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Ausgabe:

1910 Nr. 5

Spalte:

152-154

Autor/Hrsg.:

Fliedner, Georg

Titel/Untertitel:

Theodor Fliedner, durch Gottes Gnade Erneuerer des apostolischen Diakonissenamts in der evangelischen Kirche. Sein Leben und Wirken. I. Band 1910

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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151 Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 5. 152

dem willkommen fein wird, der die Anflehten Förfters
nicht teilen kann.

Über den erften Band des Werkes haben wir im j
Jahrgange 1905 S. 639fr. diefer Zeitung berichtet, und
das ablehnende Urteil, welches wir dort über die ihm
zugrunde liegende Tendenz gefällt haben, ift inzwifchen
von juriftifcher wie von theologifcher Seite wiederholt
beftätigt worden; vgl. bef. die Befprechungen von Stutz
in der Deutfchen Literaturzeitung 1907 S. 362 fr. und von
Baumgarten in der Evangelifchen Freiheit 1908 S. 252fr.
Lediglich in dem aus dem erften Bande uns bekannten !
Gedankenkreife bewegen fich aber die neuen Ausführungen
des Verfaffers. Anknüpfend an feine mißver-
ftändliche Auffaffung der Steinfchen Reform, die .durchzogen
(war) von der reformatorifchen Idee der Einheit
des weltlichen und geiftlichen Körpers' (Bd. I, S. 124fr.,
II, S. 208), findet Förfter in dem landesherrlichen Kirchenregiment
, das feiner Anficht nach in der ihm heute zukommenden
Bedeutung erft im Agendenkampf zur Entwicklung
gelangt ift (S. 205), ,ein vollftändiges Abbiegen
von den Grundgedanken der Steinfchen Reform' (S. 20)8). j
Zwei Gedanken, zwei Irrtümer: Wie die Steinfche Reform
überhaupt von keiner kirchenpolitifchen Tendenz
getragen war, fondern lediglich von ftaatlichen Gefichts-
punkten aus die Behördenorganifation in Preußen reformiert
und dabei allerdings auch die dem Kirchenwefen
dienenden Einrichtungen nicht gefchont hat, fo ift auch
das landesherrliche Kirchenregiment, welches Förfter
ein ,modernes' nennt, nicht erft von Friedrich Wilhelm III.
gefchaffen. Wohl war es die Macht des Staates, die
die Landeskirche gefchaffen hat (S. 317), aber nicht erft
die des Staates des neunzehnten Jahrhunderts. Wohl
hat Friedrich Wilhelm III. bei der Einführung feiner
Agende die im landesherrlichen Kirchenregiment liegende
Gewalt in befonders prägnanter Weife gehandhabt und
fühlen laffen. Allein unrichtig ift es doch wieder, wenn
Förfter meint, in früherer Zeit fei eine folche Leitung
der kirchlichen Angelegenheiten vom Landesherrn nicht
in Anfpruch genommen, fie flehe im Widerfpruche zu
den Theorien und zu der Praxis des 18. Jahrhunderts
(S. 205, 319). Förfter ift offenbar fchlecht orientiert
über den Territorialismus und feine praktifche Aus-
geftaltung. Allerdings ftellte die territorialiftifche Doktrin
den Grundfatz auf, daß die inneren Angelegenheiten
der Kirche der Staatsgewalt entzogen feien, und diefe nur
auf die actiones externae der Kirche gehe. Allein welche
actiones der Kirche als externae, welche als internae
anzufeilen waren, beftimmte nach diefer Doktrin der
Staat; er hatte zu entfeheiden, wo im Intereffe der Ordnung
fein Eingriff notwendig war. Und der Begriff der
externa wurde dann fo weit gefaßt, daß alles zu ihnen
gerechnet wurde, was überhaupt rechtlicher Regelung
fähig war, insbefondere auch die Liturgie und die Lehre
der Geiftlichen. Daß der Territorialismus der Regierungs- I
gewalt der Landesherren gegenüber der Kirche fefte |
Schranken gefetzt und der Kirche ein der Staatsgewalt '
unzugängliches Gebiet eigener Betätigung gefichert habe
(S. 302, 319), ift eine ebenfo neue wie unbewiefene Behauptung
des Verfaffers. Die allgemeine Anficht geht
bekanntlich dahin, daß der Territorialismus die Kirche
ganz in die Hände des Staates geliefert habe. Sie zu
widerlegen hat F'örfter nicht einmal verfucht; ganz
willkürlich legt er diefem Syftem einen neuen Inhalt bei
und meint dann, das Verlaffen der Grundfätze des Territorialismus
fei der Grund der Machtentwicklung des
modernen landesherrlichen Kirchenregiments, der Grund
der Aufzwingung der Agende und des Vorgehens gegen
die Altlutheraner gewefen (S. 302). Wie im erften Bande,
so vermiffen wir auch hier ein tieferes Eindringen des
Verfaffers in die älteren Rechtszuftände. Wie er fich
keine lebendige Vorftellung von dem landrechtlichen
Kirchenwefen verfchafft hat, fo hat er fich auch nicht
vertraut gemacht mit der Theorie und der Praxis des

