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Ausgabe:

1911 Nr. 2

Spalte:

57-59

Autor/Hrsg.:

Grünberg, Paul

Titel/Untertitel:

Die evangelische Kirche, ihre Organisation und ihre Arbeit in der Großstadt 1911

Rezensent:

Drews, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 2.

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crificium intellectus und der Zwangszölibat, ift bequemer,
als die Aufgabe, fich felbft im Gewiffen der Autorität
gehorfam und in der Ehe geiftig frei zu erhalten. Diefer
Meinung ift ganz entfchieden auch F. felbft; denn er will
ja mit der Askefe innerweltlichen Größen, Familie
und Volk und Kultur, dienen; er befeitigt ja das an der
Virginität, was der Reformation und auch uns das
fchlimmfte ift: das unmittelbar Verdienftliche vor Gott;
damit hat der Katholizismus zwar immer im Moment
viel erreicht, aber für die Dauer fchweren Schaden geflirtet
, indem er die höchften feelifchen Werte zu Mitteln
für die Seligkeitsfucht gemacht hat. Überhaupt fleht F.
auf beiden Linien immer noch diesfeits der Grenze nach
Rom hin; mag er übertreten oder nicht, er gehört noch
zu uns. Als Brücke nach den großen geiftigen Gütern
des Katholizismus hin wollen wir ihn dankbar gelten
laffen und benutzen.

Heidelberg. F. Niebergall.

Grünberg, Ptr. D. Paul: Die evangelilche Kirche, ihre Organi-
fation und ihre Arbeit in der Großftadt. (Praktifch-theo-
logifche Handbibliothek, herausgegeben von F. Niebergall
. 14. Band.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
1910. (VIII, 166 S.) 8° M. 2.80; geb. M. 3.40

