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Ausgabe:

1912 Nr. 22

Spalte:

683-685

Autor/Hrsg.:

Brandt, Wilh.

Titel/Untertitel:

Elchasai, ein Religionsstifter zur jüd., christl. und allgemeinen Religionsgeschichte 1912

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 22.

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lebt'. 2. Der orthodoxe Chriftus ,wahrer Menfch und
wahrer Gott', bei Luther beides in einander, bei Zwingli
mehr nebeneinander — ift wie der paulinifche zweite
Adam im Begriffe fich zu überleben. ,Wenn Jefus nicht
beizeiten aus der Verquickung mit dem orthodoxen Chriftus
befreit wird, dann wird eines Tages der orthodoxe Chriftus
Jefus mit in die Grube ziehen'. 3. Der von der Kantfchen
Philofophie beeinflußte ideale Chriftus, ,das teilweife Ergebnis
der hiftorifchen Bibelforfchung, übertragen auf das
praktifch-erbauliche Gebiet des religiöfen Lebens', fleht
als Ideal der Menfchheit außerhalb des Entwicklungsgedankens
, ift die durch die Phantafie gewonnene froftige
Mifchung von Sokrates, Konfuze, Buddha ufw. 4. Der
per fönliche Chriftus d. i. Jefus, der, mit beiden Füßen
auf der Erde flehend und der Entwicklung unterworfen,
kein Fronleichnam, fondern pulfierendes Leben ift, ja
Perfönlichkeit, fofern er ,Gott im Mittelpunkt feines Wefens
empfindet und befitzt und aus diefem frommen Bewußtfein
heraus fich getrieben fühlt, fein Leben in den Dienft
feiner Mitmenfchen zu Hellen'; der uns Gott als Vater-
geift gezeigt und deshalb Anfpruch auf den Titel ,Sohn
Gottes' hat. — Daß diefer Jefus oder perfönliche Chriftus
fich je überleben könne, ,ift undenkbar'. In der Kunft
wird er immer wieder ,neuerlebt', alle foziale Entwicklung
muß der von ihm gewiefenen Balm der Barmherzigkeit
folgen, von der Wiffenfchaft hat er nichts zu fürchten.

Wien. Beth.

Brandt, Wilh.: Elchalai, e. Religionsftifter u. fein Werk.
Beiträge zur jüd., chriftl. u. allgemeinen Religions-
gefchichte. (VII, 182 S.) 8° Leipzig, J. C. Hinrichs 1912.

M. 7.50; geb. M. 8.50

Daß eine Monographie über den Elchafaismus bisher
nicht gefchrieben worden ift, hat feinen guten Grund.
Der Elchafaismus könnte nur dann ausreichend dargeftellt
werden, wenn wir das Buch kennten, welches ihn hervorgerufen
hat. Aber, von diefem Buche, über deffen Umfang
fich nicht einmal Vermutungen aufftellen laffen,
haben fich bei Hippolyt, Origenes und Epiphanius nur
ganz wenige Bruchftücke erhalten. Sie und einige wichtige
Angaben über die Verbreitung, die in der Hauptfache
klar, im Einzelnen — bei Epiphanius — recht verworren
find, repräfentieren unfer ganzes Wiffen von diefer Sekte.
Immerhin find die Grundzüge der Sekte und ihrer ge-
fchichtlichen Stellung nicht zu verfehlen, und auch bei
Brandt (S. 166) erfcheinen fie fchließlich nicht wefentlich
anders, als ich fie in meinem Lehrbuch der Dogmen-
gefchichte I4 S. 326fr. gezeichnet habe1.

Aber was diefer Monographie ihre Eigenart gibt, ift
der kühne Verfuch, aus den ganz fpärlichen Quellenftellen
eine innere und äußere Entwicklungsgefchichte des
Elchafaismus, ja fogar eine Entwicklung des Stifters felbft
zu konfluieren, das Buch in einzelne Blätter aus ver-
fchiedenen Zeiten des Stifters zu zerlegen und außerdem
verfchiedene fpätere Schichten in der griechifchen Über-
fetzung (die wir allein kennen; ein aramäifches Original
können wir nur vermuten) anzunehmen. Die kleinen
Differenzen zwifchen Epiphanius und Hippolyt (bez. Origenes
) geben dazu noch lange kein Recht, und das, was
Hippolyt über den Urfprung des Buches auf Grund feines
Selbftzeugniffes bemerkt, machen die Hypothefe fogar
unwahrfcheinlich. Darnach ift dem Elchafai felbft das
Buch nicht offenbart, fondern — der Schwindel ift freilich
offenbar — er hat es aus dem Lande der parthifchen
Serer erhalten; dort fei die in dem Buche befaßte Offenbarung
(als Buch) von einem Engel (dem Sohne Gottes),
der in Begleitung der göttlichen Ruach erfchienen fei,

1) Brandt hätte in feinem anfpruchsvollen Kapitel über feine
Vorgänger (S. 155ff.) auf diefe Darftellung, die er überfehen hat, Bezug
nehmen oder wenigftens ,Chronologie' II S. 167 eingehender als nur in
einer Anmerkung würdigen follen, ftatt auf meine alten Kleider zu klopfen
und dabei wiederholt daneben zu fchlagen.

erteilt worden. Wie Brandt es fertig bringt, diefe Nachricht
fo zu bearbeiten, daß fich ein völlig anderes Bild
ergibt, nämlich das Bild eines Muhamed vor Muhamed,
der fukzeffive Offenbarungen empfängt, die feine Gläubigen
auf Blättchen fchreiben, um dann zuletzt diefe Blättchen
zufammenzubinden und auch Neues einzulegen — das muß
man bei Brandt felbft nachlefen.

