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Ausgabe:

1910 Nr. 5

Spalte:

154-155

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Theodor

Titel/Untertitel:

Wilhelm Löhe 1910

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 5.

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mit allen tatkräftigen Männern gemein, die neue Wege
zu bahnen haben. Autbraufende Heftigkeit und explo-
fiver Jähzorn ift beiden der Feind ihres fittlichen Lebens,
gegen den fie bis ans Ende zu kämpfen haben. Eigentümlich
ift beiden die Sorge gemeinfam, man möchte ihre
Art der Frömmigkeit und Wirkfamkeit als pietiftifch cha-
rakterifieren. Wichern breitet dagegen, unter Umbänden
mit pathetifcher Gereiztheit, um feines Werkes und feiner
weitausfchauenden Unternehmungen willen. Fliedner,
wenigbens in jungem Jahren, nimmt den Vorwurf des Pietismus
als perfönliche Kränkung und grämt fich tief
darüber. Als Hauslehrer in Köln pbegt er zum Beginn
der Tagesarbeit mit feinen Zöglingen kniend zu beten.
Ein befreundeter Kirchenrat vermutet pietibifche Neigungen
. In einem überaus wortreichen Briefe (S. 58 f.)
beweib ihm Fl., man könne kniend beten, ohne Pietift
zu fein, und beht den Freund an: ,Retten Sie meinen
Namen vor dem Verdacht und der Schande, die ihm
droht, geben Sie mir meine Ehre wieder. Mein Name
ib gebrandmarkt' ufw. Wichern ib fern von allem engen
und ängblichen Pietismus; fein Chribentum ib Paulini-
fcher Art. Der mit reichen Gaben aufgebattete Mann
weiß den großen Aufgaben feines Lebens mit genialem |
Angriff und zäher, felbbverleugnender, zu jedem Opfer
bereiter Arbeitstreue gerecht zu werden, gleich groß an
brenger Kraft wie an herzgewinnender, nie ermüdender
Liebe zu Gefährdeten und Verlornen, wie an harmlofer
Freude und lachender Lub in feinem Verkehr mit der erziehungsbedürftigen
Jugend. Fliedner hat es in feinem
großen und weiten Liebeswirken bewährt, daß er an Or-
ganifationstüchtigkeit und an hingebender, allen neu fich
ihm darbietenden Notbänden bets mit neuer, alles daran-
fetzender Liebe begegnender Opferwilligkeit dem großen j
Wichern nicht nachbellt. Aber den freudigen, feines
Heils gewiffen Geib des Paulinismus fucht man bei ihm j
vergebens. Sein Chribentum hat die ausgefprochen pietibifche
Färbung des fog. Armefünderchribentums, deffen !
Typus das Neue Tebamcnt und das ganze Urchribentum
nicht kennt. In Selbbbeobachtung kann er fich kaum j
genug tun, er legt ein ,Selbbprüfungsbuch', die bedenk-
lichbe Art der Tagebücher, an, und Tag für Tag zenfiert
und braft er fich, als ob er fich nur glücklich fühlte in
Hilf- und Trobbedürftigkeit. Echt pietiftifch trägt er überaus
fchwer an feinen pfarramtlichen Pflichten, weil der
Pabor nach feiner Meinung verantwortlich bleibt für alle j
Seelen (S. 178), als ob es in der Gemeinde keine Selbb-
verantwortlichkeit gäbe, und als ob von einem Haushalter j
mehr gefordert würde, als daß er treu erfunden wird.
Ein herber Zug der Gefetzlichkcit durchzieht fein Wirken;
all fein Tun ib ihm ernbe Gewiffensfache, auch feine rab- |
lofe Barmherzigkeit gegen Gefangene und Gefallene übt ]
er, weil fein Gewiffen ihn dazu nötigt. Er bellt an fich
die weitebgehenden Anforderungen, aber diefelben Forderungen
bellt er auch an feine Umgebung und hält mit
fcharfem Tadel nicht zurück, wenn fie nicht ganz in feine j
Art eingeht. Ein frappantes Beifpiel verletzender und
geradezu vernichtender Gefetzlichkeit ib der feelforger-
liche Brief, der S. 172—-176 mitgeteilt wird.

In harter Gewiffensbrenge geht Fliedner den Weg,
den er geführt wird. Eine Aufgabe nach der andern
tut ihm fich auf; in jeder fieht er den Willen des heiligen
Gottes, dem er in unbedingtem Gehorfam fich zur Verfügung
bellt. Seine Gefetzlichkeit hat wenig Anziehendes;
fein Gehorfam und fein Gewiffensernb nötigt uns immer
wieder aufrichtige Bewunderung ab. Mit folchen Dienern
kann Gott großes ausrichten, und großes ib Fliedner ge- j
lungen. Schon der erbe Band des Werkes legt davon
Zeugnis ab; reicheres Zeugnis wird der zweite Band geben
, zu deffen Vollendung dem greifen Verfaffer Kraft
und Freudigkeit zuteil werden möge.