Dem kirchlichen Großltadtproblem ift diefer Band
der Praktifch-theologifchen Handbibliothek gewidmet.
Er will zeigen, wie fich in den modernen Großftädten das
kirchliche Leben ,geftaltet hat, geftalten kann und foll'.
Der Nachdruck liegt allerdings bei weitem mehr auf dem
zweiten Gefichtspunkt. Denn wenn auch im Laufe der
fpäteren Ausführungen manches Tatfächliche der kirchlichen
Großftadts-Verhältniffe herangezogen wird, fo gibt
doch eigentlich nur das erfte Kapitel: ,Das Problem und
feine Gefchichte' (S. 1 — 22) eine Darftellung des kirchlichen
Lebens auch in der Gegenwart. Den Hauptinhalt
des ganzen Buches bilden Reformvorfchläge für die
Organifation des Kirchenwefens untrer Großltädte. Sie
werden in den zwei Hauptkapiteln vorgetragen: ,Die
kirchlichen Einrichtungen der Großftadt' (S. 23—76) und
,die perfönlichen Kräfte und deren Arbeit in der Groß-
ftadtgemeinde' (S. 77—150); als Ergänzung dazu dient
das kurze letzte Kapitel: ,Schluß' (S. 151—164). Die
Reformgedanken G.s ruhen ganz auf dem bekannten
Sulze'fchen Programm, ohne dasfelbe einfach zu reproduzieren
. Sie bauen auf diefem Grunde weiter, und was
G. vorträgt, verdient ficher die ernfthaftefte Erwägung.
Denn die kirchliche Verforgung und die kirchliche Weiterentwicklung
unfrer Großltädte ift von einer Bedeutung
für das rehgiöfe Leben unfrer ganzen Nation, die man
nicht leicht zu hoch einfchätzen kann. Mit Recht betont
G. wiederholt die Dringlichkeit und Wichtigkeit der
durchzuführenden Reformen, für die er fehr wenig von
den Kirchenregierungen, die auf diefem Gebiete ihre Unfähigkeit
und Indolenz ,bewiefen hätten' (S. 22; vgl. auch
S. 157) — ein Urteil, das mir in diefer Allgemeinheit
doch zu hart erfcheint —, alles von den Großftadtpfarrern
felbft erwartet, die er mit feiner Schrift aus ihrem Laissez
aller aufrütteln möchte. Diefen Erfolg muß man der
Schrift von Herzen wünfchen, und dazu ift fie auch vortrefflich
geeignet. Vielleicht aber hätten die Vorfchläge
des Verfaffers noch mehr durchfchlagende, gewiffen-
fchärfende Kraft gewonnen, wenn die tatfächlichen Zu-
ftände unferer Großltädte ausführlicher behandelt worden
wären: das hätte die breite Grundlage des Ganzen bilden
follen. Der Verfaffer fühlt felbft, daß nach diefer Seite
hin feine Arbeit eine Lücke biete, und er entfchuldigt
fie damit, daß über das kirchliche Leben unfrer Großltädte
noch keine forgfältige, umfaffende, gefchichtlich
und ftatiftifch orientierte Darftellung vorliege (vgl. S. 158;
S. 164). Man fieht an diefem Punkte wieder, wie notwendig
die ,Kirchenkunde' ift. Und wenn G. die Vertreter
der Praktifchen Theologie an unfern theologifchen
Fakultäten auffordert, ,der Großftadt-Kirchenkunde, den
realen Verhältniffen und Bedürfniffen der Großltädte ....
im fteigendem Maße Raum zu gewähren' (S. 158), fo
kann ihm niemand freudiger zuftimmen als der Schreiber
diefer Zeilen, der — es fei geftattet, dies einzufügen —
in feiner Vorlefung über ,deutfche evangelifche Kirchenkunde
' nach Kräften das Großftadtproblem in den Vordergrund
rückt. Allein, wo find heute die Vertreter der
Praktifchen Theologie an unfern Fakultäten, die überhaupt
der .Kirchenkunde' die ihr gebührende Stellung
einräumen? (vgl. zur Sache meine Brofchüre; Das Problem
der Praktifchen Theologie, Tübingen 1910). Kann
diefe Lage alfo G. zur Entfchuidigung dienen, wenn er
das Großftadtproblem nach diefer Seite hin nur lückenhaft
behandelt hat, fo wäre doch aus der vorhandenen
Literatur manches noch heranzuziehen gewefen. So hat
G. das .Allgemeine Kirchenblatt' bei Seite gelaffen, aus
dem nicht wenig Intereffantes und Wichtiges zur Sache
zu entnehmen war. Wie wertvoll find z. B. die hier veröffentlichten
Statiftiken über Hamburg. Ich benutze gern
die Gelegenheit, meinen Dank für diefe forgfältige Arbeit
hier öffentlich auszufprechen. Wenn G., um den Not-
ftand der Großftadt zu illuftrieren, fchreibt: ,. . . . und
Einzelgemeinden bis zu 300x20 Seelen (Hamburg-Eppendorf
) kommen noch vor' (S. 21), fo hätte ihm jene
Statiftik gezeigt, daß Hamburg-Eppendorf 1895:34500,
1905:43 300, 1906:47 300, 1907: 51800 Seelen hatte. Aber
diefe Gemeinde ift keineswegs die größte Hamburgs.
Dies ift vielmehr St. Pauli, das ca. 69000 Seelen hat.
Zwifchen 60 und 70000 Seelen hatten aber außerdem in
Hamburg 1907 noch 3 Kirchfpiele. — Und wenn G.,
wieder mit vollftem Rechte, klagt, daß wir keine wirkliche
Statiftik dar Kirchenbefucher der Großftädte haben
(S.66), fo hätte er aus jener Statiftik Hamburgs wenigftens
über eine Gemeinde genaue und fehr wertvolle Angaben
über diefen wichtigen Punkt finden können. Darnach
betrug der Kirchenbefuch fonntäglich durchfchnittlich
1,58 °/0 der Gefamtfeelenzahl. Aber auch aus den bisher
erfchienenen Bänden der .Evangelifchen Kirchenkunde'
hätte fich gerade über den Kirchenbefuch manches entnehmen
laffen: fo z. B. die intereffante Tatfache, daß
Karlsruhe nicht nur an fich einen relativ guten Kirchenbefuch
hat, fondern von 1872 bis 1906 fogar eine Steigerung
von 12,8 % auf 15,6 °/0 aufweift. Übrigens ift es
nicht richtig, wenn G. fagt, daß Baden, Hannover, Sachfen
in letzter Zeit einen Anfatz zu regelmäßiger ftatifhfcher
Feftlegung des Kirchenbefuchs gemacht hätten (S. 65).
Sachfen zählt gar nicht, Baden feit 1872, Hannover hat
eine nur auf Schätzung beruhende Statiftik, die gänzlich
wertlos ift, und außerdem zählen Heffen und Schleswig-
Holftein offiziell.

Wäre das Großftadtproblem mehr von der kirchen-
kundlichen Seite her angefaßt worden, fo wäre eine be-
fondere Seite diefes Problems noch ftärker ins Licht
getreten, und das wäre vielleicht für die Reformgedanken
G.s von prinzipieller Bedeutung geworden. Die Großftadt
— ja, ift denn die eine Großftadt wie die andere? Trägt
nicht jede ihre befondere Eigenart? ihre befondere Phy-
fiognomie? Dresden ift anders geartet als Hamburg, Berlin
anders als Stuttgart, Leipzig anders als Straßburg. Und
auch die kirchlichen Einrichtungen, die kirchliche Ver-
faffung ift da und dort ganz verfchieden. Faßt man das
ins Auge, fo wird es fraglich, wie viel von den für
eine Neuorganifation der kirchlichen Großftadt im allgemeinen
gemachten Vorfchlägen wirklich auf die einzelne
Großftadt anwendbar ift.

Trotz allem, ein fo ernfter Appell follte nicht wirkungslos
verhallen, fo wohlüberlegte Vorfchläge follten nicht
nutzlos bleiben. Es kommt zuletzt nicht darauf an, wieviele
von den Einzelgedanken brauchbar und anwendbar
find, fondern darauf, daß kräftig und wirkungsvoll auf