Aber der Kritiker hat fich durch diefe Neufchöpfung
des grundlegenden Berichtes, der nur ein gefchloffenes
Buch aus dem Fabelland kennt, die Bahn frei gemacht,
um — wie er felbft in dem Vorwort bemerkt — ,die
rein wiffenfchaftlich intereffierte Phantafie' walten zu laffen.
Durch fie gewinnt er aus den hoffnungslos dürftigen
Fragmenten eines Buches einen Religionsftifter, den er
allmählich immer tiefer durchfchaut, fo daß er felbft mit
Details feiner Eigenart und Denkweife ganz vertraut wird
und ihn auch in verfchiedenen wichtigen Situationen
fprechen und handeln fieht. Was er uns bietet, lieft fich,
da es von einem kenntnisreichen und für religiöfe Er-
fcheinungen aufgefclftoffenen Manne kommt, vortrefflich;
man bewundert nicht nur den Scharffinn, fondern auch
den gefchärften fachlichen Unterfcheidungsfinn für religiöfe
Strömungen; allein — ich darf mich nicht milder ausdrücken
— es ift ein Roman, den wir lefen. Ich will
nicht leugnen, daß er in einigen Zügen wirklich und wahr
fein kann, aber die Gewähr des Tatfächlichen hat er
nirgends.

Zunächft wird, obgleich die Quellen davon fchlechter-
dings nichts wiffen, ja dagegen proteftieren, das Chrift-
liche aus der urfprünglichen Geftalt der Lehre ganz entfernt
; der Stifter foll am Anfang als reiner Jude feine
ßaxTiO/ioi verkündet haben; dann foll jeder Schritt in
der Propaganda der Sekte eine neue Transformation bez.
Verchriftlichung bewirkt haben, die bereits der Stifter
felbft in feiner fpäteren Zeit eingeleitet habe. Kein
Nebeneinander von Erfcheinungen wird zugelaffen, wo
nur die geringfte Differenz in den Quellen oder die kleinfte
Unebenheit vorliegt, vielmehr wird fofort auf eine neue
Schicht der Entwicklung gefchloffen — nach einer Chrie,
die fehr wiffenfchaftlich ausfieht und auch die Mode für
fich hat, zumal wenn fie formell fo fauber ausgeführt wird
wie hier, die fich aber vom Boden der Quellen vollftändig
entfernt. Es ift wie eine Übung am Phantom: man freut
fich der Gefchicklichkeit des kundigen und umfichtigen
Operateurs und bedauert faft, daß die Sache nicht wirklich
fo verlaufen ift. Am fcheinbarften find noch die
Schlüffe, die aus der Verfchiedenheit der fieben Eideszeugen
in den Quellen gezogen werden. Aber wie viele
Möglichkeiten gibt es, um fie zu erklären, unter denen die
des Verfaffers eben nur eine ift! Und ift es fo ganz unwahrfcheinlich
, daß Elchafai für die verfchiedenen Taufen
auch verfchiedene Eideszeugen vorgefchrieben hat? Welche
Fehler und Konfufionen können fich dazu in der Überlieferung
eingefchlichen haben, und endlich — muß denn
der Elchafaismus auch nur in dem Grade, in welchem
ihn der Verfaffer dafür hält, eine primäre Erfcheinung
fein? Kann er nicht eben mit feinen verfchiedenen
Taufen, feinen Eideszeugen und feiner Aftrologie ein
ganz fekundäres Mifchprodukt fein? Selbft wenn er aus
der Zeit Trajans flammt, was ja um des nicht eingetroffenen
trajanifchen Vaticiniums (in einem Spruch des
Buches) willen recht wahrfcheinlich ift, obfchon man fich
immer erinnern muß, daß wir ihn fchlechterdings nur als
eine Erfcheinung des 3. Jahrhunderts kennen und jenes
Vaticinium von irgendwoher errafft fein kann — in der
Zeit Trajans war jener Synkretismus, der aller Analyfe
fpottet, fchon ftark genug geworden, und auch dem Verfaffer
ift es nicht gelungen, die Herkunft des elchafaifchen
Baptismus (f. S. 147 ff.) wirklich zu enträtfeln.

Habe ich die Entftehung und Entwicklung des
Elchafaismus, wie fie hier gezeichnet ift, einen Roman
genannt, der nichts für fich hat als die gefchichtliche
Möglichkeit — daß ihre Grenzen nie verlaffen find, zeigt,