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Ausgabe:

1912 Nr. 10

Spalte:

313-315

Autor/Hrsg.:

Schoell, Jakob

Titel/Untertitel:

Evangelische Gemeindepflege 1912

Rezensent:

Schian, Martin

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 10.

3H

da gelten zu laffen und in das Gefetz aufzunehmen, wo
wirklich fchon eine Übung fich nachweifen läßt, vielmehr
auch da, wo der Richter nach feiner innerften Überzeugung
annehmen muß, die Entfcheidung nach der
reinen Rechtskonfequenz widerfpreche, obfchon es an
■einer Übung fehlt, den moralifchen Anfchauungen der
billig denkenden Volksgenoffen. Doch dürfte dagegen
Widerfpruch zu erheben fein, daß der Verf. die Entfcheidung
nach den guten Sitten mit der Entfcheidung nach
der ,Natur der Sache' auf gleiche Linie ftellt; die letztere
Entfcheidung ift Entfcheidung nach der Rechtskonfequenz,
allerdings nicht nach dem Buchftaben der einzelnen gefetz:
liehen Beftimmung, wohl aber nach deren wahrem Sinne
im Zufammenhalt mit dem Ganzen der Rechtsordnung.

Eine Norm für die richterliche Überzeugung über
die moralifchen Volksanfchauungen, foweit fie nicht fchon
durch Übung evident geworden find, wird vom Verf.
nicht angegeben, und es wäre bedenklich, wenn fie nicht
zu finden wäre. Sie exiftiert aber, was von Herzog über-
fehen und worin feine Arbeit zu ergänzen ift. Da das
Recht nicht wollen kann, daß die Rechtsficherheit durch
eine allzu leicht irregehende, nicht weiter zu motivierende
Berufung auf eine Überzeugung erfchüttert werde, fo hat
der Richter ftets, wenn er eine Entfcheidung nach Maßgabe
der guten Sitten treffen will, zu unterfuchen, welche
Folgen fich daraus für das Rechtsleben ergeben würden,
wenn der exzeptionelle Rechtsfatz über den Verftoß gegen
die guten Sitten in allen dem vorliegenden konkreten
Falle gleichzuftellenden Fällen zur Anwendung gebracht
würde. Nur fo kann der Gefahr begegnet werden, daß
das Recht mehr und mehr in eine unbeftimmte und
weichliche Moral verwandelt wird, welche fchließlich
auch einer gefunden Moral der Einzelnen und dem
Gemeinwohle verderblich werden würde. Ein Beifpiel
liefert gerade der wichtige § 138 des BGB. Das Vertrauen
auf das gegebene Wort ift im Rechtsverkehr von
weitreichendfter Bedeutung. Was würde aus der Rechtsficherheit
der Verträge werden, wenn der Richter einen
Vertrag für unverbindlich erklären würde, der nur vor
einem ftark altruiftifchen Gefühle nicht beftehen würde,
eine Entfcheidung, die verkennen würde, daß der Egoismus
im Gefchäftsverkehre die unentbehrliche Triebkraft
ift und daß der Egoismus der Einzelnen
doch auch dem Ganzen dient Es darf aber nicht ein

Verf. ftellt fich mit ihm ganz in die Reihe derer, die für
Sulzefche Ideale kämpfen. Sulzes größere Schriften (1891
u. 1906) können als wegweifende und klärende Weckrufe
betrachtet werden; meine Arbeit über die evang. Kirchgemeinde
(1907) verfucht die einfehlägigen Gedanken
fyftematifch-wiffenfchaftlich durchzuarbeiten und zu ver-
vollftändigen; Sch. geht, ohne das Prinzipielle zu vernach-
läffigen, doch mehr auf praktifche Ziele los und gibt fo
feinem Buch eigene Art. In der Hauptfache will er die
im Begriff Gemeindepflege zufammengefaßten Aufgaben
der Gemeinde klären und für ihre richtige Ausführung
die Linien zeigen. Der Titelbegriff Gemeindepflege will
mir dafür nicht ganz glücklich erfcheinen; er macht die
Gemeinde wieder zum Objekt ftatt zum Subjekt, während
doch Sch. felbft, ohne allerdings die damit angedeutete
grundfätzliche Frage erfchöpfend zu behandeln, z. B.
in § 4 von der ,fozial tätigen' Gemeinde fpricht. Die
Ausführungen über die Arbeit erleiden dadurch aber
keinen Schaden; überall wird die Verpflichtung der
Gemeinde und die nähere Beziehung der Arbeit zur Ge-
meindeorganifation betont. Daß auf diefe praktifchen Ab-
fchnitte das Hauptgewicht fällt, ergibt fich nicht nur aus
dem Umfang der Teile (prinzipielle Grundlegung S. I—78,
praktifche Erörterung S. 79—251), fondern auch aus den
für das Prinzipielle merkwürdig (m. E. allzu) knappen (nur
S. 78 eine kurze Angabe), für das Praktifche jedes Einzelgebiet
näher berückfichtigenden Literaturnachweifen. Als
Lefer fcheint Sch. fich in der Hauptfache Theologen gedacht
zu haben; fonft hätte er in den Literaturverzeich-
niffen jedenfalls nicht Abkürzungen wie RGG oder ZThK
unerklärt benützen dürfen. Aber ausdrücklich hervorgehoben
fei, daß der Stil gar nicht theologifch, fondern
durchaus allgemeinverftändlich ift. Allerdings werden
recht viele Fragen auf knappem Raum behandelt, manche
mehr andeutungsweife; den vollen Gewinn davon können
nur Lefer haben, die wiffen, um was es fich handelt; aber
praktifch erfahrene, in der Gemeindearbeit bewanderte
Nichttheologen dürfen wohl in deren Zahl eingerechnet
werden.— Der prinzipielle Teil befpricht die Gemeinde-
Idee, die Gemeinde-Organifation, Gemeindearbeit und -Arbeiter
. Die wichtigften der Fragen, deren Beantwortung
für die Begründung der Gemeindearbeit unerläßlich ift,
kommen hier zur Befprechung. Schön ift die Auseinander-
fetzung mit dem religiöfen Individualismus (S. 2 fl), trefflich

