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Ausgabe:

1912 Nr. 6

Spalte:

187-188

Autor/Hrsg.:

Walther, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Fahre fort! Neue Predigten 1912

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Seite 1

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187 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 6. 188

Gewicht fpüren und fich innerlich mit ihr auseinanderfetzen
, am heften fchon, bevor er ins Amt kommt. Ich
fürchte nicht, daß jeder Lefer den gleichen Weg gehen
wird, wie der Pfarrer in dem Buche; die Inkonfequenz
des Abfchluffes trotz der gewonnenen Erkenntnis vom
Wert der Kirche wird dem Nachdenkenden deutlich werden.

Gießen. M. Schi an.

Die Religion und die Frau. 7 Vorträge. Hrsg. v. Dr. Gertr.
Bäumer. (66 S.) gr. 8°. Berlin-Schöneberg, Proteftant.
Schriftenvertrieb 1911. M. 1.50

Die in diefem Heft vereinigten heben Vorträge find
in der Sonderkonferenz gehalten worden, die im Anfchluß
an den Weltkongreß für freies Chriftentum und religiöfen
Fortfehritt zu dem Thema: ,Die Religion und die Frau'
veranftaltet wurde. Das Thema wurde nach drei Seiten
hin behandelt. Einmal follte gezeigt werden, daß in der
Ordnung der chriftlichen Gemeinde mit dem apoftolifchen
Wort ,Hier ift nicht Mann noch Weib, he find allzumal
einer in Chrifto' noch lange nicht Ernft gemacht wird.
Zum Zweiten frug es fich, wie im Lichte des freien Chri-
ftentums die Frauenbewegung und alle die neuen Ziele
der Frauen der Gegenwart daftehen. Endlich galt es die
befonderen Gelegenheiten zu zeigen, die der Frau durch
ihre Stellung in der Familie und durch alle Formen
fpezihfch weiblichen Wirkens gegeben find, freies Chriftentum
und religiöfen Fortfehritt zu pflegen. Diefen drei
Seiten des Themas entfprechen die Vorträge der Sonderkonferenz
. ,Chriftentum und Frauenbewegung' (Marie
Martin), ,Mitarbeit der Frau am religiöfen Fortfehritt durch
die häusliche Erziehung' (Elsbeth Kruckenberg), ,Der
Religionsunterricht und die Frauen' (Dr. Ada Weinel), ,Die
Mitarbeit gebildeter Frauen in der Gemeinde' (Helene von
Düngern), ,Das Recht der Frau in der Gemeinde' (Hedwig
Winnecke). An diefe mehr prinzipiell gehaltenen
Erörterungen fchließen fleh noch zwei von amerikanifchen
Damen gemachte Mitteilungen über bereits errungene
Erfolge und tatfächlich vorliegende Leiftungen: Frauen
als Geiftliche (Effie McCollum Jonas, D. D.) und ein ameri-
kanifches Gemeindegehilfen-Seminar (Mrs Clara T. Guilt,
Vorfteherin der Tuckerman School, Bofton).

Die Vorträge ergänzen fich aufs glücklichfte und
ftellen ein von demfelben Geifte zuverfichtlicher Freudigkeit
, hohen Verantwortlichkeitsgefühls und ernften Ringens
um die Herausarbeitung und Löfung der Probleme getragenes
Gefamtzeugnis dar. Einzelnes befonders herauszugreifen
und anzuführen, ift nicht leicht möglich, da die
Zitate endlos ausfallen würden. Es genüge zu fagen, daß
die ideale Faffung der in Ausficht geftellten Aufgaben
fleh in fchönfter Weife mit praktifcher Befonnenheit und
Nüchternheit paart, daß die Gefahren, die der modernen
Frauenbildung drohen und die durch religiöfe Vertiefung
gehoben werden können, nachdrücklich aufgedeckt werden
(z. B. 28fg.), daß der Verfuch, in die Probleme einzuführen
und die Richtung anzugeben, in welcher die
Löfung zu fuchen ift, als ein wohl gelungener bezeichnet
werden darf. Somit reihen fleh die hier gebotenen Beiträge
ebenbürtig an die Vorträge des Kongreffes an und
gereichen demfelben gewiß nicht zur Unehre. Der Herausgeberin
Dr. Gertrud Bäumer gebührt unfer aufrichtiger
Dank.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Walt her, Konfift.-R. Univ.-Pred. Prof. D. Wilh.: Fahre fort!
Neue Predigten. (III, 159 S.) gr. 8°. Leipzig, A. Dei-
chert Nachf. 1911. M. 2.60; geb. M. 3.40

