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Ausgabe:

1910

Spalte:

665-667

Titel/Untertitel:

Abraham Geiger. Leben und Lebenswerk von Ludwig Geiger, Ismar Elbogen u. a 1910

Rezensent:

Bacher, Wilhelm

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66s

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 21.

666

mit Rieker bejahen, und zwar von dem Gedanken aus,
daß der Landesherr in feiner Eigenfchaft als weltliche
Obrigkeit das Regiment feines Volkes nach beiden Seiten,
der geiftlichen wie der weltlichen, in allen Dingen, die
in die öffentliche Erfcheinung treten, habe, mit alleiniger
Ausnahme des Gebietes des Gewiffens, in dem nur das
Wort waltet. Daß diefer Schluß richtig fei, möchte ich
vorläufig noch bezweifeln; die Prämiffe ift freilich richtig,
aber es fragt lieh, ob nicht der ,engere Kreis' der Gemeinde
, in dem doch das Wort regieren foll!,
auch unter das Gewiffensgebiet fällt, trotzdem rein formal
diefer engere Kreis als Parochialbeftandteil unter
der Obrigkeit fteht (f. o.); ift das der Fall, und ift — was
K. Müller zugibt — der Gedanke von der Sammlung
ein grundlegender für Luther, fo fteht die ganze Sache
doch wefentlich anders, und Drews' Verneinung der Frage
trifft das Richtige. Ich glaube auch nicht, daß Luther
(fo K. Müller) die Scheidung der Kreife nur von dem
Gefichtspunkte aus, daß der größere Kreis unter der
Herrfchaft des päpftlichen Kultus ftand, vorgenommen
wiffen wollte — die Homberger K. O. wenigftens hat
das nicht getan, und Luther hat fie um deswillen
nicht getadelt. Was Tröltfch (a. a. O.) ausfuhrt, daß hier
.Kirchentypus'und,Sektentypus' miteinanderkonkurrieren,
trifft das Richtige.

Die Abhandlung von Drews wird, mag fie auch modifiziert
werden müffen, auf alle Fälle für das Verftändnis
der Lutherfchen Auffalfung von Kirche, Gemeinde und
weltlicher Obrigkeit ihie hohe Bedeutung behalten.
Zürich. Walther Köhler.

Abraham Geiger. Leben und Lebenswerk von Ludwig
Geiger, Ismar Elbogen, Gottlieb Klein, Immanuel
Low, Felix Perles, Sam. Posnanski, Moritz
Stern, Hermann und Heynemann Vogelflein. Mit
einem Bildnis. Berlin, G. Reimer 1910. (VI, 509 S.)
Lex. 8°. M. 12 —

Zur hundertlfen Wiederkehr des Geburtstages Abraham
Geigers (geb. am 24. Mai 1810 in Frankfurt a. M.,
geft. am 22. Oktober 1874 in Berlin) wurde ihm von
feinem Sohne, dem bekannten Literaturhiftoriker Ludwig
Geiger, in dem vorliegendem Werke ein Denkmal
errichtet, deffen Bedeutung weit über feinen nächften
Zweck hinausreicht. Als Bahnbrecher und Führer der
fortfehrittlichen Bewegung innerhalb der deutfehen Juden-
heit, als Rabbiner großer Gemeinden, als vielfeitiger
Forfcher und fruchtbarer Schriftfteller nahm Abr. Geiger
eine folche Stelle ein, daß die Darftellung feines Lebens
und Wirkens von felbft ein hochbedeutfamer Beitrag zur
Gefchichte des Judentums und feiner Wiffenfchaft im
neunzehnten Jahrhundert werden mußte. In der erlten
Abteilung (S. 1—231) gibt Ludwig Geiger felbft die Biographie
feines Vaters, die durchaus nicht bloß eine Umarbeitung
des von ihm bereits 1878, mit Zugrundelegung
von Tagebuchauszügen und Briefen, herausgegebenen
Lebensbildes ift, fondern eine einheitliche
pragmatifche Darftellung, zu der viel archivalifches und
lönftiges neues Material gefammelt wurde. Mit bewundernswerter
Objektivität und dabei nie fich verleugnender
Pietät verfolgt der Sohn den Lebenslauf des Vaters von
den Frankfurter Anfängen bis zu dem unerwarteten Ab-
fchluffe, der den Vierundfechzigjährigen bei ,vollfter
Freudigkeit und Luft am Leben und an der Tätigkeit'
feinem in den letzten Jahren durch die Lehrtätigkeit an
der Hochfchule für die Wiffenfchaft des Judentums erweiterten
Wirkungskreife entriß. Von kulturhiftorifcher
Bedeutung ilt die Schilderung der Kindheit und der
Studienzeit im 1. Kapitel. Viel neuen Stoff enthält das
2. Kapitel über die Wiesbadener Zeit; mit befonderer
Ausführlichkeit werden die Verhältniffe und Ereigniffe
von der Berufung nach Berlin bis zum Abgange von

