Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1906 Nr. 25

Spalte:

685-689

Autor/Hrsg.:

Wundt, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. II. Bd., 1. Teil 1906

Rezensent:

Thieme, Karl

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

685

Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 25.

686

gründe lagen. Für ihn ift die jungnicänifche Orthodoxie
ein Mythus. Er läßt zu deutlich merken, warum: weil
er für die Orthodoxie eine Entwicklung und Umwertungen
alter Begriffe nicht zugeftehen mag. An diefer feiner
Weltanfchauung, die ihn auch der Fähigkeit beraubt, nach-
chalcedonenfifche und gnefionicänifche Orthodoxie fcharf
auseinanderzuhalten, findet fein Scharfblick und fein Geift
doch zu früh eine Schranke.

Marburg. Ad. Jülich er.

Wundt, Wilhelm, VölkerpTychologie. Eine Unterfuchung
der Entwicklungsgefetze von Sprache, Mythus und Sitte.
Zweiter Band: Mythus und Religion. Erfter Teil.
Mit 53 Abbildungen im Text. Leipzig, W. Engelmann
1905 (XI, 617 S.) gr. 8° M. 14—; geb. M. 17 —
In feinem Vortrag ,Pfychologie und Erkenntnistheorie
in der Religionswiffenfchaft' (1905, 12) beklagt Troeltfch,
daß Wundt die religiöfen Zultändlichkeiten lediglich als
komplexe Phänomene bezeichne und fie an die Völker-
pfychologie abfchiebe, die fie aus älteren und einfacheren
Phänomenen erklären zu können vielleicht einmal
hoffen darf. Auf diefem Wege werde es immer
unmöglich fein, der Religion pfychologifch beizukommen,
die nun eben einmal überall fich als eine qualitativ felb-
ftändige Erfahrungsgruppe fühlt.

Läßt der anzuzeigende Teil von Wundts ,Völker-
pfychologie' diefe Klage fortbeftehen? Ihr erfter Band
(- 1904) hatte die Sprache in zwei Teilen (667 und 673 S.)
unterfucht. Im zweiten Band kommen Mythus und Religion
an die Reihe, aber die drei Kapitel des erbten
Teils unterfuchen nur ,die Phantafie', ,die Phantafie in
der Kunft' und ,die mythenbildende Phantafie' (S. 3—86;
87 — 526; 527—617). Erft der zweite Teil wird fich mit
der Religion befchäftigen, ihrer pfychologifchen Ent-
ltehung, ihrem Verhältnis zum Mythus ufw.

Wir nehmen nur das dritte Kapitel über die mythenbildende
Phantafie vor. Dabei beantwortet fich auch
die Frage, was der Inhalt der beiden erbten Kapitel, die
experimentelle Analyfe der individuellen und der kindlichen
Phantafie und der Abriß einer pfychologifchen
Entwicklungsgefchichte der Kunft, mit Mythus und Religion
zu tun hat. Übrigens muß die Beurteilung diefes
Werkes über die Pfychologie des Mythus und der Religion
den Satz des Vorworts beachten, der nächbte
Zweck diefes Werkes fei nicht etwa der, die Mythologie
durch die Pfychologie zu berichtigen, fondern der pfychologifchen
Forfchung felbft die Quellen einer für das
Studium der Phantafievorgänge wie der Gemütsbewegungen
unfchätzbaren und unerfetzbaren Erkenntnis zuzuführen
. Da Mythus und Religion die wefentlichften
Beftandteile einer allgemeinen Pfychologie der Phantafie
bilden, ift der erbte Teil ihrer Unterfuchung von felbft
zu dem Verbuch einer eingehenden Pfychologie der
Phantafie geworden. Aber trotz diefes pfychologifchen
Zwecks des Werkes kann über den großen direkten
Wert feines dritten Kapitels für jede Religionswiffenfchaft
kein Streit fein. Vom Standpunkt des allgemein-
wiffenfchaftlichen Intereffes aus verdient wohl das zweite
Kapitel, der Abriß einer pfychologifchen Entwicklungsgefchichte
der Kunft, den höchften Ruhm. Hier dürften
die ftärkften Ausdrücke, daß der größte Polyhiftor und
Philofoph unfres Zeitalters Ungeheures, fchier Unglaubliches
geleibtet hat, nicht übertrieben fein, vgl. auch
Hermann Reich, ,Die völkerpfychologifchen Grundlagen
der Kunft und Literatur' in der Deutfchen Literaturzeitung

1906, Nr. 25—28. .