Der Titel des Buches trägt diefelben Worte, die auf
Fliedners Grabbein flehen: ,durch Gottes Gnade Erneuerer
des apobolifchen Diakoniffenamtes'. Dadurch )

find die Worte des Titels zu verbehen. Der Verfaffer
hat das Irrtümliche der Worte wohl erkannt; er will fie
erfetzt wiffen durch den Ausdruck: /Theodor Fliedner,
der Erneuerer der weiblichen Diakonie in der evangeli-
fchen Kirche'.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Schäfer, Pab. Dir. D. Theodor, Wilhelm Löhe. Vier Vorträge
über ihn nebb Lichtbrahlen aus feinen Werken.
Ein Wegweifer. Gütersloh, C. Bertelsmann 1909.
(VIII, 296 S.) gr. 80 M. 3—; geb. M. 3.60

Der Hauptteil des Buches bebeht aus vier Vorträgen
, die der Verfaffer zu verfchiedenen Zeiten vor
verfchiedenen Hörerkreifen gehalten hat. Welches die
Gelegenheiten und die Hörerkreife gewefen find, wird
nur beim zweiten Vortrag — die Konferenz deutfcher
Paboren in Frankreich zu Paris — und beim vierten
Vortrag — Löhefeier der drei Diakoniffenhäufer von
Altona, Hamburg und Rotenburg am 21. Februar 1908
— angegeben. Zum Gedächtnis des 100jährigen Geburtstags
Löhes find die Vorträge gefammelt und vermehrt
herausgegeben. Den Vorträgen (S. 1—206)
fchließen fich ,Lichtbrahlen' aus Löhes Schriften an in
Form von Aphorismen, kurzen Auffätzen, Auszügen aus
Predigten, Gedichten (S. 211—285). Ein Abfchnitt: /Zur
Bibliographie Löhes' (S. 286—296), der Schriften und
Auffätze über Löhe, Zur Parallele Löhes mit Wichern
und Fliedner und das Verzeichnis der Schriften von
Löhe enthält, befchheßt das reichhaltige Buch.

Der Inhalt der vier Vorträge ib: Löhes Lebensgang,
Löhe als Pabor, Löhe als Kirchenmann und Löhe als
Mann der Innern Miffion und Diakonie. Der Verfaffer
hat darauf verzichtet, eine vollbändige Darbellung des
Lebens und Wirkens von L. zu geben; er behandelt
beides unter bebimmten Gefichtspunkten, nach den in
den Überfchriften angegebenen Seiten hin. Das bietet
den Vorteil, jedesmal ein konkretes Bild in frifcher
Rede unter Vermeidung alles Abhandlungsmäßigen dem
Lefer vor Augen zu bellen. Allein, da die Vorträge
vor verfchiedener Hörerfchaft, deren jede doch mit den
Hauptdaten bekannt zu machen ib, gehalten find, fo waren
Wiederholungen nicht zu vermeiden. Da ferner öfter
bei den Hörern Fachkenntniffe vorausgefetzt werden,
die den Lefern mehr oder weniger abgehen, fo wird
von diefen mancherlei Wertvolles in der Darbellung vermißt
. So unterläßt es z. B. der vierte Vortrag, eine
Charakteriftik der Erziehung und Ausbildung der Löhe-
fchen Diakoniffen und der Eigentümlichkeit feines Dia-
koniffenhaufes zu geben; im Intereffe der richtigen Wert-
fchätzung Löhes find derartige Mängel nur zu beklagen.

Der Verfaffer bekennt, von Löhe mehr geibige und
geibliche Förderung erfahren zu haben, als von Wichern
und Fliedner. Auf Grund perfönlicher Bekanntfchaft,
eindringender Befchäftigung mit Löhes Schriften und
konfeflionell-lutherifcher Geibesgemeinfchaft ib er ein
begeiberter Freund und Anhänger Löhes. Seine perfön-
lichen Beziehungen läßt er gern hervortreten, aber er
vermeidet es auch nicht, ein ganz bebimmtes, nicht
immer beibimmendes, Urteil über feinen Helden abzugeben
. Hervorgehoben wird überall Löhes lutherifches
Bekenntnis, feine lautere Frömmigkeit, feine unermüdliche
Hilf bereitfchaft in der Fürforge für lutherifche
Glaubensgenoffen und in Barmherzigkeit gegen Arme
und Elende. Ein vom Verfaffer wohl nicht beabsichtigter,
aber der Tatfächlichkeit wohl entfprechender Eindruck,
den wir von der Perfönlichkeit Löhes empfangen, ib der
bark hervortretende feminine Zug feines Wefens; er
zeigt fich in feiner äfthetifierenden weichen Schwärmerei
für ,fchöne Gottesdienfte', in feiner weiblichen Ungeduld
gegenüber kirchlichen Mißbänden, die ihn zu unab-
läffigen Drohungen mit Separation gegen die kirchlichen
Behörden verführt, und in feiner Liebhaberei für katholi-