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Ausgabe:

1905 Nr. 10

Spalte:

303-305

Autor/Hrsg.:

Lütgert, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Liebe im Neuen Testament 1905

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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303

Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 10.

304

des Abendmahles fertig vor, mit der Lehre von dem
fleifchgewordenen Chriftus und der ftarken Betonung der
Wirklichkeit feines Fleifches, famt der Identifizierung des
paulinifchen 6m(ia mit diefem Fleifch' (82). — ,Der reale
Genuß von Leib und Blut Chrifti hat fich im Anfchluß
an die Lehre von der Fleifchwerdung Chrifti ganz natürlich
ausgebildet. Und eben weil diefe Lehre etwas Neues
ift, ift auch das Effen und Trinken von Chrifti Leib und
Blut etwas Neues, das nur in der chriftlichen Gemeinde
vorhanden ift, und in der Religionsgefchichte kein Vorbild
hat . . . Die Euchariftie des Juftin und der nächften
Zeit nach ihm ift eine Agape, d. h. zuvörderft eine Mahlzeit
, eine xXaöig rov aQzov; fie ift aber auch ein wirkliches
Abendmahl, in dem man das wirkliche Fleifch
Chrifti ißt und fein wirkliches Blut trinkt . . . Die Euchariftie
Juftins wird zum sacramentum sacrificii dominici des
Cyprian . . . Das sacramentum aber sacrificii dominici
des Cyprian trägt in fich alle Keime der fpätern Meßopfertheorie
' (83—84. 87—88. 90. 95).

Aus diefer Skizze, welche den Inhalt der Anderfen-
fchen Schrift in den wefentlichften Zügen entwirft, wird
der Lefer eher die Refultate des Verf. als feine Arbeitsmethode
erfehen. Letztere ift m. E. nicht minder anfechtbar
als jene. Wo die Grenze zwifchen dem hiftorifch
Nachweisbaren und dem bloß Wahrfcheinlichen oder
Möglichen fo kühn verwifcht wird, da kommen auch die
richtigen Bemerkungen und die feinen Beobachtungen
nicht zu voller Geltung. Ref. muß es fich verfagen, auf
eine Einzeldiskuffion einzugehen, die den Raum einer
bloßen Rezenfion weit überfchreiten würde. Es fei aber
geftattet, nur einiges kurz anzudeuten. Der Eindruck
der Unficherheit, den das fehr beftimmte, zuweilen kecke
Verfahren A.s zurückläßt, erklärt (ich wohl zum Teil
daraus, daß er namentlich in der Befprechung der neu-
teftamentlichen Ausfagen diefelben viel zu fehr von dem
gefchichtlichen Zufammenhang loslöft, in welchen fie gehören
. Anderswo begnügt er fich damit, höchft proble-
matifche Pofitionen ohne jede weitere Begründung auf-
zuftellen, um fofort daraus weitere Folgerungen zu ziehen.
Als Beifpiel eines folchen Vorgehens mag nur auf A.s
Stellung zum 4. Evangelium hingewiefen werden. Einmal
wird die fpätere fynoptifche Form der evangelifchen Überlieferung
einfach der johanneifchen Tradition geopfert;
dann erfahren wir aber, daß A. in der Rede Joh. 6 eine
Interpolation (tatuiert, welche mit der von Spitta angenommenen
zufammenzufallen fcheint; nirgends findet
fich aber eine klare, zufammenhängende Ausführung
über das vierte Evangelium. An zahlreichen Stellen
fchließt fich A. meilt zuftimmend an Spittas Unter-
fuchungen an. Diefe fporadifchen Zitate fchweben aber
manchmal in der Luft und büßen daher vieles von dem
Werte ein, den Spitta feiner ganzen Hypothefe verleiht
durch den großen Hintergrund, den er ihr in feiner efchato-
logifch orientierten Gefamtanfchauung zu geben gewußt
hat. — Alb. Schweitzers Schrift über das Abendmahl, die
fich dem Umfange nach mit der A.fchen decken wird
(nach Veröffentlichung des noch ausftehenden 3. Heftes),
fcheint der Verf. nicht zu kennen; auch fonft ift die Bibliographie
eine höchft fragmentarifche.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Lütgert, Prof. D.Wilhelm, Die Liebe im Neuen Testament.

Ein Beitrag zur Gefchichte des Urchriftentums. Leipzig
, A. Deichert'fche Verlagsbuchhandlung, Nachf. 1905.
(XII, 275 S.) gr. 80 M. 5.40

Vorbemerkungen: Die Glaubensfragen, welche im
N. T. aufgeworfen und behandelt werdeh, find ausgiebigft
unterfucht worden. Die Liebesgedanken noch kaum. Und
doch umfchließen auch diefe Probleme fowohl pfycholo-
gifcher wie hiftorifcher Art. Zunächft handelt es (ich um
die Vorgefchichte des Liebesgebotes.