Das dritte Kapitel über die mythenbildende Phantafie
hat drei Abfchnitte. Im erbten, .Mythologifche
Theorien' kritifiert Wundt zunächbt die konbtruktive
Mythologie. ,Als .konftruktiv' können wir jede mythologifche
Theorie bezeichnen, die den Erfcheinungen der

Mythenbildung irgendein apriori angenommenes oder
von außen, etwa dem Gebiet metaphyfifcher, moralifcher
oder abbtrakt logifcher Betrachtung entlehntes Prinzip
zugrunde legt' (S. 532). Konftruktiv find die Entartungstheorie
(z. B. Max Müllers, der Seelenglaube, Fetifchis-
mus und andere fonft für primitiv gehaltene Vorttellungen
als degenerative Erfcheinungen deutet, die auf eine
reinere Gottesidee zurückgehen follen) und die Fort-
fchrittstheorie (z. B. das Entwicklungsfchema (Fetifchis-
mus, Polytheismus, Monotheismus'). Aber mindeftens
teilweife bewahren einen konftruktiven Charakter auch
die naturaliftifche Theorie, die den Naturmythus, und
die animiflifche Theorie, die den Seelenmythus als die
Wurzel aller Mythologie betrachtet. So fetzt die letztere
konftruierend voraus, der Verlauf der mythologifchen
Entwicklung entfpreche einer linearen Ordnung, indem
es irgendeinmal ein Stadium gegeben habe oder noch
gebe, wo der Seelen- und Geifterglaube alleinherrfchend
fei, worauf dann erft aus diefem die Naturmythen fowie
die Vorftellungen von Schutz- und Schickfalsgöttern
hervorgegangen feien. Wundt, der die Seelenvorbtellungen
erft im zweiten Teile erörtern wird, findet es unwahr-
fcheinlich, daß fie die einzigen Ausgangspunkte auch
der fogenannten .niederen Mythologie' feien (S. 549/50).

Es folgt die Kritik der ,Symboliftifchen und ratio-
naliftifchen Mythendeutungen', die die Frage, was der
Mythus überhaupt fei, beantworten. Nach jener Theorie
fallt der Mythus feinem Wefen nach mit der Dichtung
zufammen, und die einzelne mythologifche Vorftellung
berührt fich daher auf das engfte mit der poetifchen
Metapher. Nach der rationalibtifchen Theorie befteht
der Mythus in der naiven Behandlung theoretifcher oder
praktifcher Probleme, und die Mythologie im ganzen ift
ihr eine Art primitiver Wiffenfchaft. Die Kritik des
Symbolismus richtet fich gegen die Unbeftimmtheit feiner
Unterfcheidungen und Begriffsbeftimmungen und betont
gegen Ufeners Deutung des Mythus als einer fym-
bolifchen Einkleidung religiöfer Ideen, daß fich zwar
(ähnlich wie bei der chriftlichen Taufe S. 558), aus mythologifchen
Vorftellungen religiöfe Symbole entwickeln
können, daß aber dann immer die Vorftellung, die zum
Symbol wird, urfprünglich ein folches noch nicht ift,
fondern als unmittelbare Wirklichkeit gilt. Die Kritik
des Rationalismus unterfcheidet Mythus und Wiffenfchaft,
die fich auf die gleichen tatfächlichen Erlebniffe und
Erfahrungen beziehen, nach ihren (Denkmitteln und)
Intereffen: durchaus nur praktifche wie Erfolg in Unternehmungen
, Abwendung des Unheils, Schädigung des
Feindes und das theoretifche der Erkenntnis um der
Erkenntnis felbft willen.

Von Wundts kritifchen Bemerkungen über die Analogietheorie
, die Wanderhypothefe, die Illufionstheorie
und die Suggeftionstheorie dürften für den Theologen
im gegenwärtigen Moment die über die Wanderhypothefe
am intereffanteften fein. Die .Panbabyloniften'
find freilich noch nicht berückfichtigt. Jene Hypothefe
habe von Haufe aus einen rationaliftifchen Zug. Denn
fie hänge mit jenen Vorftellungen der Aufklärungszeit
von einer irgend einmal durch Priefterweisheit vermittelten
Erfindung zufammen, mit der fich dann leicht die weitere
Vorftellung verbinden kann, eine folche Erfindung
fei ein einziges Mal an einem bevorzugten Punkt der
Erde gefchehen, um von da aus über die ganze Menfch-
heit fich auszubreiten. So liege denn in diefer Hypothefe
immer zugleich das Eingeftändnis, daß der Mythus und
demzufolge auch die Religion aus den allgemeinen
Eigenfchaften der menfchlichen Natur nicht zu begreifen
feien. Man müffe zugeben, daß die gefchichtlichen
Zeugniffe für fich allein die Hypothefe, alle Mythen und
Religionen feien dereinft in vorhiftorifcher Zeit von einem
einzigen Urfprungszentrum ausgegangen, durchaus nicht
unmöglich erfcheinen laffen, falls nur eine folche Hypothefe
pfychologifch möglich fein follte. Aber wenn