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Ausgabe: | 1904 Nr. 19 |
Spalte: | 548 |
Titel/Untertitel: | Das Suchen der Zeit. Blätter deutscher Zukunft , hrsg. von Friedr. Daab 1904 |
Rezensent: | Drews, Paul |
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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 19.
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Kirchenlehre hervortretende Entartung der Lehre Chrifti
nach. Die Mittel, die ihm bei feiner Analyfe zu Gebote
flehen, und die er bald abwechfelnd, bald vereint zur Anwendung
bringt, lind fcharffinnig geübte Verltandeskritik
und höchft fubjektiv gehandhabte Exegefe. Mit diefen
Waffen bekämpft er die Lüge und den Betrug, durch
welchen die göttliche Wahrheit in ihr Gegenteil verkehrt
wurde. ,Es war Selblttäufchung, wenn ich geglaubt hatte,
bei der Kirche eine Antwort und eine Löfung meiner
Zweifel zu finden. Ich glaubte zu Gott zu kommen und
war in einen fchmutzigen Sumpf geraten, der in mir nur
die Gefühle weckte, die ich am meiften fürchte: Abfcheu,
Wut und Empörung' (140). In dem Affekt, mit welchem
T. fich gegen den ftarren Dogmatismus der die Geifter
knechtenden Kirche auflehnt, regt fich zugleich der Zorn
und der Schmerz eines edlen Geiftes, der nicht nur felber
irregeführt wurde, fondern es mit anfehen muß, daß feine
Brüder um die reine Wahrheit betrogen werden (111. 117.
138. 139 und öfters). Diefer aus fubjektiv durchaus achtenswerten
Motiven flammende Radikalismus paart fich bei dem
Verf. mit einer in allen feinen Schriften waltenden Schwarm-
geifterei, die auf dogmatifchem Gebiete fich namentlich
in dem völligen Mangel an gefchichtlichem Sinne kundgibt
. Bei dem rein formalen Verftandesrigorismus, der
feine Kritik beherrfcht, wie auch bei feiner ftets wiederkehrenden
Forderung einer Erneuerung der reinen Lehre
Chrifti, ifoliert er nicht nur den Einzelnen von allen ge-
fchichtlichen Zufammenhängen, in welchen er lebt; er
ignoriert auch die Entwicklung der durch die Jahrhunderte
fortwirkenden Mächte, die in dem kirchlichen Dogma
ihren Niederfchlag gefunden haben. Daher auch die
koloffale Einfeitigkeit und Ungerechtigkeit feiner Kritik,
wie fie befonders in feinen Urteilen über die Grundlehre
der orthodoxen Kirche laut wird, das Dogma von
der Dreieinigkeit. T. wird nicht müde, die Abfurdität
einer fo bodenlofen Behauptung darzutun, nach welcher
Eins Zwei oder Drei Eins fein foll, und nur die Tiefe
feiner religiöfen Empfindung oder feines fittlichen Ernftes
kann den Lefer über die an den Vulgärrationalismus erinnernde
Armut einer folchen Argumentation hinwegtäufchen.
,Gott, der Du mir unerkennbar bift, aber doch exiftierft,
Du, durch deffen Willen ich lebe! Du haft mir ja diefes
Streben, Dich und mich felbft zu erkennen, eingepflanzt.
Ich habe geirrt, ich habe die Wahrheit nicht dort gefucht,
wo fie zu fuchen war. Ich habe gewußt, daß ich irre gegangen
bin. Ich habe meinen fchlechten Leidenfchaften
Vorfchub geleinet und gewußt, daß fie fchlecht waren,
aber ich habe Dich nie vergeffen. Ich habe Dich immer
gefühlt, auch in den Momenten meiner Irrungen. Ich
wäre beinahe zu Grunde gegangen, weil ich Dich verloren
hatte, aber Du reichten; mir die Hand, ich ergriff fie, und
das Leben wurde mir plötzlich hell und klar, Du retteteft
mich, und ich fuche jetzt nur eins: mir Dich zu nähern,
Dich zu verliehen, foweit es mir möglich ift. Ich weiß,
daß ich gut bin, daß ich alle liebe, alle lieben will, die
Wahrheit lieben will. O Du, Gott der Liebe und der
Wahrheit, ziehe mich noch mehr zu Dir heran, offenbare
mir alles, was ich von Dir und mir felbft verliehen kann.
— Und der gütige Gott, der Gott der Wahrheit, antwortet
mir durch den Mund der Kirche: „Die Gottheit
ift Einheit und Dreiheit", O welch herrliche Verwandlung
!'
