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Ausgabe:

1904 Nr. 13

Spalte:

390-393

Autor/Hrsg.:

Girgensohn, Karl

Titel/Untertitel:

Die Religion, ihre psychischen Formen und ihre Zentralidee 1904

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 13.

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erfchloffen, aber nur fehr wenige wirklich neue Probleme
aufgeworfen (S. 20f.). Ich will gar nicht davon reden, daß
Heuffi felbft ein paar Zeilen weiter oben (S. 20) zugeben
muß, daß M.s Unterfuchungen über die Gnoßiker und die
Manichäer als für feine Zeit (diefe Einfchränkung ift für
den Verf. charakteriftifch; wie denkt er fich eigentlich den
Gegenfatz? etwa: in alle Ewigkeit?) epochemachend
bezeichnet werden müffen. Ich frage nur: ift denn nicht
M.s an faß: allen Punkten, die damals überhaupt zur
Debatte geftellt werden konnten, eingreifende, zum Teil
fcharf eingreifende kritifche Betrachtung in fich felbft
epochemachend? Wer hat fie denn vorher geübt? Bezeichnet
denn der die Epoche, der an irgend einem einzelnen
Punkte einen guten kritifchen Gedanken äußert?
Oder alle die Namenlofen, die an hundert einzelnen
Punkten hundert gute kritifche Gedanken äußern? Bezeichnet
nicht der fie, in deffen umfaffendem Geiß diefe
disjectamembra der Betrachtung fich zufammenordnen, und j
der fie mit mächtiger, auf das Ganze gehender Anregung
künftigen Gefchlechtern zu fruchtbarer Arbeit weitergibt?
Mosheim foll in feiner kritifchen Methode .nichts Originelles
' haben. Aber feit wann iß denn die Originalität
vom Himmel gefallen? Mosheim gehört freilich nicht zu
den ,Originalen', die Goethe fprechen läßt: ,Ich bin von
keiner Schule; kein Meißer lebt, mit dem ich buhle; auch
bin ich weit davon entfernt, daß ich von Toten was gelernt
'. Iß er deshalb weniger originell? Nein, denn original
fein heißt — fo fagt derfelbe Goethe mit demfelben Recht
—, in feinen individuellen Zußänden das Rechte finden.

Noch ßärker tritt die Unzulänglichkeit der Beurteilung
im zweiten, von der ,Darßellung der Kirchengefchichte' bei
Mosheim handelnden Abfchnitt hervor. Hier wird die
Kleinlichkeit des Maßflabes und die Pedanterie feiner Anwendung
geradezu aufdringlich. Zunächß iß es fchon
falfch, zum leitenden Prinzip der Beurteilung die Tatfache
zu nehmen, daß Mosheim in der Zeit vor der Entßehung
der hißorifchen Ideenlehre gefchrieben hat. An dem durch
diefe Lehre angeblich erreichten Höhepunkt der Betrachtung
wird M.s Darßellung abgefchätzt. Zugegeben, daß
die Betrachtungsweife der hißorifchen Ideenlehre einen
Fortfehritt bedeutet, fie iß auf alle Fälle nur ein metho-
dologifches Prinzip, und als folches kann fie nie die
Errungenfchaft eines einzelnen Geißes fein. Heuffi aber
macht es Mosheim faß zum Vorwurf, daß er diefe Ideenlehre
nicht erfunden hat, und fieht ein Zeichen der Minderwertigkeit
feiner Darßellung darin, daß er von ihr noch
keinen Gebrauch macht. Schulmeißerlich iß auch feine
Kritik der pragmatifchen Methode Mosheims. Er zeigt —
was leieht zu machen war — die Schranken kaufaler Verknüpfung
in M.s Darßellung, um dann zu fchließen (S. 43):
,Man muß aber anerkennen, daß er innerhalb diefer
Schranken zum Teil recht Bemerkenswertes geleißet hat'.
Alfo Zenfur etwa im ganzen gut, einiges gut: 3—2, bei
milder Auslegung 2—3. Dann bringt er Beifpiele und
meint von einem befonders intereffanten: ,Man wird diefe
Erklärung immerhin (!) als ganz originell bezeichnen
können'. Wie freundlich! Alfo vielleicht doch 2? Diefes
/Immerhin' verwertet der Verf. mit Vorliebe. Es kommt
in ähnlichem Zufammenhang noch wenigßens dreimal vor.
So wird (S. 53) behauptet, daß fich, nachdem die bis
dahin übliche Beurteilung der Ketzer und der kirchlichen
Orthodoxie in fo kraffer Weife von Arnold auf den Kopf
geßellt war, der methodifche Fehler der bisherigen Ver-
mifchung von Gefchichte mit Apologetik und Polemik
herausßellen mußte. ,Das war ein Refultat, das fich aus
dem Streit um die Arnoldfche Kirchengefchichte von
felbß (!?) ergab. Immerhin (!!) iß es Mosheims Verdienß,
daß er dies Refultat aufgegriffen und die Forderung der
Trennung der Kirchengefchichte von der Apologetik und
Polemik energifch verfochten hat'. Oder an anderem Stelle
(S. 60): Mosheim meint, die Myßik fei überall diefelbe,
bei Griechen, Lateinern und Muhammedanern. Nach
Heuffi will er vermutlich damit lediglich die Minderwertigkeit
der Myßik dartun. ,Immerhin (!) iß es ganz
intereffant, daß er diefe ganz richtige Bemerkung macht'.
Merkt denn Heuffi nicht, wie billig diefes ,Immerhin' iß?
Wenn er es nicht merkt, fo wird es keinenfalls fchaden,
daß man ihn nachdrücklich darauf hinweifl. Damit aber
kommen wir zu dem oben zitierten Schlußfatz der ganzen
Abhandlung zurück. ,Immerhin', heißt es dort, iß M. der
erfle Repräfentant der Kirchengefchichtsfchreibung des
Aufklärungszeitalters und ohne Frage einer der hervor-
ragendßen, wenn nicht der hervorragendße'. Zunächß,
was foll die letzte Einfchränkung? Oder vermag Heuffi
einen hervorragenderen ,Repräfentanten' zu nennen? Wenn
nicht, fo iß die Einfchränkung eine Redensart, wie die
vom ,Repräfentanten' eine iß. Man braucht durchaus
nicht den Vorwurf zu fürchten, daß man die der indivi-
dualißifchen Zeit eigentümliche Überfchätzung der Bedeutung
der Individuen teile, wenn man gegenüber der
noch falfcheren Überfchätzung des Milieus auch den Individuen
zu ihrem Recht verhält und fomit behauptet:
bis der Beweis vom Gegenteil beffer erbracht iß, als in
der vorliegenden Abhandlung, bleibt Mosheim der ,Vater
der neueren Kirchengefchichtsfchreibung'.

