verweyens von der allgemeinen Abhängigkeit
Anfelms von Auguftin in der Lehre vom Willen ,ganz
erheblich modifiziert' wiffen. Die fola gratia wird preisgegeben
(Bäumker, S. 58), die Prädeftination wird der
praescientia untergeordnet. Und da Anfelm nachgewiefen
hatte, daß dies Vorherwiffen die Wahlfreiheit nicht aufhebt
, fo enthält auch die Vorherbeftimmung keine Gefahr
mehr für den freien Willen. Es ift der Vorherbeftimmung
wefentlich, das wahlfreie Gefchehen nicht aufzuheben, fondern
es als ein Freies vorherzubeftimmen (Bäumker S. 43).
Selbft die Knechtfchaft des fündig gewordenen Willens
hebt die Freiheit nicht auf. Die Selbftbeftimmung wird
nicht dadurch beeinträchtigt, daß fie zu ihrer Betätigung
eines Antriebs bedarf. Der Wille bleibt ein fich felbft
bewegendes, alles andere aber bewegendes Vermögen.
Ungenötigt von jedem Zwang vermag er aus fich heraus
fich zu entfcheiden, wofür er will.

Anfelms Lehre über den Willen kommt einer ,femi-
pelagianifchen' Löfung des Problems recht nahe. Bäumker
würde dies allerdings nicht zugeben mögen. Anfelms
Behandlung des Willensproblems macht ihm den Eindruck
der Harmonie. Doch mag man dogmatifch Anfelms Darlegungen
billigen oder nicht, hiftorifch angefehen rücken
fie dem ,Semipelagianismus' nahe. Erft die hochfcho-
laftifche ariftotelifche Informationstheorie hat eine ficherere
Abgrenzung und beffere Abwehr gefunden, freilich zugleich
die anfelmfche Deutung der auguftinifchen Willenslehre
preisgegeben und alsbald den Vorwurf fich zugezogen
, daß der freie Wille unter den Zwang des Habitus
gefleht werde.

Zum Schluß verflicht Bäumker eine Entwicklung bei
Anfelm nachzuweifen. Kaum mit Erfolg. Er zeigt wohl
zutreffend, daß Haffe's Vermutung, Anfelm fei durch feine
im Traktat cur deus homo entwickelte Satisfaktionstheorie
bewogen worden, das Verhältnis von Gnade, Prädeftination
und freiem Willen zu Unteraichen, falfch ift. Der dialogus
de libero arbitrio, der fchon die Gedanken der das Problem
des Willens und der Gnade fyftematifch behandelnden
Schrift de concordia enthält, wurde vor dem Traktat
cur deus homo gefchrieben. Was jedoch Bäumker pofitiv
für die Annahme einer Entwicklung namhaft macht, beweift
doch nur eine Entwicklung des fchriftftellerifchen
Planes, mit der Willensfrage fich zu befaffen, nicht aber
eine Entwicklung in der Auffaffung und Behandlung des
Problems.

Intereffant ift ein kurzer Abfatz über die Nachwirkung
der Lehre Anfelms. Von dem neuerdings zu Anfehen
gelangenden Honorius Auguftodunenfis befitzen wir zwei
von einander ftark abweichende Texte feiner Schrift Ine-

vitabile ufw. über die Prädeftination und den freien Willen
(den Text Mignes und die Ausgabe Joh. v. Kelle's, 1905).
Bäumker vermutet nun — an anderer Stelle hofft er es
beweifen zu können — daß Honorius felbft den urfprüng-
lichen Text feiner Arbeit verändert hat, und zwar nach
Kenntnisnahme anfelmfcher Arbeiten über den Willen.
Der ,Prädeftinatianer' Honorius hat die Spitzen feiner
Gnadenlehre abgebrochen und ,wörtlich eine Reihe anfelmfcher
Gedanken dafür eingefetzt, die ftatt der Gnade jetzt
die Freiheit des Willens herausheben. Daher die ftarken
Abweichungen, ja die völlig entgegengefetzte Tendenz
beider Rezenfionen des Inevitabile. Dies fpricht aber
gewiß für einen außerordentlichen Eindruck, den die
anfelmfche Lehrauffaffung auf diefen durchaus felbft-
bewußten Mann gemacht haben muß'.

