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Ausgabe:

1905 Nr. 8

Spalte:

237-239

Autor/Hrsg.:

Steck, Rudolf (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Die Akten des Jetzerprozesses 1905

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 8.

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Die Akten des Jetzerprozesses nebft dem Defenforium. ! hervor. Wie leicht nehmen es die verfchiedenen Richter
Herausgegeben von Rudolf Steck. (Quellen zur 1 mit der Feftftellung von Ort, Zeit und näheren Um-

Schweizer Gefchichte. Herausgegeben von der allgemeinen
gefchichtsforfchenden Gefellfchaft der Schweiz.
22. Band.) Bafel, Bafler Buch- u. Antiquariatshandlung
vormals A. Geering 1904. (XL, 679 S.) gr. 8°

M. 14 —

Bei der Befprechung von Stecks Arbeit ,Der Berner
Jetzerprozeß (1507—1509)* hat Ref. ThLZ 1902 auf die
Notwendigkeit eines Abdrucks der Akten des Jetzer-
prozeffes hingewiefen, wie das auch von andern Rezen-
fenten betont wurde. Nunmehr hat R. Steck fich diefer
mühfamen Aufgabe unterzogen. Nicht weniger als 556
Seiten umfaßt der jetzt vorliegende Text, von denen
Wortlaut G. Rettig im Archiv des hift. Vereins des
Kantons Bern 1883—86 nur den zehnten Teil, S. 1—54
des jetzigen Drucks, veröffentlicht hatte. Leider ließ fich
das Original der Akten, das nach Beendigung des Pro-
zeffes nach Rom gewandert war, nicht mehr auffinden;
aber die auf Kotten des Rates zu Bern wahrfcheinlich
in St. Gallen gefertigte Abfchrift ermöglicht doch ein
volles Verftändnis der Prozeßverhandlungen. Sie bietet
freilich keinen durchaus korrekten Text, denn fie gibt

ftänden der einzelnen Erfcheinungen. Allzu oberflächlich
ift die Nachfrage nach Jetzers Vorleben. Weder aus
Zurzach noch aus Luzern werden Zeugen beigezogen.
Geradezu empörend ift die Befeitigung des Verteidigers,
des klugen Schwaben Joh. Heinzmann, mit feinen fehr
wichtigen Einwürfen, und die Art, wie der Provinzial
Siber als Richter im zweiten Prozeß zu Bern kaltgeftellt
wurde, während im dritten entfcheidenden Prozeß kein
Ordensmann unter den Richtern war. Auch für den
Nichtjuriften treten die dunkeln Schatten des Inquifitions-
verfahrens mit der Tortur fcharf in die Augen, doch wird
es nötig fein, daß ein Jurift den ganzen Prozeß nach
allen Seiten unterfucht. Aber auch die Theologie, welche
fich in den Erfcheinungen kundgibt, muß unterfucht
werden, um feftzuftellen, wie weit der durchaus ungebildete
Schneidergefelle fähig war, die in den angeblichen
Äußerungen der Maria etc. kundgegebenen theologifchen
Anfchauungen von fich aus vorzutragen. Man wird die
Elemente ausfcheiden müffen, welche Jetzers Eigentum
fein konnten, und folche, die nur von einem gelehrten
Theologen flammen und auch nicht in den kurzen Monaten
feines Aufenthalts im Klofter derart eingeimpft
werden konnten, daß er fie fo gewandt vorbringen konnte.

z. B. die wichtige Ausfage von Val. Anfhelm in ver- ; wje dies Heinrich Kaiburg und Maria bei ihren Erfchei-
wirrter Reihenfolge wieder, hat aber fprachhehe lnkor- nungen tun Man wird auch nachforfchen müffen, wo
rektheiten, der Vorlage treu, pünktlich beibehalten Steck I der Name Kalpurg in der Schweiz oder Süddeutfchland
hat den Text mit großer Pietät behandelt und feine heimifch ift und ob ihn Jetzer nicht irgendwo gehört
Verbefferungen nicht im Text felbft, fondern in den hatte Denn daß er eine freie Erdichtung ift, fleht m. E.
Anmerkungen gegeben. Entgangen ift ihm daß die feft_ Ift Jetzer mit Solothurner Namen bekannt gewefen,
mittelalterliche Form von z häufig dem h gleicht und findet er fich dort um dje kntifche Zeit, dann kommt die
deshalb oft mit diefem verwechfelt wird. Es ift daher j Spukgeftalt ficher auf Jetzers Rechnung. Andernfalls
S. 1 Z. 13fr. ftatt Yecher Yeczer S. 116 Z. 24 ftatt | könnte die Heimat des Namens auf den geiftigen Ur-
ralebachios ralebaczios. S.255 Z. I ftatt Atthica Attzica, ; heber der Suggeftion führen. Findet er fich z. B. um
S. 304 Z. 16 ftatt Buha.m Buzaim (Bötzen), S. 643 Z. 30 Offenburg, dann hat ihn der Lefemeifter Bolzhurft er-
ftatt ich icz zu lefen. S. 49 Z. 27 1. propnus. I funderi- Zwei Ergebniffe aber dürften feftftehen. Den