Gießen. G. Krüger.

Girgensohn, Karl, Die Religion, ihre pfychifchen Formen
und ihre Zentralidee. Ein Beitrag zur Löfung der
Frage nach dem Wefen der Religion. Leipzig 1903,
A. Deichert, Nachf. (VII, 218 S. gr. 8.) M. 4.—

Für eine Erßlingsarbeit iß die vorliegende Schrift
eine recht achtungswerte Leißung. Der Verf., ein Schüler
von R. Seeberg, behandelt das fchwierige Thema, an
das er fich gleich herangewagt hat, mit im ganzen ausreichender
Sachkunde und Literaturkenntnis, fcharfer
Auffaffung und unbefangenem Urteil gewandt und ficher.
Auch von folchen, von deren theologifchem Standpunkt
der feinige abweicht, hat er fich redlich und nicht ohne
Erfolg bemüht zu lernen. An eigentlicher Polemik fehlt
es in diefem Buche. Denn die Auseinanderfetzung auch
mit den Vertretern anderer Anflehten iß durchaus ruhig
und lediglich fachlich. Das wiffenfehaftliche Erkenntnis-
intereffe des Verf. beherrfcht feine gefamten Ausführungen
, ohne daß deren rein theoretifcher Charakter
durch ein vordringliches Geltendmachen perfönlicher
Glaubensüberzeugungen durchkreuzt würde.

In einigen wichtigen Fragen darf ich mich der Über-
einßimmung von Darlegungen des Verf. mit Anflehten
erfreuen, die ich unlängß in meiner Abhandlung über
Theologifche Wiffenfchaft und religiöfe Spekulation (Zeit-
fchrift für Theologie und Kirche, 1902, S. 202ff.; 255ff.)
vertreten habe. Doch hat der Verf., deffen Vorwort
bereits vom Auguß 1902 datiert iß, diefe Arbeit damals
kaum fchon kennen und jedenfalls in feinem Buche nicht
mehr berückfichtigen können. Aber auch er operiert in
weitem Umfange mit pfychologifchen Erkenntnismitteln,
unterfcheidet ebenfo wie ich mit der neueren Pfycho-
logie grundfätzlich zwifchen den Formen und den Inhalten
des menfehlichen Geißeslebens, nimmt ebenfalls
Vorßellen, Fühlen und Wollen als die untereinander
gleich wichtigen feelifchen Funktionen in Anfpruch, in
denen die empirifche Religion fich in ihrer Eigenart
zum bewußten Ausdruck bringt, und erkennt auch in
dem Gottesgedanken das charakterißifche Merkmal der
Religion überhaupt. Wir find ferner darüber einig, daß
die ,Religion im eigentlichen Sinne des Wortes ein Zu-
ßand des menfehlichen Subjekts iß', und daß ihr Inhalt,
wenn auch auf der Grundlage ererbter Dispofitionen, im
Laufe der Lebenserfahrungen erworben wird und in
j keinem Sinne angeboren iß.

Trotz_diefer gewiß nicht geringen Übereinßimmungen
j kann ich jedoch manche Anflehten und Gedankengänge
I des Verf. nicht als richtig anerkennen. Neben der von