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Ausgabe:

1911 Nr. 3

Spalte:

69-71

Autor/Hrsg.:

Westermarck, Eduard

Titel/Untertitel:

Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe. 2 Bde 1911

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 3.

70

Wertermarck, Prof. Dr. Eduard: Urfprung und Entwicklung
der Moralbegriffe. Deutfch von Leopold Katfcher. 2
Bände. Leipzig, Dr. W. Klinkhardt. Lex. 8°.

M. 25.70; geb. M. 28.70
1. Bd. (VII, 632 S.) 1907 M. II—; geb. M. 12.50 — 2. Bd.
(III, 703 S.) 1909. M. 14.70; geb. M. 16.20.
Wertermarck, Prof. der prakt. Philofophie in Helfing-
fors und Prof. der Soziologie an der Univerfität London,
hat fich längft durch feine .Gefchichte der menfchlichen
Ehe' (1891, deutfch 1893) unter Theologen und hthikern
einen bekannten und geachteten Namen gemacht. Der
erfte Band des vorliegenden Werkes in der englifchen
Originalausgabe ift alsbald nach feinem Erfcheinen in
diefer Zeitung gewürdigt worden (1906 Sp. 712—714
von E. W. Mayer). Es fei mir geftattet, gelegentlich
der deutfchen Ausgabe noch einmal auf das Ganze zurückzukommen
, um es dringend der Aufmerkfamkeit der
Fachgenoffen zu empfehlen, denn feiten hat mich ein
Werk von gleichem Umfange bis zum Schluß fo rtetig
und andauernd gefeflelt. Das liegt nicht etwa an be-
fonderen Vorzügen der Darftellung, die trocken und einförmig
genug ift, auch nicht an kraftvoller Durchdringung
des Stoffes, die vielmehr zu wünfchen übrig läßt.
Anftatt das bertimmten Kulturtypen konforme fittliche
Leben in feiner organifchen Einheit zu erfaffen und die
Triebkräfte der fittlichen Entwicklung hervortreten zu
laffen, wird vielmehr der Stoff in ein abfiraktes Schema
eingezwängt (Handlungen mit Bezug auf das Intereffe
anderer, auf das eigene Wohlergehen, auf das Gefchlechts-
leben, auf die Tiere, auf die Toten, auf übernatürliche
Welen), das überdies zu zahlreichen Wiederholungen
führt. Aber mit bewundernswertem Fleiß, zähefter Ausdauer
, umfaffendfter Sachkenntnis hat W. eine gut geordnete
Materalienfammlung gefchaffen, die alles Bisherige
weit hinter fich läßt und unferer Analyfe eine
wunderbare Fülle intereffanten Stoffes, die fonrt aus
einer umfaffenden und zum Teil entlegenen Literatur zu-
fammengefucht werden mußte, zugänglich macht. Von
der Differenzierung des fittlichen Urteils wie von feiner
Einheitlichkeit erhalten wir hier einen ganz überwältigenden
Eindruck. Einen eigenartigen Reiz gewinnt
die Darrteilung durch die Zufammenfaffung der primi-
tivften Formen fittlichen Lebens mit den heutigen, komplizierten
faft in jedem Abfchnitt. Wie dem Ethiker,
fo eröffnen lieh auch dem Religionshiftoriker und dem
Exegeten auf Schritt und Tritt neue Ausblicke. Die
letzten Kapitel (C 40: Der Glaube an übernatürliche Wefen.
41: Pflichten gegen Gottheiten. 42: Gottheiten als Sittlichkeitswächter
) find ausfchlitßlich der Religion gewidmet,
aber in Wirklichkeit treten ihre Einwirkungen auf die
Sitten und Gebräuche der Menfchen faft in jedem Abfchnitt
zu Tage. So finden fich z. B. über Karten und
Almofen, über Flüche und Segnungen, über Opfer und
Ordalien, über Sühnopfer und Sündenübertragung ufw.
lehrreiche Mitteilungen; dazu kommt eine Theorie über
die Verbindung der Religion mit der Sittlichkeit (die
Verfluchung des Frevlers mit Zauberwirkung foll den
Ausgangspunkt bilden), deren ausfchließliche Geltung be-
ftritten werden muß, die aber doch in einzelnen Gebieten
fich durch Tatfachen belegen läßt.

Daß Ws. Materialienfammlung nicht vollrtändig ift,
verfteht fleh, wie auch er ausfpricht, von felbft. Schon
mit Bezug auf die Primitiven, gefchweige denn bei den
gefchichthehen Völkern wird jeder, der die Literatur
felbrtändig kennt, mancherlei Ergänzungen geben können,
hier und da auch Berichtigungen. Daß die Berichte der
Reifenden nicht gezählt, fondern gewogen werden müffen,
ift ein Grundfatz, zu dem auch W. fich bekennen wird,
der aber viel fchärfer hätte durchgeführt werden müffen.
Immerhin irt die Befonnenheit und Stichhaltigkeit feiner
Darfteilung anzuerkennen, die nicht feiten einfeitig natu-
raliftifchen Vorrtellungen mit Energie entgegentritt. Ge-

fichtspunkte von erheblicher Bedeutung wird man bei
ihm kaum übergangen finden. Zu vermiffen bleiben Ausführungen
über das fittliche Verhalten gegenüber Unglück,
Leiden und Krankheit; auch über die Entwicklung des
Schamgefühls fucht man vergeblich Belehrung. Für fehr
erwünfeht würde ich es ferner halten, wenn dem konkreten
Tugend-Ideal und feiner Entwicklung eine eingehende
Unterfuchung zu teil würde, wiewohl man über die meiden
Tugenden und ihre Geltung gelegentlich unterrichtet wird.

