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Ausgabe:

1910 Nr. 12

Spalte:

378-380

Autor/Hrsg.:

Boehmer, Julius

Titel/Untertitel:

Dorfpfarrer und Dorfpredigt. Fragestellung und Antwortversuche 1910

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 12.

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nicht entraten konnte. Über feine wahre Bedeutung
ftreiten fich die Theologen bis auf den heutigen Tag.
Und dennoch follten auch folche Ergebniffe der Wiffen-
fchaft es uns nicht verkümmern. In feinem rohen Ur-
fprung und feiner fortfchreitenden Vergeiftigung fieht
der Gottesglaube des Religionsgefchichtlers ein typifches
Bild für die religiöfe Entwicklung der Völker, feine Erhebung
zum chriftlichen Myfterium durch den großen
Heidenapoftel wird ihm zum Symbol der Menfchheits-
religion, und aus dem Stimmgewirr der widerfprechenden
Deutungen hört er den cantus firmus der innigen
Gottes- und Menfchenliebe heraus. Was diefen Gottesglauben
behindert, das ifl der Bibelglaube' (65).

Der 2. Teil der Zillerfchen Schrift führt den Titel:
,Die Bibelwiffenfchaft und die Bibel als ganzes' (66—96).
Die Gefchichte der Kanonbildung zerftört den Anfpruch,
den die für kanonifch erklärte Sammlung von Schriften
darauf macht, eine abgefchloffene Größe zu fein. Es ift
ihr namentlich nicht gelungen, die religiös-fittliche Überlegenheit
der ins neue Teftament endgültig aufgenommenen
Schriften gegenüber den wieder ausgefchiedenen
herauszuftellen: unterfcheidet fich der Barnabas- fo we-
fentlich von dem Hebräer-, der 1. Klemens- fo wefentlich
vom 2. Petrusbrief, daß man zu dem Urteil berechtigt
wäre: in diefen haben wir ein notwendiges Stück der
göttlichen Offenbarungsurkunde, in jenen pures Menfchen-
werk? Doch ungeachtet der von ihnen eingeftandenen fittli-
chen und religiöfen Mängel mancher biblifchen Urkunden,
fuchen die kirchlichen Theologen den der Bibel eigentümlichen
Offenbarungscharakter zu behaupten. In diefer Abficht
fetzen fie an Stelle des einheitlichen Offenbarungswertes
den gefchichtlich abgeftuften Offenbarungscharakter der
in der Bibel vereinigten Schriften. Auch diefes letzte
Bollwerk der ,gläubigen' Theologie fucht der Verf. zu
zerftören, oder vielmehr es ift bereits im auflötenden
Prozeß der hiftorifch-kritifchen Forfchung in fich zu-
fammengefallen.

Das Ergebnis der bisherigen Darftellung (1 — 96) muß
als ein lediglich negatives bezeichnet werden; der,pofitive
Zweck, um deffen willen der Verf. feinen Ausführungen
auch einen allgemeineren Wert zufchreiben zu dürfen
glaubte', blickte höchftens aus einzelnen Äußerungen
durch. Auf kaum fechs Seiten (96—102) ,weift er unfrer
Kirche den Weg, auf dem fie die akut gewordene Krifis
zu ihrem Heil zu überwinden vermag'. Die richtige
Löfung foll der Entwicklungsgedanke in feiner Anwendung
auf die Bibel liefern. Das Schriftwort ift lebendig
geblieben, indem es fich entwickelte; die fertige Bibel
hat eine Entwicklung durchgemacht; fie felbft, die Ent-
ftehung der einzelnen Schriften fowohl wie die ihrer
Sammlung, gehört nicht weniger in diefe Entwicklung
hinein. In diefer Entwicklung erblickt der Glaube Werte
von überzeitlichem Gehalt, Ewigkeitswerte, fo daß er
die Offenbarung Gottes überall, im eigenen Leben und
in der Gefchichte, erlebt. Es ift ein verhängnisvoller
Irrtum zu wähnen, daß Chriftus in dem Strom der Entwicklung
verfchwindet, wenn er nicht durch das offenbarte
Bibelwort über Waffer gehalten wird. Für unfre
heutige Welt wäre Chriftus tot, wenn er nicht weiter
gelebt hätte im Leben der menfchlichen Entwicklung.
Wenn es unfrer Kirche gelingt, den Chriftus der Vergangenheit
zu einem Chriftus der Gegenwart zu machen,
dann hat fie die Krifis überwunden, die nur dem erlteren
gefahrlich werden kann.

