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Ausgabe:

1906

Spalte:

338-339

Autor/Hrsg.:

Eucken, Rudolf

Titel/Untertitel:

Beiträge zur Einführung in die Geschichte der Philosophie. Der ‘Beiträge zur Geschichte der neueren Philosophie’ zweite umgearbeitete und erweiterte Auflage 1906

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. ir.

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liert, wie denn namentlich im erften Hauptteil der Schrift,
in den Ausführungen über die Wunder, die Weisfagungen,
das Selbftzeugnis Jefu, aber auch fonft in anderen Kapiteln
, die von ihm beurteilten Theologen gar keine,
oder kaum eine Erwähnung erfahren.

Hieraus erklärt fich die Zwittergeftalt, welche A's.
Buch charakterifiert Es ift dasfelbe aus einem doppelten
Intereffe erwachfen, aus der hiftorifch-kritifchen Beurteilung
einiger Vertreter der deutfchen Theologie, und aus
der perfönlichen Teilnahme an der chriftologifchen Arbeit
der Gegenwart. Wie der Verf. zu diefer Verquick-
ung der beiden Probleme gekommen ift, läßt fich vielleicht
daraus erklären, daß ihn frühere Arbeiten den von
ihm eingefchlagenen Weg wiefen. In der Revue de theo-
logie et des questions religieuses von Montauban hat er
einige Auffätze erfcheinen laffen (EHdee de l'absolu dans
la Philosophie et la theologie d'E. Biedermann, März-
und Maihummern 1899 — Le Phenomenisme, Januarnummer
1902), die ihm zunächft einige der auch hier
berührten Gegenftände näher brachten; von hier aus
wandte er fich wohl auch den andern Fragen zu. Wie dem
auch fei, die zwei von A. in Angriff genommenen Aufgaben
durchkreuzen fich und keine der beiden kommt
in ihrer Selbftändigkeit zu wirklicher Geltung.

Was den eigenen Standpunkt des Verf. betrifft, fo
entfpricht derfelbe dem allerdings etwas unbeftimmten
Programm der modernen, pietiftifch gemilderten Orthodoxie
. Die aus den reformatorifchen Beftrebungen fich
ergebende, durch das wefentliche Intereffe der evange-
lifchen Frömmigkeit gebotene Umfetzung der hyper-
phyfifchen Kategorien in ethifch religiöfe Glaubensgedanken
ift zwar nicht ganz abgewiefen oder verleugnet,
allerdings aber auch nicht rein und konfequent vollzogen.
So hat A. mit dem trinitarifchen Dogma der alten
Kirche fehr entfehieden gebrochen, und er entwickelt
in der Bekämpfung desfelben einen außerordentlichen
Eifer; nichtsdeftoweniger hält er an der Gottheit Chrifli unverbrüchlich
feft, indem er diefem Prädikat die Bedeutung
eines metaphyfifchen objektiven Wiffensfatzes
beilegt. Das Band, das den hiftorifchen Chriftus mit
dem präexiftenten Gottlogos zu einer Perfon zufammen-
fchließt, ift die Erinnerung an jenes vorzeitliche Dafein

(409) ; dagegen weift A. die Kenofislehre von Thomafius
und Geß zurück, und will an Stelle derfelben eine Auf-
faffung von dem renoncement treten laffen, die er als
einen wefentlichen Fortfehritt preift. Man wird ihm
hierin kaum beipflichten können. Oder wäre wirklich
der Doketismus der kenotifchen Theorie durch folgende
Äußerungen überwunden? Lc Christ abandonne les quaktes
divines essentielles, et il reduit les qualites relatives, analogues
dies Dien et dies IViommc, ä n'etre plus que des qualites
purement humaincs. Jesus a cte Dieu, mats il ne l'estplus

(410) . A. ift fich halb bewußt, daß fich hier neue
Schwierigkeiten auftun, aber er kann diefelben nur durch
Bilder und Anthropomorphismen illuftrieren, die nichts
aufhellen und die transformation aeeeptee par Jesus dans
Vincarnation (411) in keiner Weife zu erklären vermögen.
II etait Dieu, il s'est fait homme, il est redevenu Dieu
(415): in diefem Satz zieht A. die Summe feiner Chrifto-
logie, an welcher er die Pofition des ,deutfchen Rationalismus
der Gegenwart' mißt. Wenn in der näheren
Erklärung jener Thefe A. der Gefahr nicht völlig erliegt
, die Chriftologie in metaphyfifche Mythen aufzulöten
, fo verdankt er diefe Bewahrung lediglich der
Macht, die die hiftorifche Methode auch auf ihn, trotz
aller dogmatifchen Vorurteile, ausgeübt hat. Auch er
will feinen Standort und feinen Ausgangspunkt nicht in
dem Xöyoq äaagxos, fondern in dem Chriftus der Evangelien
nehmen; auch für ihn find die Ausfagen über
den Eintritt Jefu in die menfehliche Gefchichte und
über feinen ewigen Urfprung aus Gott des induetions
au point de vue rationnel, des hypotheses explicatives, pour
lesquelles les interpretations peuvent diverger (416). Wer

