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Ausgabe:

1906 Nr. 13

Spalte:

377-379

Autor/Hrsg.:

Jülicher, Adolf

Titel/Untertitel:

Einleitung in das Neue Testament. 5. u. 6., neu bearb. Aufl 1906

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 13.

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gegen den tcxt. rec. Jetzt nun haben Eb. Neftle und
P. YV. Schmiedel, jener bei Bearbeitung des griechifchen
N. T.s für die englifche Bibelgefellfchaft, diefer bei den
Vorbereitungen für feine Konkordanz, Scriveners Ausgabe
fleißig benutzt und dabei manche Ungenauigkeiten
entdeckt. Neftle fchätzt die Verbefferungen, die er in
dem vorliegenden Neudruck angebracht hat, auf über 500.
Befonderen Wert legt er darauf, daß die mit H - bezeichneten
Randlesarten bei W-H jetzt auch als folche markiert
find; bilden diefe doch den Ausgangspunkt der
neueften gegen W-H felbft gerichteten Bewegung zu-
gunften des fyrolateinifchen Textes. Neftles unermüdliche
Kollationsarbeit und Sorgfalt im Kleinften verdient
auch hier wieder Bewunderung. Typographifch ift diefe
Ausgabe mit ihrem feinen und doch nicht durchfcheinen-
den Papier und ihren zwar kleinen aber klaren und
fauberen Lettern ein wahres Kabinetftückchen. Wir bezweifeln
auch nicht, daß fie manchem Gelehrten ein bequemes
Hilfsmittel fein wird, zu rafcher Orientierung
über die Fortfehritte der Textkritik im 19. Jahrhundert,
über die Meinung der hervorragendften neueren Textkritiker
an der einen oder anderen Stelle. Befonders
zur Kollation jüngerer, dem text. rec. naheftehender
Handfchriften wird fie fich fehr empfehlen. Im übrigen
aber können wir nicht umhin den Wunfeh auszufprechen,
daß fie in Deutfchland keine weite Verbreitung finden
möge. Sie repräfentiert eben den Standpunkt der Textkritik
von 1859, der auch noch 1887 gelten mochte,
als J. H. Thayer fein anerkennendes Urteil abgab; der
Textkritik, die ihre Aufgabe darin fah, an dem text. rec.
etwas herumzukorrigieren, und die dabei jedem modernen
Textkritiker die Ehre feiner Korrekturen wahren wollte.
Durch Lachmann und Weftcott-Hort ift diefe Phafe ein
für allemal überwunden, und unfere Studenten follen
nicht wieder auf den text. rec. zurückgewiefen werden;
fie follen auch nicht an modernen Autoritäten hängen,
fondern die Quellen der Textkritik, Handfchriften und
Verfionen kennen, werten und benutzen lernen.

Straßburg. von Dobfchütz.

Jülicher, Prof. D. Adolf, Einleitung in das Neue Tefta-
ment. (Grundriß der theologifchen Wiffenfchaften.
Siebente Abteilung.) 5. u. 6., neu bearbeitete
Aufl. Tübingen, J. C. B. Mohr 1906. (XVI, 581 S.)
gr. 8° M. 9—; geb. M. 10—

Mein bei der Anzeige der 3. und 4. Auflage in diefen
Blättern (Jahrg. 19°1^ sp. 321—323) ausgefprochener
Wunfeh, daß durch ein periodifches Wiedererfcheinen
diefes trefflichen Grundriffes denen, die lernen wollen, Gelegenheit
geboten werde, fich über die jeweilig erreichten
Fortfehritte der Wiffenfchaft zuverläffige Orientierung
zu holen, ift in Erfüllung begriffen. Sechs Jahre liegen
zwifchen dem erften und zweiten, fünf zwifchen dem
zweiten und dritten Druck; jener war um IOO, diefer
ift um faft 80 Seiten angewachfen. Der Verf. hat kaum
nötig, die neuen Zufätze zu entfchuldigen; fie waren
zweifellos unentbehrlich, wenn das Buch in frifchen
Farben den gegenwärtigen Stand der Wiffenfchaft
widerfpiegeln follte (S. VI).

Abermals konnte Anlage und Dispofition die
gleiche bleiben. Auch an der Bereicherung, welche
die neue Auflage aufweift, nehmen fo ziemlich alle einzelnen
Abfchnitte und Kapitel teil. So läuft gleich die
Gefchichte der Disziplin in eine fehr belehrende und
durch ihre unmißverftändliche Verurteilung einer nachgerade
als Sport betriebenen Skrupelfucht fäubernd
wirkende Darfteilung der heutigen Situation aus. Im
Kapitel von den Briefen mußten neuefte Verhandlungen
über 2. Theff. Berückfichtigung erfahren, wobei den nach
der negativen Seite wirkenden Momenten immerhin ein
größeres Gewicht zuerkannt wird, als früher der Fall

war (S. 55 f). Ebenfo find die den Kontroverfen über
2. Kor. gewidmeten Betrachtungen zumeift durch Hal-
mels Verfuch (vgl. S. 20 f. 85 f.) veranlaßt. Die Debatte
über Eph. fchließt diesmal mit einem non liqnet (S. 128);
zufällig vergeffen ift die Erwähnung des Fehlens der
Adreffe in den beiden älteften Handfchriften (S. I2l).
Bezüglich aller übrigen Briefe haben die früheren Pofi-
tionen nur geringfügige Modifikationen erfahren. Nur
um wenige Seiten angewachfen ift die Erörterung der
Apokalypfe durch Berückfichtigung neuerer Beiträge zur
johanneifchen Frage, zumal von E. Schwartz (S. 238).