Was die gefchichtlichen Völker betrifft, fo muß ich
mich auf eine kurze Bemerkung über die chriftlichen
befchränken. Es läßt fich nicht leugnen, daß in diefer
Beziehung die Erudition wie die Unparteilichkeit des Ver-
faffers zu wünfchen übrig läßt. Die Art, wie das Ur-
chriftentum mit dem Katholizismus identifiziert wird, die
proteftantifche Sittlichkeit aber faft ganz außer Anfatz
bleibt, entfpricht weder den Tatfachen noch der heutigen
Forfchung!

Geradezu unrichtig wirkt z. B. in feinem Zufammenhange der Satz
daß das Chriitentum die Pflichten der Kinder gegen ihre Eltern den
Pflichten gegen Gott unterordne (I 444. 505 t.); daß vielmehr die Kindespflicht
allen kultifchen Verpflichtungen vorangehen foll, zeigt deutlich
Mark 7, 10—13. Das Chriftentum hat angeblich wenig Grund, fleh feiner
Leiftungen für die fittliche Erziehung zu rühmen (II 582). Z. B. foll es in
Sachen der gefchlechtlichen Beziehungen zwifchen Unverheirateten kaum
mehr als einen, in der Praxis von der grollen Mehrheit nicht anerkannten,
theoretifchen Maßftab gefchaffen haben (II 349); es foll auf die Stellung
der Frau ungünftig eingewirkt haben (II 535); es foll für die Entwicklung
des Wahrheitsfinnes ohne Bedeutung gewefen fein (II 113) ufw.
Hier fleht W. den Wald vor Bäumen nicht. Jede unbefangene Verglei-
chung zeigt das Gegenteil; man darf nur nicht den Idealen irgend einer
Gemeinfchaft die fittlichen Schäden der Chriftenheit gegenüberftellen
fondern muß Ideale mit Idealen, Zuftände mit Zuftänden vergleichen.

Geringere Bedeutung als dem Material vermag ich
den ethifchen Prinzipien Ws. beizumeffen. Seine ethifche
Grundanfchauung zeigt eine ftarke Nachwirkung der Uti-
litätsmoral, ift aber noch ftärker durch Spencer und Darwin
beftimmt. Er führt, worin ich ihm nur beiftimmen
kann, alle fittlichen Begriffe auf Gefühle der fittlichen
Mißbilligung oder Billigung zurück; diefe ordnet er (was
ficher Erwägung verdient) der großen Gruppe der Vergeltungsgefühle
(Rache refp. Dankbarkeit) zu, die fich
nach dem Grundfatz der Auslefe des Lebensfähigften
allmählich aus dem fchützenden Reflexverfahren herausgebildet
haben follen (i, 135). Von anderen Arten vergeltenden
Unwillens oder Wohlwollens unterfcheidet fich
die fittliche durch die ihr eignende Unparteilichkeit und
(relative) Allgemeinheit. Diefe aber führt fich darauf
zurück, daß die Gefellfchaft die Wiege des fittlichen
Bewußtfeins ift; die altruiftifchen Inftinkte (zumal der
mütterliche und väterliche) entflammen ebenfalls dem
.Überleben des Tauglichften' (II. 158). Ich vermag in die-
fem biologifchen Grundfatz eine wirkliche Erklärung
nicht zu erblicken. So gewiß überleben nur kann,
was lebensfähig ift, wird man freilich der natürlichen
Auslefe die Kraft beilegen dürfen, die lebenerhaltenden
Tendenzen zu befeftigen, daher auch fittliche Regungen
zu Sitten und Gewohnheiten zu verfertigen. Aber diefe
Regungen und Gefühle müffen bereits vorhanden fein,
alfo auf andern Kräften beruhen als auf der natürlichen
Auslefe. Wie mißlich es ift, diefem Grundfatz mit Bezug
auf ethifche Probleme weiten Spielraum zu verleihen, zeigt
fich auch, wenn W. das Urteil Junkers billigt, daß ceteris
paribus ,die Rachfüchtigften am erfolgreichften im Kampf
für die Selbfterhaltung und Selbftförderung' fein follen;
es zeige fich das an den afrikanifchen Pygmäen, die ,ob
ihrer Rachfucht fehr gefürchtet' (I 35) — aber doch wohl
nicht im Vergleich mit andern Stämmen fehr erfolgreich
find?! Hier wie in der weitgetiiebenen Parallelifierung
von Menfch und Tier kommt zu deutlichem Ausdruck,
wie Mark W. die Berückfichtigung der fpezififch geiftigen
Art des menfchlichen Wefens in feiner Analyfe des fittlichen
Vorgangs zurückftellt; das Gleiche zeigt fich in der
Relativität, die er allem fittlichen Urteil beilegt. Daß
fich darin trotz aller fozialen und zeitgefchichtlichen Be-