Erltes Kapitel: Die Liebesübung in der paläftinen-

fifchen Synagoge. Das weitfchichtige und fchwer zugängliche
Quellenmaterial ift teilweife felbftändig durchforfcht,
teilweife nach Bacher und Perles beurteilt worden mit
der rühmlichen Tendenz auf möglichft unparteiliche Dar-
ftellung der fpätjüdifchen Ethik, die faft überall fchon
Anfätze zu dem aufweift, was gemeinhin als original
urchriftliches Gut gilt. Beifpielsweife wird hier auf die
Bedingtheit der genau abgegrenzten Liebespflicht durch
den Gottesgedanken aufmerkfam gemacht.

Zweites Kapitel: Der Einfluß des Hellenismus auf
das Verftändnis und die Erfüllung des Liebesgebotes. Es
handelt fich um den Import griechifcher Begriffe, wie
Tugend und Freundfchaft, und Debatten, wie über die
Willensfreiheit, in den Makkabäerbüchern, im Arifteasbrief
und befonders bei Philo. Hervorgehoben wird die Frage
nach dem Verhältnis von Furcht und Liebe in der
Frömmigkeit, aber auch das Auftreten des Humanitätsideales
und der ekftatifch-fpekulativen Myftik.

Drittes Kapitel: Die Liebe in den fynoptifchen Evangelien
; zerfallend in zwei Abfchnitte: die Liebesübung
jefu und das Liebesgebot. Jener behandelt zunächfl die
Wohltätigkeit Jefu. Trotz Weizfäcker feijefus in die Bahn
des Wunders nicht gedrängt worden, fondern kraft eigen-
ften Willens eingetreten, und trotz Wellhaufen hätten nicht
erft die Evangeliflen ihm die Rolle des Thaumaturgen
aufgenötigt. Trotz Matth. 12, as f. 16, if. Marc. 7,27. Luc. 12,
14. Joh. 4,4h habe Jefus eine wirkliche ,Bitte um Hilfe' nie
abgefchlagen. Zweitens die Gnade Jefu. Trotz Jülicher
werden die Gleichniffe vom Schalksknecht und vom verlornen
Sohn als Illuftrationen nicht bloß der Barmherzigkeit
Gottes, fondern auch der Gnade Jefu behandelt. Drittens
die Heiligung des Namens Gottes: eine Kategorie, welche
an die Stelle der ,Liebe zu Gott' tritt, um möglichft
vielerlei, wie Jefu Stellung zum Gefetz, feine Gottesfohn-
fchaft, Gottes Vaterfchaft, Sünde und ewiges Verderben,
unter einen Hut zu bringen. Abermals gegen Jülicher
wird hier die von den Evangeliflen zur Erklärung der
Gleichnisreden aufgebotene Verftockungstheorie auf Jefus
felbft übertragen. Viertens die Erweckung zur Liebe.
Weiter gegen Jülicher: nicht darauf, daß überhaupt Liebe
geübt wird, komme es Jefu an, fondern darauf, daß man
gerade ihn liebe, wie dann auch im zweiten Abfchnitt
dort noch einmal wiederholt wird, wo an zweiter Stelle
die vollkommene Liebe befchrieben ift, nachdem an erfter
1 Stelle Jefu Kritik der fynagogalen Liebesübung befprochen
war, worauf an dritter Stelle vom Dienft Gottes die Rede
ift. Durchweg kehren als Leitmotive die drei Gedanken
wieder, daß in Jefus Gott felbft liebt und geliebt wird,
daß er Liebe nicht bloß fordert, fondern erzeugt, und
daß die Liebe, die er übt, wie diejenige, die er fordert, ein
zielbewußtes Tun ift. ,Er erwartet keineswegs nur unbewußte
, ungewollte Wirkungen, die von einer naiven
Frömmigkeit von felbft ausgehen' (S. 135).

Viertes Kapitel: Die Liebe im Johannesevangelium.
Hier kehren die drei aus dem vorigen Kapitel bekannten
Überfchriften wieder: Die Liebe Jefu, die Erweckung der
I Liebe, das Liebesgebot. Eine ,Zufammenftellung beider
Berichte' am Schluffe ftellt 13 Punkte der Übereinftimmung
neben 4 Differenzpünkte. Bei den Synoptikern konkrete
Anwendung des Liebesgebotes auf beftimmte Lagen und
Bedürfniffe; bei Johannes Übergehung aller Einzelheiten
zugunften eines einheitlichen Motivs und Zwecks.

Fünftes Kapitel: Die Liebe in der erften Gemeinde.
Zum felbftverftändlichen Inhalt gehört wenigftens die Erörterung
über die urapoftolifche ,Gutergemeinfchaft', die
als Speifegemeinfchaft und Gemeindewohltätigkeit gefaßt
wird. Dazu eine Statiftik über die Verbreitung des
Worts dyäjirj in der neuteft. Literatur, die Verficherung,
daß an die Stelle der fynagogalen Kafuiftik die nicht
bloß gebotene, fondern ,zum eigenen Willen der Gemeinde
gewordene' Liebe getreten fei, weshalb eigene Worte
Jefu in der Briefliteratur kaum mehr vorkommen, aber
auch das Bibelftudium, auf welches in der Synagoge fo