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Ausgabe:

1912 Nr. 1

Spalte:

22-23

Autor/Hrsg.:

Eachran, John M. Mac

Titel/Untertitel:

Pragmatismus, eine neue Richtung der Philosophie 1912

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 1.

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feiner entfcheidenden Niederlage die Kraft des Wieder-
aufftiegs fand. So lebt er vielleicht heute noch unter
den Jüngeren, ein ganzer, in feiner Art großer Mann,
hochragend und fozial genommen die Zeitgenoffen überragend
.

Anders erfcheint fein Bild aus einem andern Sehwinkel
. Dann erinnert man fich jener rückfichtslos aufwiegelnden
Sturmglocken-Artikel in der ehemals Meßner-
fchen Neuen Evang. Kirchenzeitg. vom Jahre 1877, mit
denen feine öffentliche Wirkfamkeit einfetzte, eine einzige
fchroffe Aufforderung zum unerbittlichen Kampf gegen
den Berliner Liberalismus, der felbft vor dem Apoftolikum
nicht Halt gemacht habe; erinnert fich der tiefgründigen
Abneigung, die er zeitlebens den Mittelparteien und was
zu ihnen gehörte, als den Parteien der unklaren Halbheit
und des unzuverläffigen Latitudinarismus widmete;
erinnert fich jenes feltfamen Spruches, der zum Glück
wie fo manche feiner kühnen Prophezeiungen nachher
nicht in Erfüllung ging: die Verritfchlung der Berliner
theol. Fakultät (es handelte fich um die Berufung Har-
nacks) fei gleichbedeutend mit der Vergletfcherung eines
blühenden Alpentales — eine für Stoeckers Stil, aber
auch für feine Sinnesart ungemein bezeichnende Wendung;
und fchließlich überfieht man die Gefchichte der preußi-
fchen Landeskirche von 1878 bis 1888, dem Höhenzeitalter
in Stöckers Leben, und begreift fo vieles aus jener
Zeit, vor allem die geradezu haßerfüllte Stimmung, die
das Parteiwefen auf die Spitze trieb und kaum noch ein
menfchlich chriftliches Verftändnis für das Recht der
Mannigfaltigkeit imProteftantismus übrig ließ, als Stoeckers
eigenfte perfönliche Leiftung.

Zwifchen diefen einander fehr entgegengefetzten und
freilich auch auf verfchiedene Tatbeftände bezogenen
Standpunkten, zu denen als dritter noch die politifche
Note im engeren Sinn hinzukäme, hat der Verfaffer der
vorliegenden Stoecker-Biographie einen Ausgleich oder
eine Vermittelung oder Verftändigung nicht gefunden
und wahrfcheinlich auch nicht gefucht. Er fteht feinem
Objekt mehr wie ein Anwalt gegenüber, der das gute
Recht feines Klienten unter allen Umftänden wahren will.
Ich geftehe gern zu, daß v. Oertzen in der ,Reformation'
inzwifchen den Verfuch gemacht hat, fich mit den Gegnern
feiner Darftellung fachlich auseinanderfetzen. So wegen
der Angriffe gegen Paftor Hülle, den Leiter des Ev.
Vereins in Berlin. Hülle war ein gelcheiter Mann von
großer Sach- und Menfchenkenntnis und innerhalb feiner
bedeutenden Amtsftellung von ftarkem Herrfchertrieb;
übrigens in vielem ein Gefinnungsgenoffe von Stoecker.
Man begreift, daß es Stoecker nicht leicht geworden ift,
im Kollifionsfall mit diefem Mann fertig zu werden. Gleichwohl
hätte v. Oertzen nicht fo aggreffiv fchreiben dürfen
und jetzt nach Veröffentlichung der Akten durch den
Ev. Verein noch deutlicher zurückziehen können. Aehn-
lich ift es ihm mit hervorragenden Perfönlichkeiten auf
der anderen Seite ergangen. Von Beyfchlag heißt es:
,Diefer Gelehrte, der Typus eines deutfchen Profeffors, wie
er nicht fein foll, ftreitfüchtig, unfachlich, gehäffig, kleinlich,
fühlte das Bedürfnis, Stoecker vor dem Eingefunden und
Bedenklichen in feinen Beftrebungen wohlwollend zu
warnen', was nach der Meinung v. Oertzens ganz über-
flüffig war, oder auf Klatfch beruhte (S. 251). Oder auch:
,Diefer alte Gelehrte fühlte fich nie fo wohl, als wenn er
vergiftete Pfeile abfchießen konnte' (S. 320). Das find
arge Entgleifungen, um keinen fchärferen Ausdruck zu
gebrauchen. Jeder Parteimann könnte verfuchen, genau
dasfelbe von Stoecker nachzuweifen, er würde ebenfo
recht oder unrecht haben. Nicht beffer fteht es mit
v. d. Goltz. Es wäre gewiß fehr lohnend und für uns alle
lehrreich, den ungewöhnlich tiefen Gegenfatz beider Männer
und ihrer kirchlichen Denkart zu erhärten. Zwei grund-
verfchiedene Kirchenideale trafen da fcharf aufeinander.
Aber der Biograph von Stoecker begnügt fich, abgefehen
von den erften freundlichen Begegnungen beider in Rom,

mit einigen abfprechenden Worten über den zweifellos
charaktervollen und hochverdienten Propft.