Dies die Hauptgedanken der Schrift, welcher ein
Anhang beigefügt ift, der eine reiche Sammlung von
hißorifchen und bibliographifchen Belegen und Notizen
enthält. Bereits aus der fummarifchen Inhaltsangabe
dürfte erhellen, daß Z.s Arbeit keineswegs eine innerlich
einheitliche und abgeklärte iß« Aus den verfchieden-
artigen Elementen, die in derfelben zum Ausdruck gelangen
, läßt fich das Ringen des Gedankens nach einer
Löfung der empfundenen Schwierigkeiten erkennen. Daß

diefe Schwierigkeiten wirkliche, in der Sache felbft begründete
find, muß wenigftens für manche Fälle zugegeben
werden, obgleich eine nicht geringe Zahl von
angeblichen Problemen eher durch die Phantafie ge-
fchaffen, als aus der Lage abgeleitet ift. Der Verfuch
aber, die vergleichende Religionsgefchichte als terminus
ad quem der wiffenfehaftlichen Forfchung hinzuftellen,
und diefelbe als entfeheidenden Schickfalsfpruch zu verwerten
, kann bei dem gegenwärtigen Stand der noch in
vollem Fluß begriffenen Wiffenfchaft doch nur verwirrend
und auflöfend wirken. — Was die letzten pofitiv fein
wollenden Andeutungen betrifft, fo leiden diefelben an
ähnlichen Widerfprüchen. Einerfeits die Erklärung, daß
die Bibelwiffenfchaft ,den hiftorifchen Jefus bis auf wenige
Refte befeitigt' und daß ,der ideale Chriftus fich nicht
bewährt hat'; andrerfeits die Forderung, ,den Chriftus
der Vergangenheit zu einem Chriftus der Gegenwart zu
machen'! Es ift zu bedauern, daß der Verf. in feinem
knappen Schlußwort nicht angedeutet hat, wie er diefe
Forderung meint: Schleiermacher, Ritfehl, Kähler, Kierkegaard
weifen hier verfchiedene Wege; Z. hat zu keinem
diefer oder auch andrer Löfungsverfuche Stellung genommen
. Es ift daher nicht zu verwundern, wenn der
durch zutreffende Beobachtungen, voreilige Schlüffe und
kühne Paradoxien angeregte und aufgeregte Lefer die
Zillerfche Schrift fchheßlich unbefriedigt aus der Hand
legen wird in vollem Verftändnis für die Erklärung, die
der Verf. in feiner Vorrede abgibt: ,Ich hatte eine ge-
wiffe Scheu, das negative Schriftchen der Öffentlichkeit
zu übergeben'.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Boehmer, Pfr. Lic. Dr. Julius, Dorfpfarrer und Dorfpredigt.

Frageftellungen und Antwortverfuche. (Studien zur
praktifchen Theologie. 3. Band, Heft 4.) Gießen,
A. Töpelmann 1909. (VII, 193 S.) gr. 8° M. 5.20

Diefe Schrift des rührigen und vielfeitigen Verfaffers
verdient um ihres reichen Inhaltes und um der Antworten
willen Beachtung, die fie auf wichtige Fragen
der heutigen Prakt. Theologie zu geben hat. B. geht
davon aus, daß erft jetzt, da fich die Dörfer entleeren,
dem flachen Land eine Beachtung gefchenkt wird, die
ihm lange vorenthalten war. Langfam gibt man alte
Vorurteile z. B. über die gleichmäßige Art der Dörfer
und ihrer Bewohner auf; freilich der Landpfarrer gilt
immer noch, wie B. an einer Reihe von Zitaten bewein
), als minderwertiger Kollege des Stadtpfarrers.
Mit vollem Recht verwahrt fich B. gegen all die teils
fpöttifchen teils mitleidigen Bezeichnungen, wie z. B.
,fchlicht' ,einfach', die dem Landpfarrer regelmäßig
angehängt werden, wie Ref. auch einmal gegen das ,nur'
in Verbindung mit ,ein Dorfpfarrer' Verwahrung eingelegt
hat. Eine Gegenwirkung ift es, wenn gegenwärtig
das Dorf für die Theoretiker der kirchlichen Praxis neigt
und allgemein die Dorfpredigt zu einer Frage geworden
ift- — Um fie gründlich zu beantworten, ftellt B. im
erften Teil zufammen, was die Bibel über das Dorf zu
fagenhat: fie ftellt das Dorffehr hoch, was gemäß der engen
Verbindung zwifchen unferm Landvolk und der Bibel nur
beiden zum Segen gereicht. Dann folgt eine kurze
Gefchichte des Bauerntums in Deutfchland, die in
den Wunfeh und in die Hoffnung ausläuft, daß es fich
noch lang als ein Hort gegen zerftörende Mächte halten
wird. Dann wird im zweiten Teil auf 85 Seiten eine
Gefchichte des Dorfpfarrers von den altteftament-
lichen Doifprieftern an bis zur Gegenwart gegeben, wie
fie einzig dafleht. Das ift ein großes Loblied auf diefen
Stand, das nur von manchen berechtigten Klagen über
den Undank, mit dem ihm feine Verdienfte belohnt
werden, unterbrochen wird. So find es z. B. die Dorfpriefter
gewefen, die die Koften uer Reform des Jofia haben
zahlen müffen. Nachdem der enge Zufammenhang