einer folchen Methode huldigt, der mag noch wohl die
rechtgläubigften Pofitionen vertreten, er hat im Prinzip
mit der altkirchlichen Tradition gebrochen und ift auf
dem Weg jenem Rationalismus anheimzufallen, den er
bei den Gegnern in fo bewegten Worten zu verurteilen
weiß.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Eucken, Rudolf, Beiträge zur Einführung in die Gerchichte
der Philofophie. Der /Beiträge zur Gefchichte der
neueren Philofophie' zweite umgearbeitete und erweiterte
Auflage. Leipzig, Dürrfche Buchhandlung
1906. (V, 196 S.) gr. 8° M. 3.60

Das vorliegende Buch wird im Nebentitel als zweite
Auflage der .Beiträge zur Gefchichte der neueren Philofophie
' bezeichnet; dem Haupttitel nach ftellt es fich
dagegen als eine ganz neue Schrift dar. Vom Inhalt aus
beurteilt, dürfte der Haupttitel den Vorzug verdienen.

Alles in allem werden zehn Auffätze dargeboten.

Um zunächft diejenigen anzuführen, die wefentlich
unverändert aus der früheren Publikation herübergenommen
find, fo flehen da drei voran, die fich auf ältere
deutfehe Denker beziehen: .Nikolaus von Cues als Bahnbrecher
neuer Ideen'; .Paracelfus Lehren von der Ent-
wickelung'; .Kepler als Philofoph'. Die erfte Abhandlung
zeigt, wie Nikolaus von Cues von den Anfchau-
ungen des Neuplatonismus ausgeht, fie aber umbildet
und fo der modernen Philofophie vorarbeitet: die müde
Abkehr von der Welt fchlägt um in freudige Zuwendung
zu der Wirklichkeit. Von Paracelfus wird fpeziell der
Entwickelungsgedanke berückfichtigt, der einerfeits die
gegenwärtige Evolutionstheorie vorbereitet, anderfeits
fich fcharf von ihr unterfcheidet und dabei vielleicht
heute noch ihr gegenüber ein .Stück Wahrheit' vertritt.
Kepler kommt weniger als Naturforscher in Betracht
denn als Philofoph, der, auf der Lehre der ,Weltharmonie
' fußend, eine eigentümliche Weltanfchauung ent-
I wirft und wiederum Repräfentant einer Übergangszeit ift.
! Nur in gerinfügigem Maße modifiziert ift gleichfalls der
Verfuch ,Über Bilder und Gleichniffe bei Kant', der
fcheinbar die Aufmerkfamkeit auf Formales richtet, tat-
fächlich aber auch das Verftändnis der Sache fördert.

Eine viel tiefer greifende Umarbeitung haben erfahren
der Auffatz ,Zur Erinnerung an Adolf Trendelenburg
' und der über /Parteien und Parteinamen in der
Philofophie'. Indem Verf. in letzterem die wichtigften
Motive der Parteibildung und damit zugleich gewiffe
treibende Prinzipien in dem Werdegang der Gefchichte
der Philofophie darlegt, bekundet er befonders deutlich
die ihm eigene Virtuofität, felbft die kleinften, durch
mühfelige Detailarbeit eruierten Daten in große, weitreichende
Zufammenhänge hineinzuftellen.

Völlig neu ift die aktuelle und hochintereffante Studie
über .Bayle und Kant'. Sie fchildert den franzölifchen
Philofophen, deffen hundertjähriger Todestag (28. Dez.
1906) im Anzug ift, als einen ringenden Denker, der fich
in der Bewegung vom Skeptizismus zum Kritizismus befindet
. Auf theoretifchem Gebiet fträubt er fich, fo ftark
er die Widerfprüche betont, in welche die Vernunft fortwährend
verwickelt wird, gegen den generellen und re-
fignierten Zweifel, kann aber diefen doch nicht fiegreich
ganz überwinden, weil ihm der neue und tiefe Kantifche
Wahrheitsbegriff noch nicht aufgegangen ift. Auf prak-
tifchem Gebiet verwirft er entfehieden trotz des furchtbaren
Widerftreits zwifchen der menfehlichen Natur und
den Forderungen des Sittengefetzes, den er ftatuiert und
in düfteren F'arben ausmalt, einen desperaten moralifchen
Peffimismus, vermag jedoch feine Pofition nicht mit Sicherheit
zu behaupten, da es ihm nicht gleich dem Autor
I der ,Kritik der praktifchen Vernunft' gelingen will, das