befonders feines moralifches Gefühl den Ausfchlag geben; ! die Ablehnung der bloßen .Wortgemeinde' (S. 15 ff) und
man muß vielmehr einen Tatbeftand als eine gröbliche j dieVerteidigungder.fozialtätigen'GemeindegegenDoerries
Verletzung moralifcher Anfchauungen, als einen .Verfloß'«j und Traub (S. 19 ff); nicht minder die Bekämpfung des
empfinden, und nur da, wo fich wirklich fchon eine als ' Perfonalgemeindetums (S. 37 f.) und die Verteidigung der

gut zu bezeichnende Sitte gebildet hat oder aller Wahr
icheinlichkeit nach gebildet haben wird, kann der Gefetzgeber
und fomit auch der Richter die Norm der guten
Sitten in einem die Freiheit des Handels mehr be-
fchränkenden Sinne auffaffen.

Sind nun auch einzelne Widerfprüche gegen Herzogs
Anflehten geltend gemacht, und bedürfen letztere wohl
auch noch einiger Vervollftändigung, fo wird die Kritik
doch anerkennen müffen, daß die vorliegende Schrift nicht
nur die Löfung eines fchwierigen und praktifch wichtigen
Problems wefentlich gefördert hat, fondern auch für das
allgemeine Verhältnis von Sitte, Moral, Recht und Rechtsfindung
höchft beachtenswerte Ausführungen enthält.

Göttingen. L. v. Bar.

S c h 0 e 11, Pred.-Sem.-Prof. D. Dr. Jak.: Evangelifche Gemeindepflege
. Handbuch f. evangelifch-kirchl. Gemeindearbeit.
(IV, 251 S.) gr. 80. Heilbronn, E. Salzer 1911.

M. 4.50; geb. M. 5.50

n r^U rl" v c ■ i"v.niv.ii vciiniiat man eine geiiaucicüiun.v.1 ung ucs ituwcicii

iJurcn die Konferenz für evangelifche Gemeindearbeit , Problems, das fich aus der Forderung der Aktivität der

Einzelgemeinde auf volkskirchlicher Grundlage' (S. 26 ff).
§ 11 .Gemeindearbeit und Innere Miffion' wird beiden
genannten Größen durchaus gerecht; die geforderte Grenzregulierung
zwifchen ihnen (S. 55) wird freilich in der
Praxis fehr fchwierig fein. Daß Sch. den Sulzefchen Begriff
Seelforgegemeinde kritifch betrachtet, (S. 16ff), ift
dankenswert; ich meine allerdings, daß gegen diefe Bezeichnung
, die ich durchaus vermeide, noch mehr fpricht,
als das, was er anführt. Wenn Sch. bei diefer Gelegenheit
den Begriff der .religiöfen Einfchulungsgemeinde' bildet
(S. 17) und im felben Zufammenhang von einer .Einübung
des Wortes' fpricht, fo befürchte ich von diefen Terminis
weit mehr Mißverftändniffe als Förderung der Diskuffion.
§ 10 Abf. 3 befpricht kritifch die Sulzefchen Hausväterverbände
; ich teile feine Fragen und Bedenken. Einzelne
Punkte könnten eine genauere Darlegung vertragen; über
Kirchenzucht, oder, wie ich lieber fage, Gemeindezucht,
finde ich nur wenige Andeutungen (z. B. S. 6. 19); das Verhältnis
von Gemeinde und Kirche ift in kurzen, aber
treflficheren Sätzen befprochen (S. 31 ft); vielleicht am
meiften vermißt man eine genauereErörterung des fchweren

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ruext. bo kommt Schoells Buch zu paffender Zeit. Sein 1 Pfarramts in und gegenüber der Gemeinde. Die Bekenntnis-