Tübingen. Scheel.

Calixtus III, Pabft: Die Türkenbulle. Ein deutfcher Druck
v. 1456 in der 1. Gutenbergtype. In Nachbildg. hrsg.
u. unterfucht v. Paul Schwenke. Mit e. gefchichtlich-
fprachl. Abhandig. v. Herrn. Degering. (Seltene Drucke
der Kgl. Bibliothek zu Berlin I.) (13 Taf. u. 38 S. Text.)
Lex.-8°. Berlin, Martin Breslauer 1911. M. 16 — ;

Luxusausg. geb. M. 80 —

Die Abficht, eine Reihe Unika und Seltenheiten aus
dem Befitz der Kgl. Bibliothek in Berlin in Nachbildungen
und mit erläuterndem Text verfehen unter dem Titel
,Seltene Drucke der Kgl. Bibliothek' herauszugeben, wird
gewiß überall mit lebhafter Freude begrüßt werden.
Neben anderen großen Bibliotheken, die ihre Koftbar-
keiten in Fakfimiles einem größeren Publikum zugänglich
machen, kann ficher auch die Berliner fich fehen laffen.
Das hier vorliegende erfte Stück des neuen Unternehmens
berechtigt zu bedeutenden Erwartungen. Es enthält die
vorzügliche Reproduktion der in der erften Gutenbergtype
in Mainz höchftwahrfcheinlich noch 1456 gedruckten Über-
fetzung der Türkenbulle Papft Calixtus' III. vom 29. Juni
1456. Das hier wiedergegebene, ausgezeichnet erhaltene
Exemplar flammt aus der ehemaligen Kgl. Bibliothek in
Erfurt, wohin es aus dem dortigen Petersklofter gekommen
war. Es befindet fich in einem dem Erfurter Theologen
Johannes Milbach gehörigen und von diefem 1489 dem
Petersklofter vermachten Bande. Die preußifche Kom-
miffion für den Gefamtkatalog der Wiegendrucke hat es
in feiner Bedeutung erkannt und damit ein für die ältefte
Gefchichte des Buchdrucks höchft wichtiges Dokument
entdeckt.

Schwenke und Degering haben fich in die Arbeit
geteilt, dem Drucke feine hiftorifche Stellung anzuweifen.
Während jener das Technifche erörtert, unterfucht diefer
das Inhaltliche. Beider Unterfuchungen kommen zu dem
Refultate, daß der Druck keineswegs in offiziellem Auftrage
veranftaltet worden ift, fondern nur buchhändle-
rifchen Zwecken dienen follte, einem Refultate, das für
die Beurteilung jener frühen Druckwerke immerhin wichtig
ift. Sehr lehrreich legt Schwenke dar, was diefer
Druck für unfere Kenntnis der Gefamtentwicklung der
erften Druckfchrift bedeutet. Es wird nachgewiefen, daß
er als ein Ableger der erften gutenbergifchen Werkftatt
zu gelten habe. Um die Mitte der fünfziger Jahre kann
es nicht wenige in Mainz gegeben haben, die mit der
Buchdruckerkunft vertraut waren.

Für die Würdigung des Inhalts der Bulle ift es
wertvoll, daß der Umfchrift des deutfchen Textes das
lateinifche Original zur Seite geftellt worden ift (S. 11—25),
das nach dem Drucke der Annales ecclesiastici, dem
Regifterbande 457 des Vatikanifchen Archivs und dem
Cod. Monacensis lat. 5141 gegeben wird. Degering hält
es für nahezu ficher, daß der Verfaffer der Überfetzung
der Kreuzzugsprediger,Dominikaner,Erzbifchof von Dront-
heim Heinrich Kalteifen war, daß aber die Überfetzung,