! dort nach Frankfurt in vier Kapiteln dargelegt. Die
letzten zwei Kapitel haben die Wirkfamkeit Geigers in
Frankfurt und Berlin zum Gegenffande. Obwohl feine
wiffen fchaftliche Tätigkeit den Hauptgegenftand der
zweiten Abteilung bildet, wird fein literarifches Schaffen

i auch im Zufammenhange der biographifchen Erzählung
beleuchtet, was um fo gebotener erfchien, als Geigers
fchriftftellerifches Wirken, das vornehmlich an die beiden
von ihm gegründeten Zeitfchriften (Wiffenfchaftliche
Zeitfchrift für jüdifche Theologie, 1835 —1839, 1844,

I 1847; Jüdifche Zeitfchrift für Wiffenfchaft und Leben,
1862 —1874) geknüpft war, von feiner fonftigen Wirkfamkeit
losgelöft gar nicht gedacht werden kann. Von

! den vielen neuen Dokumenten, die in der Biographie

! zum Abdrucke gelangen, fei befonders hervorgehoben

; der Brief Geigers an feinen Sohn, als diefer das vom
Vater fehnlichft gewünfehte theologifche Studium aufgab

I (S. 177—181).

Die zweite Abteilung befteht aus einer Reihe von

! Abhandlungen, in denen verfchiedene Autoren die einzelnen
Seiten des Lebenswerkes Geigers fchildern.
Dem .Theologen' find drei Beiträge gewidmet: eine gut
orientierende Einleitung von Hermann Vogelftein

| (235—242); eine zum Teil aus wörtlichen Zitaten be-
ltehende fehr lichtvolle, aber für manche Fragen etwas
zu knappe Skizze über Geigers Anfchauungen zur ,fy-

[ ftematifchen Theologie' von Heynemann Vogelftein
(243—276); eine vortreffliche und namentlich die Entwicklung
jener Anfchauungen nachweifende Studie von
Gottlieb Klein (277—315), deren Titel ,Praktifche
Theologie' nur durch ihren Schlußteil über Geiger als
religiöfen Reformer gerechtfertigt ift. Der ,Gelehrte'
wird zunächft gewürdigt durch F. Perles, der G.s Arbeiten
zur Bibel, aber eigentlich nur fein Hauptwerk ,Urfchrift
und Übertragungen der Bibel' beleuchtet (316—327) und
vielleicht gut daran getan hätte, die allerdings in unvollendeter
Geftalt erhaltenen Vorlefungen zur Einleitung
in die biblifchen Schriften eigehender zu befprechen.
Die Arbeiten Geigers zur Gefchichte und Literatur des

j Judentums würdigt in vorzüglicher Weife Ismar Elbogen
(328—351). Einen fpeziellen Teil diefer Arbeiten

I zur ,Gefchichte der Sekten und der Halacha* und zur
,nordfranzöfifchen Exegetenfchule' behandeln zwei
gründliche und auch auf den gegenwärtigen Stand der

[betreffenden Fragen hinweifende Abhandlungen von
Samuel Poznanski (S. 328—399). Unter der Über-
fchrift .Sprachwiffenfchaft' (400—411) widmet Immanuel
Low zunächft einige Sätze der erften wiffenfehaftlichen
Arbeit Geigers: ,Was hat Mohammed aus dem Judentum
aufgenommen?' (die in diefem Gedenkbuche eine
befondere Würdigung verdient hätte) und gibt dann

! eine fehr intcreffante Skizze über Geigers fprachwiffen-
fchaftliche Kenntniffe und Studien, befonders feine Beiträge
zur Lexikologie der Mifchna und des Talmud.
Im Anhange (492—502) gibt Low ein mit ungemeinem
Fleiße ausgearbeitetes ,Verzeichnis der hebräifchen und
aramäifchen Wörter in Abraham Geigers Schriften' und
damit ein fehr nützliches Hilfsmittel zur Benutzung
diefer Schriften. Ebenfo nützlich ift das „Verzeichnis
der Bibelftellen in A. Geigers Schriften" von Adolf
Löwinger (S. 471—491). Ganz befonderen Dank verdient
die mit großer Umficht verfertigte ,Bibliographie

i der Schriften A. Geigers' von Moritz Stern (415 bis
469), mit 936 Nummern. Den Schluß des vornehm aus-
geftatteten und mit einem Bildniffe A. Geigers gezierten
Bandes macht ein Verzeichnis der Perfonennamen. —
Die zweite Abteilung, deren Redaktion fich in den Händen
Immanual Löws befand, wird von diefem mit einer
Äußerung Theodor Nöldekes (Lit. Centralblatt, 1878,
1073) gefchloffen, die hierherzufetzen mir geftattet fei:
,Möge die Entwicklung des Judentums dereinft zu dem
Geiger vorfchwebenden Ziele führen oder nicht, auf alle
Fälle war er einer feiner bedeutendften Repräsentanten