Dies führt auf den entfcheidenden Mangel des Buches.
Es fehlt dem Buch die höhere Warte, wie fie von Petersdorff
in feiner ausgezeichneten Kleift-Retzow-Biographie
einnimmt, es fehlt die hiftorifche Schulung. Daher ift die
Licht- und Schattengebung mißlungen. Daß in den
Kämpfen des öffentlichen Lebens und innerhalb feiner
Parteigegenfätze fich Kräfte maßen, die in ihrer Art wertvoll
waren, die eine gefchichtliche Aufgabe hatten, und eben
aus diefem Grunde mit einander zu Felde zogen, daß
überhaupt ein Stück Gefchichte fich abfpielte, deren bedeutenden
Werdegang wir mit Teilnahme und Verftändnis
verfolgen wollen, ohne in jeden einzelnen Fall zu dem
Für oder Wider Stellung zu nehmen, das kommt bei dem
Verfaffer nicht zu feinem Recht. Selbft Bismarck verliert
in der Gegenüberftellung mit Stoecker. Sollte das hiftorifche
Gerechtigkeit fein? Dagegen führt uns v. Oertzen unzählige
Zeugniffe vor, wie Stoecker von den Seinen verehrt
und auf Händen getragen wurde. Das ift gewiß
erbaulich. Beweiskräftig ift es nicht, v. Oertzen beruft
fich in der ,Reformation' darauf, er habe auch die Fehler
Stoeckers offen zugeftanden. Sieht man aber genau zu,
fo erfcheinen felbft die Fehler als gefteigerte Tugenden:
Stoecker fei öfter zu forglos gewefen, er habe in feiner
Großzügigkeit die Tragweite einzelner Worte und Handlungen
nicht gehörig erwogen, wie es bei dem Übelwollen
der Gegner nötig gewefen wäre. Aber Stoecker wußte,
wenn irgend jemand, um das öffentliche Leben Befcheid.
Wie oft hat er Befchwerde über feine fcharfe Kampfes-
weife damit abgewiefen, wer im öffentlichen Leben ftehe
und fich gegen ihn aufmachen wolle, müffe fich auch gefallen
laffen, nach den Regeln des öffentlichen Lebens
behandelt zu werden. Das durfte auch auf ihn Anwendung
finden.

Ich verfage es mir, auf die politifche Seite des Buches
näher einzugehen. Der Antifemitismus und die chriftlich-
foziale Partei, in denen Stoeckers politifches Wirken
gipfelt, find ebenfo wie fein Bruch mit der konfervativen
Partei einer objektiven Nachprüfung noch nicht zugänglich
. Nicht einmal die berühmte Walderfee-Verfammlung
erfcheint mir heute fchon fpruchreif. Es ift bekannt, daß
ausgemacht war, Stoecker folle in diefer Verfammlung
nicht reden. Warum er doch geredet hat, ift bis jetzt
unaufgeklärt geblieben.

Dagegen möchte ich noch zweierlei hervorheben, was
bei der Lektüre des Buches wohltuend in die Erfchei-
nung tritt. Einmal das überaus zarte und innige Verhältnis
zu feiner Frau mit der er in kinderlofer Ehe lebte,
und dann — ich fage das trotz aller Angriffe, die auch
diefe Seite feines Wirkens erfahren hat — Stoeckers hingebende
und felbftlofe Liebe zur Stadtmiffion.

Berlin. Hermann Scholz.

Eachran, Prof. Dr. John M. Mac: Pragmatismus, eine neue
Richtung der Philofophie. Leipzig, Dieterich 1910.
(86 S.) 8° M. 2 —

Über den Pragmatismus ift in der letzten Zeit reichlich
viel gefchrieben worden. Das ihm entgegenbrachte
ftarke Intereffe dürfte — was übrigens pfychologifch
durchaus begreiflich ift — im umgekehrten Verhältnis
zu feiner Originalität flehen. Unter den einfchlägigen
Publikationen ift indeffen die vorliegende, die aus einer
Leipziger Differtation hervorgegangen ift, zweifelsohne
eine der gediegeneren. Sie fetzt mit einer intereffanten
Charakteriftik des fogenannten ,Abfolutismus' von Green
und Bradley ein und vollzieht in einer kurzen Schilderung
des ,perfönlichen Idealismus' F. C. S. Schillers den Übergang
zu einer ausführlichen Darftellung des Pragmatismus,
feiner Methode, feines Wahrheitsbegriffs, feiner Stellungnahme
zur Wiffenfchaft, zur Metaphyfik, zur Religion. In
einem zweiten Teil folgt die Kritik, die mit der Beleuch-