Anders liegt die Sache bei den Gefchichtsbüchern.
Hier haben die bekannten Veröffentlichungen Wellhaufens
über die fynoptifchen Evangelien nicht bloß verzögernd
auf das Ericheinen der vorliegenden neuen Auflage
(S. VI), fondern auch tief eingreifend auf die Faffung
des ganzen betreffenden Abfchnittes gewirkt (S. 251
bis 342). Bemerklich macht fich das nicht bloß in einer
großen Reihe von in den älteren Text eingefprengten,
gelegentlichen Bemerkungen, fondern auch in längeren
Auseinanderfetzungen mit Wellhaufens Anflehten bezüglich
desÜberfetzungscharakters des Markus (S. 280 f.) und
feines Verhältniffes zur Quelle Q, fonft Redefammlung
genannt (S. 320 f.), der überhaupt eine fehr eingehende
Unterfuchung gewidmet ift (S. 314 t. 320 f.), freilich mit
dem Endergebnis, daß fie als ,Halbevangelium' und überhaupt
,nebelhaftes Gebilde' kein Fundament für literar-
gefchichtliche Konftruktionen abgeben kann (S. 322).
Schließlich faßt eine längere Auseinanderfetzung mit
den leitenden Gedanken der hiftorifchen Kritik Wellhaufens
ein bei aller Bewunderung einer fo einzigartigen
Leiftung (vgl. namentlich S. 253. 341) fich aufdrängendes
Hauptbedenken dahin zufammen, daß die literarifche Bezeugung
allein über die Authentie der überlieferten
Worte Jefu entfeheiden folle, während doch älteres Gut
recht wohl erft in fpäterer Aufzeichnung erhalten fein
kann (S. 338—341; vgl. auch S. 287). Übrigens fehlt es
auch nicht ganz an infolge diefer Debatte eingetretenen
Kürzungen (S. 335, vgl. S. 299 f. der früheren Auflage);
gelegentlich werden auch die .gewiffenhaften Geldwechfler
im bekannten Agraphon, über die fich Wellhaufen gelegentlich
luftig gemacht hat, preisgegeben, obwohl der
Verf. nicht der Meinung ift, ,daß für jedes Agraphon
die gröbfte Deutung die wahrfcheinlichfte ift' (S. 339, vgl.
S. 300 der früheren Auflage). Im übrigen hinterläßt che
Lektüre diefer, für den gegenwärtigen Beftand der Evangelienkritik
bezeichnenden und belehrenden Abfchnitte
den .Eindruck des Stimmungsmäßigen und Unfertigen'
(S. VI) wenigftens infofern, als der Lefer fich lägen muß,
daß auf diefem Gebiete auch nach dem Sieg der Zweiquellentheorie
doch alles bis auf den Tag noch mehr,
als man glauben follte, im Fluffe begriffen ift.

Erheblich an Umfang gewonnen hat auch die Verhandlung
über die johanneifche Frage, namentlich durch
Auseinanderfetzung mit E. Schwartz, dem bald zuge-
ftimmt, bald widerfprochen wird (S. 362. 366. 387 f.).
Auch Bacons Polemik gegen johanneifche Spuren bei
Ignatius findet Beifall (S. 361 f.), während dafür Papias
jetzt im 4. Evangelium das von dem Zebedaiden herrührende
Normalevangelium gefehen haben foll, an dem
er den Wert der anderen Evangelien abmaß (S. 367,
vgl. S. 262. 273. 442). Jener zweite Johannes aber, den
er vom Apoftel als dem ,Alten' unterfcheidet, ift mit
dem Apokalyptiker, nicht aber mit dem Unbekannten
zu identifizieren, welcher Evangelium und Briefe, namentlich
aber auch, worauf jetzt im Unterfchied von früher
Wert gelegt wird, das Anhangskapitel verfaßt hat (S. 353.
387 f.), und zwar in Syrien, nicht mehr in Kleinafien
(S- 387)- Viel weniger fallen ins Gewicht die geringen
Zufätze und Änderungen betreffs der Apoftelgefchichte;
vgl. z. B. S. 399 Polemik gegen Soltau. Bei der wiederholten
Auseinanderfetzung mit Blaß ift jetzt dag Prädikat
,der Philologe' weggefallen, um dem .Ausland'