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Ausgabe:

1908 Nr. 15

Spalte:

437-439

Autor/Hrsg.:

Wilhelm, Friedrich

Titel/Untertitel:

Deutsche Legenden und Legendare 1908

Rezensent:

Dobschütz, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 15.

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fichtigung aller einzelnen und einzelflen Momente, die
für die Löfung des Problems in Frage kommen, an
Genauigkeit und Vollftändigkeit der herangezogenen
Urteile von Fachgenoffen kaum mehr zu überbieten fein
dürfte. Es ftellt eine unverkürzte Sammlung des in Betracht
kommenden Materiales dar, jedenfalls die vollftän-
digfte, die wir kennen. Unter den katholifchen Theologen,
welche das Problem behandelt haben, hat Valentin Weber
in feinen 1898—1901 erfchienenen Abhandlungen und
Büchern die Südgalatien-Theorie mit befonderem Eifer
vertreten. Das Gegenftück dazu liefert unfer Verf. mit
feiner gründlichen, natürlich auch gegen Ramfay und
Th. Zahn gerichteten, Verteidigung der Nordgalatientheorie.
Es find vor allem zwei Kontroverspunkte, welche aus-
führlichfte Erörterung und, wie ich glaube, befriedigende
Erledigung finden. Erftlich handelt es fich um den
Namen PaXarai, womit nach gegnerifcher Anficht auch
Lykaonier und Pifidier gemeint fein können. Der Verf.
unterfucht, um zu zeigen, daß dies, wenn fie dabei doch als
von den Bewohnern des eigentlichen Galatiens verfchieden
gedacht wären, unmöglich ifl, fowohl den profanen wie
den biblifchen Sprachgebrauch und gelangt in Erledigung
des zweiten Punktes zu dem Refultat, daß fowohl 16,6
als auch 18,23 nur die Landfchaft, nicht die Provinz
Galatien gemeint fein kann. Voran gehen gelehrte Ausführungen
über Land und Volk, über die Gefchichte
desfelben feit dem Einfall der Kelten, über die Entftehung
der, lange Zeit über nicht feft umgrenzten, Provinz und
ihre als ,Südgalatien' geltenden Teile, gelegentlich auch
über die Sprachverhältniffe, welche die Möglichkeit einer
griechifchen Predigt auch im Norden der Provinz nicht
ausfchließen. Die Tätigkeit des Apoftels und die Exiftenz
von chriftlichen Gemeinden gerade auch in diefen Regionen
zur Zeit des Galaterbriefes wird nachdrücklichft und mit
guten Gründen behauptet, die zweimalige Miffion des
Paulus dafelbft auf dem Wege einer Kombination der
Angaben des Briefes und der Apoftelgefchichte in einer
Weife gefchildert, daß fie fich deutlichft von der Wirk-
famkeit in Südgalatien abhebt. Die Debatte mit entgegen-
ftehenden Auffaffungen verläuft gewöhnlich in durchaus
fachlicher Form. Nur gelegentlich wird auf ,das frivole
Spiel einer entarteten Kritik' gefcholten — gegen Weiz-
fäcker mit Nösgen!

Ein ausführliches Stellenverzeichnis, ein geographi-
fches Regifter und eine Lifte der Namen und Wörter
erhöhen die Brauchbarkeit des Werkes.

Baden. Fl. Holtzmann.

Wi I heI m, Friedrich, Deutfche Legenden und Legendare. Texte
und Unterfuchungen zu ihrer Gefchichte im Mittelalter.
Leipzig, J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung 1907. (XVI,
234 u. 57* S.) gr. 8° M. 8—; geb. M. 9 —

Neben einer Morphologie der Legende als Genus,
wie fie Delehaye und Günter uns geliefert haben, ift es
eine wichtige und dankbare Aufgabe, die Entwicklungs-
gefchichte einer Einzellegende durch alle ihre Stadien
hindurch zu verfolgen. Etwas derartiges fchwebte dem
Referenten bei Abfaffung feiner ,Chriftusbilder' vor. Er
freut fich, mehr und mehr die Philologen in diefe Arbeit
eintreten zu fehen. F. Wilhelm, ein junger Münchener
Germanift, hat fich die Thomaslegende erkoren: er be-
fchränkt fich dabei in der Hauptfache auf die deutfchen
Bearbeitungen; daher der Titel, derzunächft etwas anderes
erwarten läßt, aber infofern berechtigt ift, als W. fein
Augenmerk immer zugleich auf die ganzen Sammlungen
gerichtet hat und oft andere Legenden, befonders Apoftel-
legenden zum Vergleich heranzieht.