Territorialismus. Während Förfter die Vorgänge unter
der Regierung Friedrich Wilhelms III. auf Grund eines
forgfältigen und umfichtigen Quellenftudiums in trefflicher
Weife zur Darftellung bringt, hat er es verfäumt, dem
älteren Recht weiter nachzugehen und die ältere Literatur
, auf die ihn jedes Lehrbuch des Kirchenrechts hinweift
, zu durchforfchen. So fchweben feine verfaffungs-
gefchichtlichen Ideen völlig in der Luft und fie werden
von jedem abgelehnt werden, der auf einem rechts-
gefchichtlich ficheren Boden zu flehen liebt. Allein find
auch diefe rein fubjektiven Auffaffungen des Verfaffers
zu verwerfen, fo enthält doch das Buch auch viel Treffliches
und Wertvolles und ebenfo wie der erfte Band ift
der zweite, foweit er eine Schilderung der tatfächlichen
Vorgänge der Zeit, der er gewidmet ift, enthält, ein nur
dankbar anzuerkennender Beitrag zur kirchengefchicht-
lichen wie kirchenrechtlichen Literatur, den niemand aus
der Hand legen wird, ohne reiche Belehrung und Anregung
aus ihm empfangen zu haben.

Göttingen. Schoen.

Fliedner, P. em. Georg, Theodor Fliedner, durch Gottes
Gnade Erneuerer des apoftolifchen Diakoniffenamts
in der evangelifchen Kirche. Sein Leben und Wirken.
I. Band. Kaiferswerth a. Rh., Diakoniffen-Anftalt 1908.
(X, 296 S. m. 1 Bildnis.) 8« M. 2.80; geb. M. 3.50

Auf Anregung des Vorftandes des Rheinifch-Weft-
fälifchen Diakoniffenvereins hat der Sohn, Paftor em.
Georg Fliedner, es unternommen, das Lebenswerk feines
Vaters Theodor Fl. ,in ausführlicher, quellenmäßiger Darftellung
der großen Diakoniffengemeinde famt ihren Gönnern
und Freunden' darzubieten. Das Werk ift auf drei
Bände berechnet. Der vorliegende erfte Band führt uns
die Jugendzeit, die Lehr- und Wanderjahre, die Kollektenreifen
nach Holland und England, die Gründung der
,Gefängnisgefellfchaft' und der erften Liebesanftalten in
Kaiferswerth, nämlich des Afyls und des Magdalenen-
ftiftes und der Kleinkinderfchule, vor Augen. Der
zweite Band wird Fl. als den Erneuerer der weiblichen
Diakonie in der evangelifchen Kirche darftellen, während
der dritte Band ein Urkundenbuch enthalten wird. Der
Verfaffer ift fich der Schwierigkeit der Aufgabe für den
Sohn, das Leben feines Vaters darzuftellen, wohl bewußt
: die Schwierigkeit ift dadurch gefteigert, daß der
Vater bisher unbetretene Bahnen gewandelt ift und der
evangelifchen Liebestätigkeit neue Bahnen erfchloffen
hat. ,Die fchuldige Pietät kann einerfeits zu ftark zur
Geltung kommen, anderfeits kann fie in Konflikt geraten
mit der vollen Wahrhaftigkeit'. Dem Verfaffer ift
es ohne Einfchränkung zu bezeugen, daß er beide Gefahren
zu vermeiden gewußt hat. Dem widerfpricht
freilich der Umftand nicht, daß vielleicht hie und da
das Intereffe des Leferkreifes mit dem Intereffe der
Familienglieder verwechfelt ift, und daß der Leferkreis
von dem Mitgeteilten einen andern Eindruck empfängt,
als das durch intime und pietätvolle perfönliche Kenntnis
beftimmte Urteil der Familienglieder hervorrufen
möchte. Die Objektivität der Darfteilung ift aller Anerkennung
wert; fie wird nur feiten durch fubjektive Ent-
gleifungen und nicht wohlüberlegte Ausfälle des Verfaffers
, wie S. 38. 39, geftört.

Bei Ve rgegenwärtigung des Lebenbildes von Fl.
drängt fich faft unwillkürlich eine Parallelifierung mit Joh.
Hinr. Wichern auf. Beide flammen aus engen und dürftigen
Verhältniffen, beide haben das Joch in ihrer Jugend getragen
und unter viel äußerem und innerem Gedränge
fich durchkämpfen müffen. Beiden fleht das Ziel ihres
Berufes leuchtend vor der Seele, und beiden geftaltet
fich die Lebensaufgabe fo ganz anders, als fie fich gedacht
und vorgenommen haben. Beide find ihrem Temperamente
nach Choleriker reinfter Farbe, fie haben das