Der Titel der 12 Predigten Walthers weift daraufhin,
daß es fich darin um den Ausbau des chriftlichen Lebens
handelt, um Moral- oder auch Heiligungspredigten. Sie
zeichnen fich aus durch Lebhaftigkeit und Energie der
Sprache und der Gedanken, durch bis ins einzelne durchgeführte
forgfältige Meditation, die das Thema vielfeitig
beleuchtet und kaum einen möglichen Einwurf unbeachtet
läßt, durch große Volkstümlichkeit, die in zahlreichen Bei-
fpielen aus dem täglichen Leben, aus den Geiftesftrömungen
der Gegenwart, aus den Zuftänden und Erfahrungen des
Chriftenherzens fleh kundtut. Anzuerkennen ift auch die
gerechte und milde, allerdings auch etwas bemitleidende
Berückfichtigung der Schwierigkeiten und Nöte der Theologie
-Studierenden, derenAnwefenheit in der Kircheais felbft-
verftändlich vorausgefetzt wird. Mit diefen Vorzügen find
freilich auch Mängel verbunden. Die forgfältige Meditation
und die Bemühung um allfeitige Beleuchtung des Themas
hatdenErfolg,daßdiemeiftenPredigten fehrlang, ermüdend
lang ausgedehnt find; eine volle Stunde wird das Zeitmaß
gewöhnlich gewefen fein. Die Lebhaftigkeit und dringende
Kraft des Predigers hat ihn nicht vor manchen Entglei-
fungen bewahrt: Die Sprache verliert fich mitunter ins
Derbe bis zur Grenze des Rohen; in der erften Predigt
fpricht er von der verfluchten, von Gott verdammten
(geiftlichen) Genügfamkeit und fordert ,zornige lodernde
Unzufriedenheit mit dem, was wir fchon vom Chriftentum
haben'. Auch die faft Händige Polemik gegen der luthe-
rifchen Orthodoxie abgewandte Theologen und das ftets
wiederkehrende Ängftigen der Hörer mit ihrem Tode
und den Gewiffensqualen der letzten Stunden rechnen wir
zu den Entgleifungen. Nicht minder das Schwanken des
fittlichen Urteils; denn einmal ift der Hochmut die Sünde
aller Sünden, dann wieder das Unvermögen zu bitten: Gib
uns unfer tägliches Brot. ,Was wäre noch Sünde, wenn es
das nicht ift?' (103). Nach der 7. Predigt ift es eine Schande
für uns, ein Beweis unfrer Schlechtigkeit, daß wir durch
viele Trübfale ins Reich Gottes eingehen müffen (81);
obgleich der Text (1 Pt. 5, 6.7) vom Leiden um des
Glaubens willen fpricht (82) und vom Teilhaben an den
Leiden Chrifti; fo find die Leiden überhaupt doch etwas
Heiliges und Erhabenes, das wir mit Ehrfurcht anfehen
müffen (91). Nach der 3. Predigt find alle irdifchen Güter
(Gefundheit, Vermögen, Ehre ufw.) nur Scheingüter, die
wir uns felbft erwerben können, wenn Gott uns nicht
hindert; ,fie können mißbraucht werden, aber was liegt
daran?' Nach der 2.Predigt müffen wir uns dazu zwingen,
daß neben der Trauer auch Freude im Herzen wohnt;
Gott würde feine Sonne über Böfe und Gute gar nicht
1 aufgehen laffen können, wenn nicht der Verföhner für
j unfre Sünden da wäre. Auch in den Beifpielen entgleift
der Verfaffer wohl einmal: z. B. wenn er von feinem
Sohn erzählt, der bei Beftimmung einer Pflanze den
Lehrer der Botanik arg befchämt habe ufw. Dem allem
gegenüber heben wir jedoch hervor, daß fich auch fehr
gute und echt evangelifche Predigten in der Sammlung
finden. Außer der Paffionspredigt über Eph. 5, 1.2 feien
die vier letzten der Sammlung genannt, obgleich es nicht
verftändlich ift, wie in der II. Predigt der Verfaffer mit
1 fchärfften Worten in Abrede ftellen kann, daß in den
Jefu zugefchriebenen Parufiereden die Erwartung baldiger
Wiederkunft in Herrlichkeit ausgefprochen fei.

Die Texte, meiftens kurze Worte, find frei gewählt, inhaltlich
öfter den altkirchlichen Perikopen fich anfchließend.
Nicht immer ift die Textwahl glücklich. Es befremdet,
daß die erfte Predigt (Phil. 3, 12) das bedeutungsvolle:
,nachdem ich von Chrifto Jefu ergriffen bin', nicht berück-
fichtigt; das chriftliche Trachten nach Vollkommenheit
wird dadurch der Vorausfetzung und des Motivs beraubt
und nimmt einen fchroff gefetzlichen Charakter an. Auffallend
ift endlich — und das gilt mit wenigen Ausnahmen
von allen Predigten — die faloppe Art der Formulierung
der Propofition, befonders des Verhältniffes der Teile zum
Thema. Die homiletifche Korrektheit ift ein ftrenges
Gefetz; vornehmlich bei Mufterpredigten, wie fie doch im
Univerfitätsgottesdienft vorauszufetzen find, hat der Mangel
fchwer wiegende Nachteile für die Heranbildung der kommenden
Predigergeneration.

Marburg. _ E. Chr. Achelis.