Dem folgenden noch nicht erfchienenen Bande ift
der zweite Teil vorbehalten, Von Gott dem Erlöfer
und von feinem befonderen Verhältnis zum Ge-
fchlechte der Menfchen; Ssoloyla olxovo(iixr) —
Die Lehre vom göttlichen Haushalt. Bei der
energifchen Forderung T.s, zum Problem der Chriftologie
vor allem klare Stellung zu nehmen, fleht zu erwarten,
daß diefer Teil der ,Dogmatifchen Theologie' ein be-
fonderes Intereffe bieten wird.
Das Suchen der Zeit. Blätter deutfcher Zukunft, herausgegeben
von Friedr. Daab und Hans Wegener.
1. Bd. Düffeldorf und Leipzig, Langewiefche, 1903.
(II, 215 S. 8.) M. 2.40
Wenn ich recht fehe, fo ift der Zweck diefer Sammlung
von einzelnen Auffätzen ein doppelter: fie will dem
religiöfen Suchen der Zeit Ausdruck verleihen und fie
will diefem Suchen zum Finden verhelfen. Gewiß eine
fehr wichtige Aufgabe! Aber ich zweifle, ob der vorliegende
Band wirklich leiftet, was er will und foll. Die Beiträge
find von ganz verfchiedenem Werte. Bonus, der die
Sammlung mit einem kurzen Auffatz: ,Unfere Hoffnung'
eröffnet, hatte eine feiner ungünftigften Stunden, als er
zur Feder griff. Wenn er je überftiegene Gedanken zu
Papier gebracht hat, fo hier. Zum Beweis deffen hebe
ich nur einen Satz heraus: ,Ich glaube, daß wir an einer
Stelle der Jahrmillionen (1) angelangt find, wo, was bisher
Zukunft hieß, uns nicht mehr Zukunft heißen kann, was
bisher Religion hieß, uns Aberglaube und Mißglaube
wird(!), wo von der Vergangenheit kein Stein mehr auf
dem andern halten wird(!), wo wieder jene ruchlofe
Naivität(!) und Einfältigkeit (!) hervorbrechen wird, dieeinft
Gefetz und Tempel zufammenwarf' (S. 3). Den Abfchluß
macht Fräulein Gertrud Prellwitz mit einem Auffatz:
,Erfüllung' — ein üppiger Strauß blühender Phrafen.
Hans Wegener fordert mit feinem Auffatz: ,Väter und
Söhne' zu ftarkem Widerfpruch heraus. Den fehr richtigen
und tief einfchneidenden Gedanken, daß die Väter
fich fchwer, fehr fchwer in die neue Art der Söhne
finden, übertreibt er fo, daß das Recht allein auf
Seiten der Söhne, das Unrecht allein auf Seiten der
Väter zu flehen kommt. Und wenn er als Verlangen
des gegenwärtigen Gefchlechts angibt: ,Wir wollen Gott
nahe kommen, wir wollen die Natur, die Menfchen,
Chriftus kennen lernen', fo frage ich dagegen: Haben
das die ,Väter' nicht auch gewollt? Lhotzky überträgt,
in feiner bekannten Weife, die Gefchichte von Kain und
Abel ins Moderne unter der Überfchrift: ,Übermenfch
und Herdenmenfch'. Friedrich Daab verfucht als treibendes
Moment aller Natur- und Gefchichtsentwicklung
die Sehnfucht nach Perfönlichkeit zu erweifen, während
Weinel, etwas gezwungen, die Eidwicklung des Chriften-
tums unter dem Gefichtspunkt des eindringenden und
wieder auszufcheidenden Polytheismus darfteilt. Gunkel
gibt in einem fehr belehrenden Auffatz über die geheimen
Erfahrungen der Propheten Ifraels einen kurzen
Überblick über die Entwicklung der altteltamentlichen
Prophetie — vielleicht der bette Beitrag des Ganzen.
Niebergall und Meyer-Zwickau führen uns wieder in die
Gegenwart: jener fchildert ,das religiöfe Denken der
Gegenwart', diefer ,die ultramontane Gefahr als ein
Hemmnis deutfcher Zukunft', beide in fehr anfprechender
und lebendiger Weife.
Es ift mir zweifelhaft, ob mit folchen im Feuilleton-
ftil gehaltenen, oft recht leicht gefchürzten Apergus dem
fuchenden Laien wirklich ein Dienft getan ift. Er verlangt
nach härterer Speife, er verlangt Belehrung und
Einführung ins Tatfächliche, nicht geiftreiche Spielereien,
die oft hart an die Phrafe grenzen oder es find. Darum
fcheint mir Gunkels Beitrag auch dem Zwecke am beften
zu entfprechen. Auch werden fich die Ernften unter den
Suchenden in diefem ,Suchen der Zeit' nur zum Teil
wiedererkennen.
Gießen. Drews.
Straßburg i. E.
P. Lobftein.