Den Prozeßakten hat Steck zunächft das Defensorium, Anfang des Betrugs hat Jetzer gemacht, der es mit der
das fehr feiten geworden ift, beigegeben. Wir erhalten in Wahrheit und mit Mein und Dein nicht genau nahm
den erften drei Teilen eine naive, aber aufrichtige Dar- ' (vgk das Teftament und das geftohlene Silber) und eine
Heilung der Vorgänge im Domimkanerklofter, wie fie ! Rolle fpielen wollte, dabei mit feinen Starrkrämpfen
zuerft der Berner Prior Joh. Vatter bis zum 11. April } geiftig belaftet und fehr wenig gebildet war. Die Vifion

1507 gab, dann der Bafler Prior Wernher bis 25. Febr. jn der er Jefum im weißen Kleid fah, ift ganz feine Dich-

1508 fortfetzte. Sie war ganz die Auffaffung der Dinge j tung. Denn keiner der vier verdächtigen Brüder war
durch die Obern des Klofters. Der vierte Teil aber ift unwiffend genug, um dem Schneider den Gedanken ein-

das Werk eines heftigen Gegners der Dominikaner
welcher die Verteidigungsfchrift der Väter bald nach
ihrer Verbrennung am 31. Mai 1509 als fchlagenden Be

zugeben, Pilatus habe das weiße Kleid, das Herodes Jefu
anlegen ließ, in drei Teile teilen und an drei Orten
öffentlich ausftellen laffen, Jefus aber habe es gen Himmel

weis ihrer Heuchelei und Verftellungskunft im Druck genommen und trage es dort. Ebenfo naiv find die Ge
herausgab. bete der Maria, die fich ganz im Gefichtskreis des un-
Endlich aber veröffentlicht Steck die einfchlagen- gebildeten Kindes des Volks bewegen. Aber andererden
Akten des Berner Staatsarchivs famt der Berech- Urfts läßt fich der Eindruck, den auch die Berner hatten,
nung der Kotten, welche für Bern auf 8000 Fl. an- fchlechterdings nicht abweifen: Jetzer muß Genoffen ge-
wuchfen. Allen drei Teilen hat Steck wertvolle fach- habt haben. Denn es ift ganz unmöglich, daß er hätte
dienliche Erläuterungen beigegeben, z. B. zur Rechts- alles allein bewerkftelligen können. Gehilfen aber konnte
gefchichte S. 221, zur Biographie und zur Geographie, er kaum außerhalb des Klofters haben. Nirgends im
Hier fei noch bemerkt: Hoftienfis S. 220, Anm. 5 ift Prozeß tritt ein Verkehr mit Leuten aus der Stadt zuHeinrich
von Segufia. Biminiis (1. Bimmiis) ift wirklich ; tage außer bei der Herftellung der Ringe. Es gehörte

Wimmis (vgl. den bekannten Wechfel von W u. B z. B,
Waldhaufer im bairifchen und öfterreichifchen Dialekt =
Balthafar). Dankenswert ift die chronologifche Überficht
und das Regifter, aber vor allem die Einleitung, welche
die Bedeutung des Jetzerhandels, die Literatur mit dem
hervorragenden Anteil Thom. Murners, dann den Streit
über die unbefleckte Empfängnis der Maria, den Prozeß
und das Urteil behandelt und über die Befchaffenheit
der Akten und ihre Herausgabe berichtet.

auch eine völlige Vertrautheit mit allen Örtlichkeiten im
Klofter zur Ausführung der verfchiedenen Vorfpiege-
lungen. Eine folche ließ fich aber nur innerhalb des
Klofters erwerben. Sehr fchwer fällt m. E. der Befitz
von Arfenik im Klofter (S. 505 fr.) und der Tod der
jungen Wölfe nach dem Genuß der Jetzer vorgefetzten,
aber diefem verdächtigen Speife. Noch auffallender ift
der völlige geiftige und moralifche Zufammenbruch der
vier Väter, die nur einmal nach der Folter noch den

Zum Verftändnis des Prozeffes ift nunmehr durch j Verfuch machen, ihre Unfchuld zu bezeugen und ihre
Steck vieles geleiftet, aber die Publikation hat die Ent- erzwungenen Ausfagen zu widerrufen, dann aber ver-
fcheidung der Frage nach der Unfchuld der vier Domini- 1 zagen und fchweigen. Das ift ein pfychologifches Rätfei,
kaner, die am 31. Mai 1509 den Scheiterhaufen beftiegen, welches fich nicht mit dem niederfchmetternden Ein-
nicht fo fehr erleichtert, als man hoffen konnte. Die druck des Aufgegebenfeins vom Papft und der Kirche
Mängel des Gerichtsverfahrens treten doch allzu fchreiend und der Furcht vor dem Unwillen des erregten Volkes