Die Arbeit ift mit großem Fleiß und gutem kritifchen
Urteil gemacht. Die Befchreibung der einzelnen Hand-
fchriften und die Unterfuchung ihrer Gefchichte zeigt eine
ungewöhnliche Sorgfalt. Auf das rein fprachliche, das

in dem Buch eine große Rolle fpielt, gehen wir hier
nicht ein. Für uns ift wichtig das literargefchichtliche.
Der Verf. beginnt mit der Entwicklung der Thomaslegende
im Abendland, für die Anfänge fich hauptfächlich auf
Lipfius ftützend: eingehend wird das Verhältnis von passio
und miracula, die Abdiasfammlung und die Exzerpte bei
Ordericus, Vincenz, Jacobus de Varagine und Petrus de
Natalibus befprochen. Dann folgt die Analyfe einer
Anzahl deutfcher Texte, deren 6 im Anhang vollftändig
abgedruckt werden: ein Gedicht über Thomas in Cgm 16,
und den Text im Legendär des Herman von Fritzlar
führt W. wohl mit Recht direkt auf die passio zurück,
bei freier Wiedergabe nach dem Gedächtnis. Von der
legenda anrea, deren Verbreitung er S. 135f. behandelt
(ich fah noch eine franzöfifche Hdfchr. in Jena, eine
deutfche in Kaffel), weift W. eine elfäffifche Übertragung
in Cgm 6 und 343 nach. Diefe legenda aurea ift auch
die Hauptquelle für das Reim-Paffional und deffen Profa-
auflöfung im fog. Münchener Apoftelbuch in Cgm 361.
Doch weift W. in überzeugender Weife nach, daß der
Verfaffer des Reimpaffionals daneben auch die ausführlicheren
Texte kannte und fich gelegentlich davon in freier
Weife beeinfluffen ließ. Von dem Rivalen, dem Märtyrerbuch
, ift die Thomaslegende gerade nicht erhalten. Die
intereffantefte Gruppe bilden wohl das Legendär des
Hermann von Fritzlar, die von W. als Wenzelpaffional
bezeichnete und als ein in Nürnberg um 1400 entftandenes
Privaterbauungsbuch charakterifierte große Kompilation
und das fog. Bebenhaufener Legendär "(richtiger Homiliar)
in Cgm 257, weil hier die verfchiedenften Quellen verarbeitet
find.

Bei aller Gründlichkeit ift dem Verfaffer doch einiges
entgangen. Daß er fich für die ältefte Entwicklungsge-
fchichte zu ausfchließlich auf Lipfius ftützt, Bonnets neue
Ausgabe faft nicht heranzieht, ilt dem Germanitten nicht
| fehr zu verübeln: er empfindet felbft, daß es noch Texte
gegeben haben kann, ja muß, die fpäter auftauchende
Varianten leichter erklären. Wenn z. B. das Märtyrerbuch
und das Bebenhaufener Legendär in der Legende
von Kosmas und Damian von 3 Eiern fprechen, fo ift
das nicht auffällig, denn es gehört zum Grundftock der
Legende (Deubner 89,12) und ift nur in einem lateinifchen
Text durch munusculum erfetzt. Ebenfo wenn Thomas
bei Herman v. Fritzlar, im Wenzelpaffional mit Speeren,
nicht mit dem Schwert getötet wird: das ift die Faffung
der jtQÖ.t-£iq 168 (p. 282,15) und der virtutes (p. 130 10).
Die Fehlerquellen vermindern fich, je größer das herbeigezogene
Material ift. Eben deshalb ilt der gegenüber
älteren Forfchern wie befonders J. Haupt angefchlagene
Ton unberechtigt. Spätere werden wieder noch weiter
kommen.

Älthetifch betrachtet wäre es gewiß eindrucksvoller
gewefen, wenn der Verf. ftatt der für die meiften Texte
angewandten Form einer Vers für Vers voranfchreitenden
Quellenanalyfe, die den Lefer leicht ermüdet und den
Verfaffer verleitet, auch unnötiges anzumerken, die Beobachtungen
fachlich gruppiert hätte, alfo z. B. beim
Reimpaffional 1) Grundlage die Leg. nur. (einige fchlagende
Belege), 2) daneben Einfluß der Passio (Aufzählung aller
betreffenden Stellen), 3) dichterifche Freiheiten, veranlaßt
a) durch das Reimbedürfnis, b) durch die Übertragung
in deutfch-mittelalterliches Koftüm uff. Daneben hätte
eine Analyfe der Fabel als folch er, bei der jedes Motiv
durch alle vorkommenden Variationen hindurch verfolgt
wird, den Lefer über die Verwandtfchaftsverhältniffe der
Texte leichter orientiert.

Als Zugabe erfcheint am Schluß noch ein lat. Text
aus der berühmten Benediktbeurener Hdfchr. Clm. 4585,
der mit der Thomaslegende nichts zu tun hat. Der Verf!
weiß damit auch nichts rechtes anzufangen: er fetzt ihn
in die Merovingerzeit. Tatfächlich ift es eine Thomas-
apokalypfe aus der Zeit des Honorius, die, bereits
im Gelafianum erwähnt, in der neueren Literatur merk-